1913-02-24-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14078
Zentraljournal: 1913-A-04311
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 03/01/1913 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 58
Zustand: A
Letzte Änderung: 04/02/2012


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



Nr. 58

Pera, den 24. Februar 1913

Kaum ist die Nationalitätenfrage auf dem Balkan zum Nachteil der Türkei entschieden worden, da erwächst dem asiatischen Besitzstand des Reiches eine neue und kaum weniger schwere Gefahr durch das Akutwerden der armenischen Frage. Die Armenier können sich zwar in ihren Sonderbestrebungen nicht wie Südslawen und Griechen auf die Hülfe eines unabhängigen Staates eigener Nationalität stützen; aber sie haben an dem benachbarten Rußland einen ebenso rührigen und zielbewußten Bundesgenossen gefunden wie jene.

Die Motive, welche zum Zusammenschluß zweier so heterogener Elemente führten, liegen, soweit Rußland in Frage kommt, natürlich klar zu Tage. Die über ganz Kleinasien und Nordpersien verbreiteten Armenier, welche aus religiösen und ethnographischen Gründen in einem natürlichen Gegensatz zu ihren mohammedanischen Herren stehen, sind das gegebene Element zum Aufbau einer engmaschigen politischen Propaganda in Vorderasien. In dem Augenblick, wo die Liquidation der asiatischen Türkei in greifbare Nähe rückte, mußte es von großem Werte sein, über ein solches Agitationsinstrument verfügen zu können. Darum brach man neuerdings mit dem seit 1878 betriebenen Russifizierungssystem und begann das gestern noch unterdrückte armenische Volk zu verhätscheln.

An Organen zur Anknüpfung von Beziehungen fehlte es den Russen nicht. Schon durch den Umstand, daß das Haupt der orthodoxen (schismatischen) armenischen Kirche seinen Sitz in Etschmiadsin auf russischem Gebiet hat, sind manche Fäden hinüber und herüber geknüpft. Rußland unterhält aber ferner in Anatolien und Nordwestpersien nicht weniger als 15 Konsulate und Konsularagenturen. Das bedeutet ebensoviele russische Propagandaherde, von denen aus den Armeniern durch Geld und gute Worte die Idee suggeriert werden soll, daß ihre Stammesgenossen unter dem Scepter des Zaren alle Wohltaten eines geordneten Rechtsstaates genössen, und daß daher die Aufnahme der ganzen armenischen Nation in den russischen Untertanenverband ein erstrebenswertes Ziel sei. Nach den Angaben von ziemlich glaubwürdiger armenischer Seite hat Rußland im letzten Jahre nicht weniger als 2 1/2 Millionen Rubel für Propagandazwecke allein in Ostanatolien verausgabt. Die gesamte armenische Bevölkerung soll dort mit modernen Waffen versehen und jederzeit bereit sein, auf einen Wink Rußlands gegen die Türken loszuschlagen. Wenn man sich vergegenwärtigt, welche Schwierigkeiten der türkischen Regierung die Niederwerfung der im Jahre 1904 aus Rußland herübergekommenen armenischen Banden machte, so kann man ermessen, welche Gefahr dem Besitzstande des Reiches hier droht.

Die Armenier wissen zwar ganz genau, welchen Motiven die ihnen von Rußland gezeigten Aufmerksamkeiten entspringen. Was sie unter russischer Herrschaft erwartet, haben sie im Jahre 1903 gesehen, als die armenischen Kirchengüter eingezogen und durch die planmäßige Russifizierungsarbeit Pobjedonoszews die armenische Revolutionspartei ins Leben gerufen wurde. Der Armenier will ebensowenig Russe werden, wie er sich Jahrhunderte lang gewehrt hat, Byzantiner, Araber, Perser oder Türke zu werden. Wenn er trotz der früheren schlechten Erfahrung dem russischen Lockruf gefolgt ist, so geschah das lediglich deshalb, weil die russische Regierung bisher die einzige ist, welche für ihn mehr übrig gehabt hat, als rein platonische Ratschläge und Versprechungen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Armenier auf türkischem Boden gegen Willkür und Unterdrückung nicht genügend geschützt ist. Wer ihm diesen Schutz in Aussicht stellt, der ist heute sein Mann, ganz gleich, welche Nebenabsichten er außerdem verfolgt. Ein Armenier verglich mir gegenüber die heutige Lage seines Volkes mit der eines Ertrinkenden. Dieser ergriffe unwillkürlich die Hand eines jeden, der ihm zu Hülfe komme, selbst wenn der Retter ihm nur in der Absicht beispringe, ihn nachher gefangen zu nehmen.

