1909-05-12-DE-003
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Quelle: DE/Halbmond im letzten Viertel. Briefe und Reiseberichte aus der alten Türkei von Theodor und Marie Wiegand 1895 bis 1918. Hg. und erläutert von G. Wiegand, München 1970, S. 124 ff. Veröffentlicht in Jörg Berlin, Adrian Klenner, Völkermord oder Umsiedlung, Köln 2006, Dokument 34./
Erste Internetveröffentlichung: 2009 April
Edition: Adana 1909
Letzte Änderung: 03/23/2012


Marie Wiegand an ihren Mann Theodor Wiegand

Brief



Arnautköi [Vorort von Konstantinopel], 12.5.1909

Eben war Winkler [der für den Streckenabschnitt Adana zuständige Bagdadbahn-Ingenieur J.L.Winkler] hier und hat mir viel von seinen Erlebnissen erzählt. Ich gebe es der Reihe nach wieder, soweit ich es behalten habe.

Beide Winklers [die Eheleute] waren in Eregli und wollten über den Taurus zurück, als die ersten Gerüchte über Unruhen in Adana kamen und sie deswegen ihre Abreise um einen halben Tag verschoben und dann schließlich doch fuhren, einmal weil das Gepäck schon vorausgegangen war, zum anderen weil ebenfalls einige Tage früher Ingenieure zum Studium der neuen Strecke über Alexandrette (Iskenderun) - Mersina (Mersin) abgegangen waren und von ihnen keine Nachrichten gekommen waren. Unterwegs begegneten ihnen Karawanen, einzelne Reisende und ganze Trupps, die von der Richtung Adana kamen, aber nur erzählten von einem Überfall einer Räuberbande unterwegs. Winkler schrieb dem keine weitere Bedeutung zu und fuhr weiter. Am Abend des ersten Tages trafen sie ihre Gepäckfuhre, die heimkehrte. Sie waren unterwegs auch angefallen worden, kurz vor einem Han (Rasthaus), hatten die Räuber zurückgeschlagen, waren dann, trotzdem es erst Nachmittag war, in dem Han geblieben, ohne die Fuhren abzuladen oder die Pferde auszuspannen. Mit Einbruch der Dunkelheit kamen 15 Kerle in den Han und stahlen frech, was sich bot. Der Handji wehrte sich, wurde mit Knüppeln einfach niedergeschlagen, der Gehilfe flüchtete durch ein Fenster mit Hilfe eines kurdischen Kutschers von Winkler, der sich dann aber aus Vorsicht stellte, als habe er im Gegenteil den Mann halten wollen, und die Kerle aus dem Han hinaus auf eine falsche Fährte lockte. Was aus dem Mann geworden ist, wissen sie nicht, sie sind sofort im Galopp davongefahren, den Taurus wieder hinauf, haben unterwegs an einer Wasserstelle nachts geschlafen und kamen vollkommen ermattet mit abgetriebenen Pferden wieder zurück. Winkler ließ sich trotzdem nicht halten und fuhr weiter. Immer mehr Menschen begegneten ihnen unterwegs. Jeder rät ab vom Weiterreisen: Adana brennt, die Hans sind geplündert, die Leute sind erschlagen, keiner kommt mehr durch, und schließlich, auf einer sehr engen Stelle, stauen sich die Karawanen mit Flüchtigen, sodaß sie nicht mehr durchkommen. Ihnen entgegen kommt ein Trupp von etwa 50 bewaffneten Türken auf Pferden und Eseln, Wagen mit Hausrat. Als Winkler immer noch nicht nachläßt, nimmt ihn ein alter Türke mit Tränen in den Augen beiseite: „Ich lasse Dich nicht durch, es ist Dein sicherer Tod, und dann bedenke, was mit Deiner Frau geschieht.“ Da gab Winkler den Widerstand auf, die Türken hatten schon vorher einfach seinen Wagen umgedreht, und so ging es zurück nach Eregli.

Dort waren inzwischen Telegramme aus Bagtsche angekommen. Morgens: „Sind in großer Gefahr, bitten um Hilfe!“, nach ein paar Stunden immer dringender und dann wieder eins und dann hörte jede Nachricht auf. Sie telegraphierten nach Adana an den Wali, der erklärte, er könne nicht helfen, an den Kaimakam in Bagtsche, ohne Antwort, nach Stambul, an die Konsuln in Mersina und Alexandrette und Adana, sie sollten alles zur Rettung aufbieten, aber keiner konnte etwas tun.

