1914-12-29-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14085
Zentraljournal: 1915-A-00388
Erste Internetveröffentlichung: 2000 März
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 01/04/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 341
Zustand: A
Letzte Änderung: 04/22/2012


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



Nr. 341
Pera, den 29. Dezember 1914

Aus Anlass eines Berichtes des Kaiserlichen Konsuls in Adana über die der deutschen Sache ungünstige Stimmung unter der armenischen Bevölkerung jener Landesteile habe ich den hiesigen Patriarchen der gregorianischen Armenier über seine Auffassung der einschlägigen Verhältnisse sondieren lassen.

Wie aus den Mitteilungen des Herrn Dr. Büge hervorgeht, herrscht unter den Armeniern seines Amtsbezirkes allgemein die Befürchtung, dass im Falle eines deutschen Sieges die Existenz des armenischen Volkes auf türkischem Boden vernichtet sei; denn Deutschland habe während der Armenierverfolgungen die türkische Regierung unterstützt und in ihrem Vorgehen ermuntert; wenn aber die Türkei in die Hände der Engländer und Franzosen fiele, dann würden endlich die so schwer heimgesuchten Armenier Ruhe finden, u.s.w. Ich habe daher dem Patriarchen versichern lassen, dass die vor Beginn des Krieges eingeleitete Reformaktion für die ostanatolischen Landesteile zwar aufgeschoben, aber nicht aufgehoben sei, und dass ich nach Wiederherstellung des Friedens für die Wiederaufnahme des Reformwerkes eintreten würde, so wie s.Z. die dahin zielenden Schritte der russischen Regierung von uns unterstützt worden seien.

Der Patriarch fand es selbstverständlich, dass infolge des herrschenden Kriegszustandes diese Angelegenheit zurückgestellt sei und vor Beendigung des Krieges nicht wieder in Fluss gebracht werden könne. Für den Augenblick beklagte er das Misstrauen der türkischen Behörden gegenüber den Armeniern und speziell das Los der armenischen Distrikte in der Nähe des Kriegsschauplatzes, namentlich in der Umgegend von Erzerum. Die waffenfähigen Männer im Alter von 20 - 45 Jahren seien eingezogen, die übrigen würden zu Transporten und dergleichen Diensten verwendet, sodass die Dörfer den Übergriffen und Ausschreitungen marodierender Soldaten schutzlos preisgegeben seien. In den übrigen Provinzen mit armenischer Bevölkerung scheine Ruhe zu herrschen, doch lägen infolge der Unterbrechung der Korrespondenzen keine sicheren Nachrichten vor.

Im allgemeinen bemerkte der Patriarch, dass jeder einsichtige Armenier das Verbleiben der Armenier unter türkischer Herrschaft wünsche und den Gedanken eines Anschlusses der betreffenden Landesteile an einen fremden Staat zurückweise; allerdings sei es unbedingt notwendig, dass im Sinne der geplanten Reformen den Armeniern in Ostanatolien die Gleichheit vor dem Gesetze und Schutz von Leben und Eigentum gewährleistet werde.

Auf die Sympathien der Armenier für die eine oder die andere der mit uns im Kriege befindlichen Mächte übergehend, meinte der Patriarch, es sei begreiflich, dass im Grenzverkehr mit dem russischen Gebiete vielfach russische Sympathien eingeschleppt würden. Alljährlich im Frühling zögen tausende von Armeniern nach Russland, um dort zu arbeiten, und kehrten im Herbste mit ihren Ersparnissen in ihre türkische Heimat zurück; da würden dann wohl Vergleiche zwischen der Behandlung, die sie in der Fremde erfahren haben, und ihrer Lage in der Türkei gezogen; wie aber ihr Los sich gestalten würde, wenn sie unter russische Herrschaft geraten sollten, davon hätten sie keine richtige Vorstellung. Während der Armeniermassakres in Erzerum (i.J. 1898) habe der russische Konsul Maximow nicht nur diejenigen Armenier, die im Konsulate Zuflucht suchten, abgewiesen, sondern auch den fanatischen Pöbel durch laute Zurufe zur Fortsetzung der Ausschreitungen angetrieben. Der Patriarch führte noch andere Einzelheiten an und fügte hinzu, dass das Eintreten Russlands für Reformen in TürkischArmenien durch die Rücksichtnahme auf die armenische Bevölkerung im Kaukasus begründet gewesen sei.

Wenn Sympathien für Frankreich vorhanden seien, so sei das die Folge davon, dass in den armenischen Schulen von fremden Sprachen hauptsächlich Französisch gelehrt werde; die Kenntnis dieser Sprache bilde das Medium zur Einführung französischer Ideen und französischer Sympathien. Das Deutsche sei aus Mangel an geeigneten Lehrkräften bisher nur an wenigen Schulen in den Unterricht aufgenommen. Für Amerika seien ausgesprochene Sympathien vorhanden, obwohl die Proselytenmacherei der amerikanischen und englischen Missionare vielfach Anstoss errege. Auf die den Deutschen ungünstige Stimmung und deren Ursachen vermied der Patriarch des näheren einzugehen, doch meinte er, dass die deutsche Politik unter dem Regime Abdulhamids, die als den Armeniern feindlich gilt, durch andere Erwägungen geleitet gewesen sei, und dass jetzt, unter veränderten Verhältnissen, kein Grund vorliege, auf vergangenes und geschehenes zurückzugreifen. Die ausgebreitete und segensreiche Tätigkeit der Kaiserswerther Diakonissen und anderer deutscher Vereine für die Armenier in der Türkei werden vom Patriarchen richtig gewürdigt.

Die vorstehenden Ausführungen des Patriarchen dürften im allgemeinen als zutreffend und auch als aufrichtig gemeint zu erachten sein. Soweit mir bekannt, gehört er selber, ebenso wie die Majorität des derzeitigen "Grossen Conseils" der armenischen Gemeinde, der gemässigten Partei ("ramgavar") an. Allerdings scheint es ausgeschlossen, durch das Patriarchat auf die breitere Masse der armenischen Bevölkerung in deutschfreundlichem Sinne einzuwirken, da die Partei Ramgawar über kein geeignetes Parteiorgan verfügt. Doch dürfte es vielleicht gelingen, das eine oder andere Blatt der anderen Parteien für unsere Interessen zu gewinnen, und ich behalte mir vor, auf diese Angelegenheit zurückzukommen, sobald die Schritte, die ich zu diesem Zwecke veranlasst habe, zu einem greifbaren Resultat geführt haben.


Wangenheim


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