Bei uns in Deutschland hat man sich daran gewöhnt, in den periodisch wiederkehrenden Armeniermassakres nur die natürliche Reaktion auf das Aussaugesystem der armenischen Geschäftsleute zu sehen. Man nannte die Armenier die Juden des Orients und vergaß darüber, daß es in Anatolien auch einen starken armenischen Bauernstamm gibt, der alle guten Eigenschaften einer gesunden Landbevölkerung besitzt, und dessen ganzes Unrecht darin besteht, daß er seine Religion, seine Sprache und seinen Besitz zähe gegen die ihn umgebenden Fremdvölker verteidigt.

Der Mangel an organisatorischem Talent, die Unfähigkeit zu einer wirklich durchgreifenden Reformarbeit im modernen Sinne ist bei den Türken in den letzten Monaten so klar zu Tage getreten, daß das Verhältnis zwischen Türken und Armeniern dadurch beeinflußt werden muß. Die Schaffung eines großen selbständigen Armenien bleibt natürlich auch unter den heutigen Verhältnissen eine Utopie. Das armenische Element verfügt fast nirgends über einheitlich geschlossene Sprachgebiete, sondern lebt der Mehrzahl nach zerstreut unter fremden Volksstämmen. Es würde also völlig unmöglich sein, auf ethnographischer oder historischer Basis die Grenzen für ein autonomes Armenien zu bestimmen. Sogar die Einrichtung einer lokalen Selbstverwaltung in Gebieten, wo das armenische Element überwiegt, würde heute auf Schwierigkeiten stoßen. Besonnene Armenier geben freimütig zu, daß es unter ihren Volksgenossen an einem Stamm verwaltungstechnisch geschulter Personen völlig mangelt, daß also die Gewährung der Selbstverwaltung an die Armenier nur zu einem unerwünschten Fiasko führen kann. Andererseits ist es aber undenkbar, daß die Türken in ihrem buntscheckigen Reich fortfahren können, die Rolle der kraft Erobererrecht allein herrschenden Nation zu spielen. Wie immer sich auch das Schicksal der Türkei nach dem Friedensschluß gestalten mag, so viel ist sicher, daß das numerisch starke und wirtschaftlich tüchtige armenische Element sich mehr und mehr emanzipieren wird. Jeder, der wirtschaftliche oder politische Ziele in Anatolien verfolgt, wird nicht umhin können, mit dieser Tatsache zu rechnen.

Solche Erwägungen müssen uns dazu führen, unsere bisher den Armeniern gegenüber eingenommene Haltung zu ändern. Die radikalen Elemente, welche utopische Ziele verfolgen und mit nihilistischen Mitteln arbeiten, werden wir selbstverständlich nach wie vor von uns fern halten müssen. Unser Ziel muß es vielmehr sein, das Vertrauen der armenischen Bauern und Kaufleute zu gewinnen, indem wir die erreichbaren Wünsche der ruhig denkenden armenischen Kreise und dazu rechnet noch immer die große Mehrzahl des Volkes fördern. Diese Wünsche kann man in zwei Punkten zusammenfassen:

1) Wirksame Garantien für die Sicherheit von Leben, Eigentum und Religion.

2) Anteil an der lokalen Verwaltung, entsprechend der Kopfzahl und dem Bildungsgrade des armenischen Elements.

Das sind Forderungen, denen sich die Türkei nicht mehr wird entziehen können. Die jetzt am Ruder befindliche Regierung ist sich darüber auch vollkommen klar. Mahmud Schefket brachte neulich selbst das Gespräch auf die armenische Frage und sprach mir gegenüber den Wunsch aus, die deutsche Regierung möchte ihm bei der Lösung der hier bestehenden Schwierigkeiten behülflich sein. Dem Großvezier schwebt ohne Zweifel der Gedanke vor, durch eine Annäherung der Armenier an die loyalen deutschen Vertretungen der destruktiven russischen Propaganda das Wasser abzugraben und dadurch das armenische Element zur praktischen Mitarbeit am Wiederaufbau des zerrütteten Staates zu gewinnen. Ihm darin behülflich zu sein, ist meines Erachtens eine ebenso ehrenhafte wie unseren Interessen förderliche Aufgabe.

Die praktische Ausführung denke ich mir im einzelnen folgendermaßen:

1) die türkische Regierung arbeitet nötigenfalls unter Einholung unseres Rates ein Reformprojekt aus, welches den oben angeführten Forderungen der Armenier entgegenkommt. Damit das Projekt nicht, wie so viele seiner Vorgänger auf dem Papier stehen bleibt oder gar von übelwollenden und verständnislosen Unterbeamten in sein Gegenteil verkehrt wird, ergeht an alle deutschen Vertretungen in der Türkei die Anweisung, Interesse für die armenischen Angelegenheiten zu zeigen, nötigenfalls auf ein friedliches Zusammenleben zwischen Türken und Armeniern hinzuarbeiten und, wenn sie von offenbaren Verletzungen der Reformgesetze hören, die betreffenden Fälle zu untersuchen und über das Ergebnis an die Botschaft zu berichten, damit diese zwecks Abstellung der Mißstände intervenieren kann. Diese beratende Tätigkeit der Konsuln müßte natürlich in sehr taktvoller Form und in voller Übereinstimmung mit der türkischen Zentralregierung, aber doch mit so viel Nachdruck ausgeübt werden, daß die Armenier die deutschen Behörden als unparteiische, im Notfall aber auch wirklich wirksame Beschützer kennen lernen.