In Bagtsche (heute: Bahce) war es so gegangen: Ohne daß vorher irgendwelche Anzeichen von Unruhen gewesen, erschienen eines Morgens Haufen bewaffneter Bauern auf den Bergen, die den Talkessel umgeben. Gegen Mittag stiegen die Leute herunter und versammelten sich vor dem Haus des Kaimakams. Der wußte von nichts, woher? warum? „Wir wollen uns in den Dienst des Vaterlandes stellen.“ Der Mann dachte an Bulgarien und erklärte ihnen, es sei alles in Ordnung, sie möchten ruhig wieder in ihre Dörfer gehen. Einige der Ingenieure, die die Bauern sahen, erzählten, daß alle gut bewaffnet gewesen seien, mit Flinten aller Art, mit Revolvern und Messern und vor allem mit den langen Hirtenstäben, die oben mit schweren Nägeln beschlagen waren. Die Horde zog ab, verschwand hinter dem Berg und es war Ruhe. Gegen Abend ritt einer der Ingenieure aus und bemerkte, daß die Leute nicht in ihre Dörfer gegangen waren, sondern jenseits der Hügel alle lagerten. Er meldete das dem Kaimakam, der inzwischen wohl Nachrichten aus Adana erhalten hatte, die er aber wohl nicht sagen mochte, und der ihnen nur riet, zur Beruhigung der zwei einzelnen Mädchen (Schwestern der Frau Winkler) und des Winklerschen Kindes über Nacht im Winklerschen Haus zu bleiben. So wachten in der Nacht die acht Ingenieure zusammen mit den zwei Schwestern von Frau Winkler. Als bis morgens alles ruhig blieb, gingen die Herren früh in ihre Häuser zurück, um zu schlafen, in kleinen Abteilen von zwei und drei auf einmal. Da waren die beiden Vordersten bis an den enggebauten Teil der Stadt an dem Tscharschi(fluß) gekommen, als ihnen eine Horde bewaffneter Kerle entgegenstürzt mit geschwungenen Beilen und Knüppeln, und ehe die Herren noch recht begriffen haben, was es bedeutet, schreit einer aus dem Haufen: „Das sind die Falschen, das sind Fremde.“ Die Knüttel fallen wieder herunter und die Herren laufen in das Winklersche Haus zurück, die Hinteren auf dem selben Weg, die zwei Vorderen, die durch die Bauern abgeschnitten waren, auf Umwegen. Als die zwei letzten an das verschlossene Haustor kamen, stand schon ein Trupp von etwa 50 Armeniern davor, die sich hineinflüchten wollten. Die stürzten alle mit ins Haus und zugleich hörten sie schon von allen Seiten Schüsse und Geschrei. Ihr Haus stand 150 Meter vom Haus des Kaimakams entfernt und ca. 50 Meter von dem Haus ihres Hauswirtes, auch eines Armeniers. Dorthin hatten sich auch einige dreißig geflüchtet, Männer, Frauen und Kinder, und dieses Haus wurde zunächst beschossen. Die Kugeln flogen von Angreifern zu Verteidigern, ein gutes Teil aber in das Winklersche Haus. Und als die verteidigenden Armenier erst einige Türken verwundet hatten, wurden die wütend und legten an die Holzveranda Feuer. Das Haus brannte bald an allen vier Ecken, die Türken gingen näher heran, was flüchten wollte, wurde erschossen, und als dann das leichte Obergebäude zusammenstürzte, zogen sie noch ein paar aus den brennenden Trümmern, schlugen ihnen mit Steinen die Kniegelenke und Ellenbogen durch und dann langsam immer mit Steinen ein Gelenk nach dem anderen und ließen sie so liegen. Etwa zwölf Verwundete, u. a. der Hauswirt selbst, konnten aber flüchten und krochen über die Mauer und durchs Tor in das Winklersche Haus. Einige, die es nicht mehr erreichten, wurden vor der Haustür noch erschlagen und liegen gelassen. Und dann hörten die Eingeschlossenen nur mehr das Geschrei der Leute, Schüsse und das Krachen der zusammenfallenden Häuser.

Überall wurde geraubt und geplündert, alle Männer auf die barbarischste Weise langsam erschlagen oder auch mit den zerschmetterten Knochen einfach liegen gelassen. So sind in Bagtsche allein 262 Männer und ca. 50 Frauen und Kinder - denn die ließen sie im allgemeinen gehn, und nur was verbrannte oder sich direkt zur Wehr setzte, kam auch um.

