1914-10-08-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R 1914
Zentraljournal: 1914-A-25762
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Telegramm-Abgang: 10/08/1914 08:30 AM
Telegramm-Ankunft: 10/08/1914 01:40 PM
Praesentatsdatum: 10/08/1914 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 995
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an das Auswärtige Amt

Telegraphischer Bericht



Nr. 995
Therapia, den 8. Oktober 1914

Antwort auf Telegram Nr. 884.

Der gegen den Großwesir erhobene Vorwurf wegen Lemnos ist geradezu an den Haaren herbeigezogen. Selbstverständlich hat Said Halim nur den Längengrad angeben wollen, bis zu welchem sich die Flotte der Alliierten zurückzuziehen habe. Großwesir meinte, der Standpunkt der Pforte sei, daß Lemnos noch zur Türkei gehöre und Besetzung dieser Insel durch England bedeute Kriegsfall.

Daß Prinz Said Halim als egyptischer Prinz und Grundbesitzer gewisse Rücksichten auf England nimmt, ist von mir bereits früher berichtet worden. Kürzlich haben zwischen dem egyptischen Vakuf-Minister Mouheb Pascha als Vertreter des Khediven und dem Großwesir Besprechungen wegen der egyptischen Güter Said Halims stattgefunden, die zu einer Verständigung geführt haben. Großwesir bezeichnet Mouheb Pascha als gefährlichen Gauner, der den Khediven stark beeinflußt. Erst wenn Mouheb weggejagt sei, könne man sich voll auf den Khediven verlassen.

Daß Said jemand verschuldet sei ist falsch. Er ist im Gegenteil durch Erbschaften in den letzten Jahren einer der reichsten Leute in der Türkei geworden und verdankt seine Stellung als Großwesir hauptsächlich seiner finanziellen Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit. Über die Beziehungen Said Halims zu England ist hier viel geklatscht worden. Ich habe wiederholt darüber mit Enver gesprochen, der mir zugab, daß die Anglophilie des Großwesirs unter den aktionslustigen Mitgliedern des Komitees und der Regierung wie Talaat Bey und Halil einen gewissen Anstoß errege. Es sei nicht ausgeschlossen, daß, wenn die Türkei gegen England losschlage, der Großwesir zurücktrete. Daß letzterer etwa Deutschland an England verraten könne oder eine Abwendung der türkischen Politik von Deutschland beabsichtige, sei dagegen ausgeschlossen. Die Sympathie des Großwesirs gehört durchaus Deutschland, doch wolle er es eben mit England nicht ganz verderben. Darin habe ja Said Halim recht, daß solange die Türkei nicht aktiv in die kriegerischen Ereignisse eingreife, sie leidliche Beziehungen zu den Entente Botschaften unterhalten müsse, damit die Entente nicht zu früh den Krieg erkläre. Tatsächlich sei aber der Entschluß des Ministerium, mit Deutschland und Österreich gegen die Triple Entente zu gehen, ein einmütiger.

Die entscheidenden Entschlüsse der Regierung werden seit einigen Wochen immer mit Ausschluß Said Halims gefaßt, wie Enver mir erklärt, nur deshalb, um ihm seine Unbefangenheit gegenüber Botschaftern Frankreichs, Rußlands und Englands nicht zu nehmen. Said Halim könne so mit gutem Gewissen lügen. Entscheidende Stimme haben gegenwärtig nur Enver, Talaat Bey, Halil. Diese drei sind stark genug, jederzeit mit Hilfe der Armee eine eigene Aktion Ministeriums zu bilden.

Da die gegenwärtige türkische Regierung sich von allen ihren Vorgängern durch besondere Diskretion auszeichnet, sind die geheimen Vorgänge innerhalb des Ministerium nur ganz wenigen Personen bekannt. Zur Befriedigung des Hungers nach sensationellen Nachrichten aus dem Schoß der Regierung sind hier zahllose Personen tätig. Freie Erfindung und willkürliche Interpretation tritt dabei an die Stelle authentischer Informationen. Ich kann daher nicht dringend genug vor sogenannten zuverlässigen Nachrichten warnen, die häufig im besten Glauben Personen der hiesigen militärischen, kaufmännischen und journalistischen Kreise nach Berlin gelangen lassen. Ich glaube, die Garantie dafür übernehmen zu können, daß solange die Kriegslage nicht wesentlich schlechter für uns wird, die türkische Regierung uns treu bleiben wird. Werden wir entscheidend geschlagen, so werden die Minister successiv von uns abfallen. Schließlich würde als deutscher Freund nur Enver übrig bleiben. Haben wir entscheidende Erfolge, so ist an dem Losschlagen der Türken für uns nicht zu zweifeln. Das allein zuverlässige Barometer der türkischen Stimmung wird immer die Lage auf den Kriegsschauplätzen sein.


[Wangenheim]



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