2) Zur wirksamen Durchführung dieses Planes ist eine Vermehrung der deutschen Vertretungen in Anatolien anzustreben. Vielleicht läßt sich das ohne Vermehrung der deutschen Konsulate erreichen, wenn nämlich der Friedensschluß die wohl nicht zu umgehende Erweiterung der Finanzkontrolle bringt und es auf diesem Wege gelingt, einige geeignete deutsche Persönlichkeiten als Angestellte der türkischen Regierung nach Anatolien hereinzubringen. Sollte sich das nicht erreichen lassen, so möchte ich auf die Notwendigkeit hinweisen, wenigstens in Erzerum eine deutsche Vertretung zu unterhalten, da diese Stadt als Beobachtungspunkt und handelspolitischer Vorposten gleich wichtig ist. Das nächste deutsche Konsulat in Trapezunt ist reichlich weit von Erzerum entfernt und außerdem während der Wintermonate fast völlig von der armenischen Hochebene abgeschlossen.

3) Uns wird mit Recht der Vorwurf gemacht, daß unser Schulwesen in Anatolien in keiner Weise mit der Entwickelung unserer dortigen Interessen Schritt gehalten hat. Vermutlich wird es uns bei unseren knappen Mitteln auch ferner nicht möglich sein, gegen [gestrichen:Engländer und] die Franzosen in deren eigener Interessenssphäre anzukämpfen. Dort aber, wo die Brennpunkte unserer eigenen Interessen liegen, müssen wir unbedingt künftig energischer vorgehen. Es ist ein großes Manko, daß noch immer keine deutsche Schule in Adana besteht. Mit Errichtung einer solchen würden wir zwei Zwecken zugleich dienen. Einmal brauchen wir deutsche Erziehungsanstalten im Bereich der Bagdadbahn, um das eingeborene Personal für unsere großen wirtschaftlichen Unternehmungen heranbilden zu können. Da ferner der Schwerpunkt des armenischen Volkes heute mehr in Adana als in Hocharmenien liegt, und eine dort entstehende deutsche Schule auf zahlreichen Besuch seitens dieses bildungsfähigen und lerneifrigen Elements mit Sicherheit rechnen kann, so bekämen wir durch das Mittel einer deutschen Erziehungsanstalt Einfluß auf die maßgebenden armenischen Kreise oder, was dasselbe bedeutet, auf die Mehrzahl der dortigen Kaufleute und Gewerbetreibenden. Die Unkosten der Schule würden sich bald nicht nur durch das Wachsen des deutschen Prestiges, sondern auch durch eine Steigerung der deutschen Einfuhr bezahlt machen.

4) Die deutsche Presse müßte ihre bisherige ablehnende Haltung gegen alles armenische aufgeben und durch maßvolle und verständnisvolle Stellungnahme ihr Interesse an den Wünschen der Armenier bekunden. Das würde einen großen Eindruck auf die zahlreichen, europäisch gebildeten Armenier machen, die in Frankreich, England und Amerika leben und dort über eigene Preßorgane verfügen.

Die armenische Frage steht heute entschieden an einem Scheidewege. Stoßen die Armenier mit ihren berechtigten Wünschen auch künftig bei uns auf verschlossene Türen, so werden sie sich nolens volens den Russen gänzlich in die Arme werfen. Geschieht das, so ist wenig Hoffnung für eine friedliche Lösung des kleinasiatischen Problems oder gar für eine Regeneration der Türkei vorhanden. Bekommen wir andererseits auf dem oben skizzierten Wege Einfluß auf die armenische Bewegung, so haben wir ein wirksames Mittel in der Hand, um unter Wahrung und Erweiterung unserer eigenen Interessen die Türken in ihrer Reformarbeit zu unterstützen und die im geheimen an der Zersetzung des osmanischen Reiches arbeitenden Kräfte lahmzulegen. Sollte es sich aber in Zukunft herausstellen, daß der Auflösungsprozeß der Türkei nicht mehr aufzuhalten ist, so wird es für uns von großem Werte sein, bei der Geltendmachung unserer Rechte in Kleinasien das einheimische armenische Element hinter uns zu haben.


Wangenheim


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