Im oberen Dorf im Armenierviertel wohnte der Arzt der Bagdadbahn mit Frau und Kind. Zu dem hatten sich zwölf Männer geflüchtet. Die holten die Kerle aus dem Haus heraus, schlugen sie tot und legten sie vor die Tür des Mannes auf die Holzveranda, die zur Treppe führte. Der Arzt selbst flüchtete und kam auch in das Winklersche Haus. Das war der erste Tag. In der Nacht war Ruhe, die Kerle schliefen sich aus.

Im Winklerschen Haus war die Zahl der Flüchtlinge auf 120 angewachsen. Am nächsten Tag ging es weiter, am dritten Tag, als in dem ganzen Ort kein Haus mehr übrig war, erklärten sie: „So, nun gehts an die Giaurs.“ Da kamen 50 Redifs (Miliz), die zur Hilfe geschickt worden waren, und berichteten, im Nachbardorf, das hauptsächlich aus Armeniern bestand, Hassam Bely, hätten die Männer sich vor dem Ort in einem alten Kastell verschanzt, und die wollten sie zunächst einmal ausräuchern. So zog alles dorthin. Der Kaimakam, den die Deutschen um Hilfe gebeten hatten, erklärte sich für vollkommen machtlos, schickte ihnen zwei Gendarmen, die sich fürchteten und sich lediglich bei ihnen verstecken wollten, und seine Familie, die sie auch schützen sollten. Der einzige Trost, den er hatte, war: „Kommen die Leute als Sieger zurück, so sind wir alle verloren, kommen sie geschlagen zurück, so sind wir auch verloren, weil dann der Fanatismus ein anderes Opfer haben will.“ Gegen Abend kamen sie zurück, ohne die Armenier besiegt zu haben. Sie hatten eine Anzahl Leute verloren und verlangten nun die Auslieferung der Armenier in dem Winklerschen Haus. Der Anführer war der Mufti (Gelehrter religiösen Rechts), der auch als Unterhändler immer in das Hoftor hereingelassen werden mußte. „Wir haben keine Armenier!“ und darüber kam die Nacht, in der die Räuber schliefen und die Ingenieure zusammen mit den drei türkischen Dienern abwechselnd Patrouillen um das Haus innerhalb der Hofmauern gingen, denn die größte Gefahr war jetzt Brandstiftung.

Von Bagtsche stand nur noch das Haus des Kaimakam, das war ca. 150 m weit, dann ein kleines Haus auf ca. 5 m Entfernung und eins direkt angebaut und die armenische Kirche etwa 20 m. An die Kirche versuchten sie vergeblich Feuer zu legen. Sie war voller Frauen und Kinder. Die Steinwände widerstanden. Die Marodeure, die in die Nähe des Winklerschen Hauses kamen, wurden durch die Flintenläufe vertrieben. So gings sechs Tage. Die Leichen im Ort und vor der Haustür lagen dort, vollkommen nackt, denn jeder raubte, was er fand, auch die türkischen Frauen und Kinder raubten auf der Straße und in den Brandstätten, dazu waren die Leichen in der schauderhaftesten Weise verstümmelt, der Bauch aufgeschlitzt, der Kopf abgetrennt. Sie baten wohl einmal, man möchte doch wenigstens die Leichen vor der Tür fortschaffen, da wurden sie einfach in die Brunnen geworfen, und so gabs bei ohnehin knappen Lebensmitteln auch kein Wasser mehr. Um die Flüchtlinge zu ernähren, gingen die türkischen Diener nachts selbst auf Raub aus. Sie wußten, wo die Leute ihre Vorräte an Reis etc. in Tontöpfen zu vergraben pflegten und brachten so einige Okka Reis und Mehl, und die zwei Mädchen hatten den ganzen Tag zu kochen, um die Leute auch nur einigermaßen zu ernähren. Die Vorräte an Konserven wurden alle verzehrt, die Hühner gegessen, der große Hund am zweiten Tag schon fortgeschafft, weil er anfing, an den Leichen zu nagen. Im Haus sei ein fürchterlicher Gestank gewesen, denn die Flüchtigen, die sich nicht bis in den Hof trauen durften, hatten nur einige Eimer für ihre Notdurft, und auch die wurden nachher nur in den Hof ausgeleert, und bei der Angst und Kopflosigkeit der Menschen wurde selbst diese Vorschrift nicht immer gehalten. Dazu der Blutgeruch der Verwundeten, kurz, es soll unerträglich gewesen sein. Dazu wurden die Lebensmittel so knapp, daß am letzten Tag die Flüchtigen schon nichts mehr zu essen bekamen.

