1913-01-27-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/Botschaft London 886
Zentraljournal: 1913-A-00214
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Praesentatsdatum: 01/29/1913
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 130
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/08/2019


Der Reichskanzler (Bethmann Hollweg) an den Botschafter in London (Fürst Lichnowsky)

Telegraphischer Bericht



Nr. 130 .

Geheim.


Berlin, den 27. Januar 1913.

(Eigenhändig. durch Hofrat Lehmann)

Mit der Sprache, die Euere Durchlaucht am 24. d.M. bei der Unterhaltung mit Sir E. Grey über die asiatische Frage geführt haben, kann ich mich nur einverstanden erklären . Es ist richtig, dass wir in Kleinasien lediglich wirtschaftliche Interessen verfolgen und beim Ausbruch innerer Unruhen keinen Anlass haben würden, über die Wahrung dieser wirtschaftlichen Interessen hinauszugehen, solange Frankreich und die anderen Mächte sich die gleiche Beschränkung auferlegen. Denn wir sind mit der bestehenden staatsrechtlichen Ordnung in Asien zufrieden und weit davon entfernt, die Beseitigung oder Einschränkung der türkischen Herrschaft zu wünschen. Sollte indes von dritter Seite eine Änderung der geltenden Hoheitsverhältnisse versucht und die Aufteilung der asiatischen Türkei eingeleitet werden, so würden sich unsere bisher rein wirtschaftlichen Interessen selbstverständlich alsbald in politische erster Ordnung verwandeln. Wir würden gezwungen sein, gleichfalls einzugreifen und uns einen Anteil an der Erbschaft zu sichern. Denn Deutschland ist in Kleinasien nicht nur mit Hunderten von Millionen, sondern mit seinem Prestige engagiert. Dass Gebiete, die durch deutsche Arbeit der Kultur und dem Weltverkehr erschlossen wurden, restlos in fremde Hände übergehen, würde das deutsche Volksbewusstsein nicht ertragen.

Eine schon jetzt einsetzende Liquidation der asiatischen Türkei wäre für Deutschland nicht erwünscht. Unsere Beziehungen zu Grossbritannien sind zwar seit kurzem in der Besserung begriffen, ob indessen der Umschwung in England schon so populär geworden ist, dass die englische Regierung eine Festsetzung Deutschlands in Kleinasien und namentlich an der kleinasiatischen Küste ruhig mitansehen könnte, ist in hohem Grade fraglich. Wir würden daher bei einem Vorgehen in Kleinasien im gegenwärtigen Moment trotz der ermunternden Andeutungen Sir. E. Grey’s auf Englands Widerstand gefasst sein müssen. Ferner ist zu bedenken, dass die anatolischen Provinzen, auf die Deutschland im Falle der Aufteilung sein Augenmerk zu richten haben würde, das Herz und Mark des türkischen Reichs darstellen und von den Kernstämmen des muhamedanischen Volkes bewohnt werden, die bisher am treuesten zu ihrem Sultan und Kalifen gehalten haben. Der Zersetzungsprozess in der Türkei ist noch nicht so weit vorgeschritten, dass über diese besten Elemente des Volkes einfach zur Tagesordnung übergegangen werden könnte. Wir müssten bei dem Versuche, uns in Anatolien festzusetzen, mit erbittertem Widerstande der Bevölkerung rechnen, während England in Arabien, Russland in Armenien, Frankreich in Syrien angesichts der seit geraumer Zeit bestehenden Unabhängigkeitsbestrebungen der dortigen Stämme erheblich leichteres Spiel haben würden. Zur Durchführung unserer Aktion würde es daher voraussichtlich der Einsetzung nicht unbedeutender Machtmittel bedürfen und es erscheint zweifelhaft, ob sich bei der jetzigen Konstellation der Grossmächte eine entsprechende Entblössung der Heimat rechtfertigen liesse.

Die vorstehenden, lediglich zu Euerer Durchlaucht persönlichen Orientierung bestimmten Ausführungen zeigen, welches vitale Interesse wir daran haben, dass die türkische Herrschaft in Asien solange wie möglich unangetastet bleibt. Euere Durchlaucht wollen daher nach Massgabe der Ihnen erteilten Instruktionen einer Aufrollung der asiatischen Frage weiter mit allen Mitteln entgegenwirken.


Bethmann Hollweg

Seiner Durchlaucht dem Kaiserlichen Botschafter Fürsten Lichnowsky London.



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