1913-12-01-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 14082
Zentraljournal: 1913-A-24090
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Praesentatsdatum: 12/05/1913
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



Abschrift

Inhalt: Die deutsche Militärmission für die Türkei.


Pera, den 1. Dezember 1913.

Die Abkanzelung Dschavids durch den Temps und das Echo de Paris hat bei den jungtürkischen Blättern einen Unmut erregt, dessen Äußerung ersichtlich nur deswegen weniger lebhaft ist, weil der Geldgeber bei guter Laune erhalten werden muß.

Tanin, Taswir i efkjar und Jeune Turc wenden sich gemeinsam gegen die Möglichkeit, Parallelen zwischen der Reformtätigkeit der deutschen Militärmission und der Reformarbeit fremder Spezialisten in Ostanatolien zu ziehen. Tanin betont, daß der deutsche General keine Kontrollgewalt in dem Sinne besitze, wie sie von den europäischen Beiräten in Ostanatolien nach dem Willen der Großmächte ausgeübt werden solle. Dies sei so klar, daß man das mangelnde Verständnis des Temps hierfür nur durch das Fehlen des erforderlichen guten Willens erklären könne. Der deutsche General werde immer ein der türkischen Regierung unterstellter und von ihr bezahlter Funktionär sein, während die Reformbeiräte nicht von der Türkei, sondern von den Großmächten bestellt und von diesen bezahlt werden sollten. Der Unterschied zwischen beiden Kategorien sei eben so groß wie der zwischen staatlicher Unabhängigkeit und Abhängigkeit. Albern sei der Vorwurf des Temps, daß die Türkei sich eher den Reformen in ihrem Heere, als denen in Anatolien zuwende. Wie könne denn eine Regierung, die jeden Augenblick mit todbringenden Angriffen von außen zu rechnen habe, nicht zuerst an die Armee, sondern zuvor an die Sicherung des allgemeinen Fortschritts und an Verwaltungsreformen denken. Was würde denn von Frankreich übrig bleiben, wenn man ihm sein Heer nehmen würde ... Was die von dem Temps so angerühmten Reformen angehe, so ließen die neuesten Nachrichten über die deutsch-russischen Pläne zweierlei erkennen, nämlich erstens, daß die Türkei sich in ihrer Erwartung getäuscht habe, von Rußland, wenn auch nicht mit Aufrichtigkeit, so doch wenigstens in einer der Vernunft nicht Hohn sprechenden Weise behandelt zu werden, und zweitens, daß durch die Zusammenfassung der ostanatolischen Provinzen in eine Verwaltungseinheit die Möglichkeit der Ablösung beschleunigt oder, noch deutlicher, der Bissen für Rußland noch mundgerechter gemacht werden solle.

Taswir i efkjar benutzt das naheliegende und darum immer wieder herangezogene Argument, daß ja doch die Mächte es seien und nicht die Türkei, welche die Tätigkeit von Reformen in Anatolien verhinderten. Die Pforte verlange ja seit vielen Monaten für ihre Zivilverwaltung solche Beamte, wie sie zur Militärorganisation in General von Liman und seinen Helfern berufen worden seien, aber die Großmächte wollten eben niemanden entsenden. Doch sei das Verhalten des Temps entschuldbar, ihn treibe die Eifersucht zu solchen Angriffen und zweitens müsse er Rußland die Stange halten, welches in letzter Zeit dem Projekte der deutschen Militärmission gegenüber eine feindselige Haltung eingenommen habe. Nach dieser Auseinandersetzung spricht der Artikel die Überzeugung aus, daß auch die Frage der europäischen Inspektoren in Anatolien in befriedigender Weise geregelt werden wird, denn die Türkei, welche so viele schwere Schicksalsschläge überlebt habe, besitze noch eine Zukunft, auf welche sie vertrauen könne.

Jeune Turc hebt die Gehässigkeit hervor, mit welcher sich die beiden französischen Zeitungen, würdig sekundiert von der Novoje Wremja, gegen Deutschland wenden, zu welchem die Türkei in ein Vasallenverhältnis getreten sei. Dies brauche zwar nicht tragisch genommen zu werden, denn in umgekehrten Fällen hätten auch schon deutsche Zeitungen der Türkei zu große Fügsamkeit Frankreich gegenüber vorgeworfen, und die Lehre, welche die Türkei daraus zu ziehen habe, sei die, jederzeit die Großmächte gegen einander auszuspielen und das Gleichgewicht der Kräfte zu ihrem Vorteil zu verwerten. Als unsinnig weist das Blatt mit gleicher Beweisführung wie der Tanin den Vorwurf zurück, daß die Türkei unlogisch handele, wenn sie einem deutschen General die Militärreformen anvertraue und sich gleichzeitig sträube, europäische Kontrollbeamte für Anatolien zuzulassen. Zur Ausführung der militärischen Reformen komme eben nur Deutschland in Betracht, für die Verwaltung meldeten sich alle Großmächte, welche "darauf versessen sind, das Glück der Türkei zu machen", nur hätten sie sich mit dieser noch nicht über die Art und Weise einigen können, wie dieses "Glück" aufzufassen sei. Müsse sich nicht der Verdacht regen, daß es der Türkei durch all' diese Machinationen unmöglich gemacht werden solle, den von ihr angestrebten Fortschritt auch zu verwirklichen?


[Wangenheim]



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