Der Arzt hatte erklärt, wenn der verwundete Hauswirt nicht den Arm amputiert bekäme, würde er am Brand sterben, und im Winklerschen Hause, wo er unter einem Bett lag, sei es unmöglich, ihn zu behandeln. Da erbot sich der Kaimakam, ihn unter sicherem Geleit in die Moschee zu bringen, wo schon eine Anzahl geflüchteter Männer waren. Die waren einfach Muhammedaner geworden und schickten zu ihren Frauen, sie sollten es auch tun. Aber die Frauen wehrten sich und jede wollte lieber ihr Kind verschenken, als es mit in die Moschee nehmen. Der Kaimakam schickte also vier Saptiehs, die den Mann führten, aber gerade vor der Moschee wurden sie von der Horde angefallen, beiseite geschleudert, und der Mann erschlagen. Dann verlangte der Mufti, die Familie des Kaimakams dürfe nicht bei den Giaurs bleiben, und die Frauen, die sich wehrten und an den Balken anklammerten, wurden mit Gewalt wieder herausgeschleift. So ging es sechs Tage, da waren die Menschen so erschöpft, daß keiner mehr imstande war, sich zu verteidigen, und auch jeder die Hoffnung aufgegeben hatte.

Da erschien die Rettung. Ein Bahnagent in Adana hatte ca. dreißig Tscherkessen bewaffnet gemacht, und die hatten Esel und Pferde aufgebracht, gefangen, gekauft, gestohlen, und waren gekommen, die Leute zu retten. Unter deren Schutz sind die Menschen dann geflüchtet, ohne irgend etwas mitzunehmen, als was sie anhatten, und unter ihrem Schutz kamen auch noch 30 armenische Frauen und Kinder mit durch. Aber auf dem ganzen Weg war nichts zu essen, keine Unterkunft, und in dem ersten vollkommen zerstörten Ort Osmanieh (Osmanye), in den sie abends kamen, lud sie der Kaimakam ein in sein Haus: „Nicht wahr, wir haben Euch ein schönes Schauspiel gegeben in den letzten Tagen.“ Auf dem ganzen Weg alles zerstört, alles erschlagen, überall Leichen, in Adana kein Haus mehr da sozusagen, das einzige, was sie einmal unterwegs bekamen, war ein Brotfladen für das Kind. Die Bahnverbindung unterbrochen, bis ihnen Belart (Schweizer Direktor der Bahn) einen Extrazug schickte, und so sind sie flüchtend bis Smyrna (richtig wohl Adana) gekommen und von dort nach Eregli.

Winkler sagt, die amtlichen Zahlen seien viel zu niedrig, es zähle nach Tausenden. Überall seien noch kleine Räuberbanden gewesen, sodaß die Tscherkessen einen vollständigen Aufklärungsdienst einrichten mußten, und es ständig kleinere Kämpfe gegeben hat. Wie es jetzt aussieht, was von ihrem und dem Bahneigentum gerettet, was zerstört und gestohlen ist, was mit den Flüchtlingen in ihrem Haus geschehen ist, das alles wissen sie nicht und Winkler glaubt, daß noch auf Wochen hinaus ein Reisen in den Gegenden wegen dem Aasgeruch unmöglich sein wird.

Auch sonst erzählte er allerlei, glücklicherweise erfreulicheres. So kam in Konia am Tage der Revolution ein Telegramm an den Wali „Man soll der Gerechtigkeit des Volkes freien Lauf lassen.“ Der Wali ging sofort zum Telegrafenbeamten und erklärte ihm, daß das Telegramm absolut geheim bleiben müsse, widrigenfalls er ihn als ersten erschießen würde. Trotzdem sickerte nach ein paar Tagen von Eskischehir die Nachricht durch, und die jungen Softas machten Miene, auch aufzuwiegeln. Da hat der Tschelebi [Abt des Mevlana-Derwischklosters] sie streng verwarnt, denn „die Christen werden die Christen begraben, und dann werden wir erschlagen, und uns werden die Hunde begraben.“

Trotzdem blieb eine unruhige Stimmung unter den Hodjas. Da hat der Tschelebi dem Wali die vier Rädelsführer angegeben und der hat sie einige Tage in Ketten gelegt. Das half dann.



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