Das Bergland Armenien, oder richtiger: Großarmenien liegt zwischen dem Ostende des Schwarzen Meeres und der Südwestecke des Kaspisees. Der nordöstliche Teil Großarmeniens, die Gegend südlich vom Kaukasus, gehört zu Rußland, der östliche Teil zu Persien, das Land im Quellgebiet des Euphrat und Tigris zur Türkei. Dieser letztere Teil ist das Land des Ararat, das von dem majestätischen Schneeberg Massis beherrscht wird, das Land der großen Seen und der zahllosen Quellen. Weithin erstrecken sich üppige Wiesen und weite Kornfelder, herrlich gedeiht die Weinrebe und der Granatapfel. Allerwärts singen die Nachtigallen, überall sonnen sich Fasanen und Pfauen; am Waldrande steht die anmutige Gazelle; auf den Abhängen der wilde Steinbock. Eine andere Art von Schönheit bietet Kleinarmenien mit seinem stolzen Taurusgebirge und den fruchtbaren Gefilden von Adana. In Klein- und Großarmenien leben die Armenier als geschlossene Völkerschaft in einer Stärke von beiläufig vier Millionen. Davon sind etwa zwei Millionen türkische Untertanen. Außerdem befinden sich Armenier in fast allen türkischen Städten, zusammen ungefähr eine halbe Million. Armenische Kolonien gibt es in Indien, Ägypten, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Österreich-Ungarn (Erzbistum Lemberg), Italien, Frankreich, England und Amerika.
Die Armenier sind arischer Abstammung und seit frühester Zeit (33 n. Chr.) Christen. Von den ottomanischen Armeniern sind 300000 katholisch, 150000 evangelisch, der Rest orientalisch. Im byzantinischen Kaiserreiche waren Armenier hervorragende Krieger, erneuernde Denker und große Künstler. Ein Dutzend der Kaiser gehörte dem armenischen Stamme an. Im türkischen Kaiserreiche behielten die Armenier ihre Stellung als belebendes Element: sie hatten den Handel in Händen, sie zeichneten sich als Gelehrte, Künstler und Staatsmänner aus. Vom 15. Jahrhundert bis zum 19. war der armenische Volksgeist unterdrückt, fast wie vernichtet. Nur die Kirche stand aufrecht. In den Klöstern schliefen die alten Manuskripte... Ein Mönch, Mechithar, der es verstand, daß in der Türkei ein geistiger Herd für das Armenentum nicht aufzurichten sei, brachte die wertvollsten Handschriften nach Venedig, wo er das Kloster von San Lazzaro gründete, das eine Art armenischer Akademie wurde. Die Bewohner dieses Klosters entfalteten eine ungeheure Tätigkeit als Uebersetzer und machten so ihre Landsleute mit allen Schätzen des alten und neuen Europa bekannt, von Homer über Racine und Alfieri bis zu Schiller. Eine neue Blüte armenischen Geisteslebens begann. Besonders die Poesie erwachte zu herrlichem Leben. Der Grundton der armenischen Dichtungen ist Trauer, tiefe Trauer. Herzzerreißend klagt das armenische Lied über die Leiden, die Armenien um seiner Religion willen zu ertragen hat. Selbst die Flüsse des unglücklichen Landes lassen die Dichter teilnehmen an dem Klagegesange. So weint der Arares:
Diese tieftraurige Lage des armenischen Volkes schreit nach Reformen. Eine Reformvorlage wurde von den Vertretern des armenischen Katholikos ausgearbeitet. Dabei wurde das Memorandum der Botschafter vom 11. Mai 1895 sowie die Vorlage Gladstones vom Jahre 1901 zugrundegelegt. Die hauptsächlichsten Forderungen der Armenier sind folgende: Die Armenier verlangen die tatsächliche Durchführung der versprochenen Reformen unter der tatkräftigen und bestimmenden Kontrolle und Mitarbeit Europas. Als notwendige Vorbedingung hierzu erachten sie die Einführung einer Verfassung ähnlich der des Libanons, der von einem christlichen Statthalter verwaltet wird. Die Armenier fordern die Sicherheit des Lebens, der Ehre und des Besitzes. Sie verlangen Bewaffnung, um sich verteidigen zu können; sollte ihnen das nicht zugestanden werden, bestehen sie auf Entwaffnung der Kurden. Sie fordern die Herausgabe des armenischen Landes, das die Kurden seit den tragischen Ereignissen von 1895/96 in Beschlag genommen haben. Sie verlangen die Abschaffung der Feudalrechte der Kurden, die Wiedereinsetzung der Gerichtshöfe, die Zulassung der Armenier zur Gendarmerie, die Bestrafung der durch ihre Mord- und Raubzüge berüchtigten Banditen, die Entlassung der durch ihr schrankenloses Entgegenkommen gegen die Kurden befleckten Beamten. Die Armenier bestehen auf der Forderung wirtschaftlicher Reformen, durch die der materielle Wohlstand der großen Masse der arbeitenden Bevölkerung gehoben wird und auf der Abschaffung der willkürlichen Steuern, die ein Erbe der alten Regierung sind. Ferner verlangen sie die Einführung der Lokaladministration in jeder Provinz und jeder Gemeinde. Endlich fordern die Armenier eine Umarbeitung der Grenzverhältnisse der Dorfgemeinden im Sinne der Schaffung homogener Gruppierungen, um die Zwistigkeiten zwischen den so ungeheuer gegensätzlichen Rassen und Religionen möglichst auf ein Mindestmaß einzuschränken.
Alle diese Forderungen klingen so selbstverständlich, daß man sich wundert, daß sie erst erhoben werden müssen.
Die Erfüllung der Forderungen der Armenier liegt im eigensten Interesse der Türkei. Gerade jetzt, nach dem unglücklichen Ausgange des Balkankrieges, ist sie doppelt darauf angewiesen, die ihr verbleibenden Untertanen zu Anhängern des ottomanischen Staatsgedankens zu machen. Die Türkei schütze die Armenier und sie wird an ihnen treue Freunde besitzen, denn es haben beide Völker gemeinsame Lebensinteressen kultureller und wirtschaftlicher Art und selbst die großangelegte russische Propaganda in Armenien hat bisher nicht vermocht, die Zusammenhänge des Volkes mit dem ottomanischen Reiche zu zerschneiden. Aber wenn die Türkei die Politik fortsetzt, die sie bisher betrieb, wird sie auch noch das ihr verbliebene Armenien verlieren und dann wird der Tag der Schlußliquidation des ottomanischen Reiches gekommen sein. Hierin liegt die Bedeutung der armenischen Frage für Europa.