1914-11-02-DE-003
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Quelle: DE/PA-AA/R 22403
Zentraljournal: 1914-A.H.-2037
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Telegramm-Abgang: 11/02/1914 12:30 AM
Telegramm-Ankunft: 11/02/1914 03:30 AM
Praesentatsdatum: 11/02/1914 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 907
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt (Zimmermann) an das Große Hauptquartier (Jagow)

Telegraphischer Bericht



Nr. 907.

Berlin, den 2. November 1914

Der Kaiserliche Botschafter in Konstantinopel telegraphiert unter Nr. 1183:

„Vertrauensmann meldet:

„Italienischer Botschafter Marquis Garroni sagte mir, dass gestern früh vier Uhr der russische Botschafter bei ihm erschienen sei, um ihm den Schutz der russischen Interessen in der Türkei zu übertragen. Der russische Botschafter zeigte ihm gleichzeitig den Brief, worin er vom Grosswesir Abschied nimmt und um Zustellung seiner Pässe ersucht. Der Russische Botschafter begab sich hierauf nach Yenikeuy zum Grosswesir, der ihn aber krankheitshalber nicht empfangen konnte. Herr v. Giers bat infolgedessen auf schriftlichem Wege um seine Pässe. In der russischen Note wird die Abreise hauptsächlich mit der Beschiessung der zwei offenen Städte Odessa und Theodosia begründet. Inzwischen trat der Ministerrat zusammen. Er hatte zu den erwarteten Unstimmigkeiten im Kabinett geführt. Am Abend empfing trotzdem der Grosswesir Herrn v. Giers und bat ihn, von dem Verlangen der Zustellung der Pässe Abstand nehmen zu wollen, da er eine diplomatische Lösung des Zwischenfalls zu erreichen hoffe. Herr v. Giers erklärte jedoch, kategorische Instruktionen zu haben und in keinerlei Verhandlungen mehr eintreten zu können.

Von anderer gut informierter Seite höre ich, dass noch in der Nacht Herr Bompard bei dem Finanzminister Djavid war, um sich wegen einer Verständigung zu bemühen. Heute [31.10] erklärte Herr Bompard, dass der von Djavid ihm unverbindlich gemachte Vorschlag, der darin gipfelte, dass die Türkei sich entschuldige und evtl. Schadensersatzansprüche in Erwägung ziehe, nicht ausreichend erscheine, um als Basis für Verhandlungen zu dienen.

In der Zwischenzeit trat das Komitee zu einer Sitzung zusammen. Es waren 27 Mitglieder anwesend, 17 davon stimmten einer kriegerischen Aktion zu, 10 andere waren dagegen. Die letzteren Anhänger Djavids und des Grosswesirs. Die Debatten waren lebhaft. Es wurde der Flotte vorgehalten über das Maß hinausgegangen zu sein und die Türkei in ein politisches Abenteuer gestürzt zu haben. Etliche Gegeneinwendungen blieben nicht aus. Gegen Mittag war auch die Lage im Kabinett sehr kritisch: der Grosswesir, der Finanzminister, Arbeitsminister, Handelsminister und Postminister gaben ihre Demission. Das Komité trat nochmals zu einer Sitzung zusammen. Es war dem Komité von Djemal einwandfreies Material über die Flotten-Aktion vorgelegt und vor allem auf die ungeheure Gefahr hingewiesen worden, welche der Türkei gedroht hätte, wenn das russische Minenschiff mit seinen siebenhundert Minen die ihm gestellte Aufgabe ausgeführt hätte. Wenn dies ohne Einschreiten der türkischen Flotte ermöglicht worden wäre, so würden voraussichtlich diejenigen Mitglieder des Kabinetts, welche jetzt Beschwerde erheben, dass die Flotte vorgegangen sei, in das Gegenteil verfallen sein und erbitterte Vorwürfe erhoben haben, dass die Flotte diese furchtbare Tat nicht zu verhindern verstanden hätte. Dieses und andere Argumente übten starke Wirkung aus. Man stellte die Einmütigkeit des Kabinetts her; ein Ausschuss desselben begab sich hierauf zum Grosswesir, an dessen Patriotismus man appellierte, im gegenwärtigen Moment auf seinem Postern zu verharren. Der Grosswesir war auch von anderer Seite bereits genau informiert; er und seine Kollegen zogen die Demission zurück. Djemal Pascha sagte mir, dass die Einigkeit im Kabinett hergestellt sei, und dass dasselbe die Verantwortung für alle Vorgänge in voller Weise übernähme. Doch scheint es, dass die Pforte sich mit dem Gedanken trägt, eine Note an die Grossmächte zu richten, worin sie die Vorgänge im Schwarzen Meer darlegt. Die für die russische Regierung bestimmte Note soll noch den Zusatz des Bedauerns über diese Vorgänge enthalten. Inzwischen ist der russische Botschafter heute Abend mit Sonderzug nach Adrianopel abgereist. Vor der russischen Botschaft waren bereits eine Stunde vorher grosse Menschenmassen angestaut. Berittene Polizei zerstreute sie und hielt die Strasse frei. Es kam zu keinerlei Demonstrationen; auch auf der Bahn verlief alles dank der Umsicht der Polizei auf das korrekteste. Der französische und englische Botschafter haben für heute Abend 9 Uhr ihren Extrazug bestellt.

Ich höre zuverlässig, dass noch vor der Abreise des Herrn v. Giers eine Sitzung der drei Botschafter der Ententemächte beim Französischen Botschafter Herrn Bompard stattgefunden hat. Es wurde beschlossen, der Pforte ein Ultimatum zu übergeben, worin die sofortige Entlassung der deutschen Militär- und Marinemission sowie die Demobilisierung der türkischen Armee verlangt wird. Werden diese Forderungen nicht erfüllt, so solle die Kriegserklärung unmittelbar auf dem Fusse folgen.“

Diesseits nichts weiter veranlasst.


[Zimmermann]



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