1914-12-29-DE-006
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Quelle: DE/PA-AA/R 20175
Zentraljournal: 1915-A.S.-99
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Praesentatsdatum: 01/01/1915
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Botschafter in außerordentlicher Mission in Rom (Bülow) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



Abschrift

Rom, den 29. Dezember 1914.

Wie ich bereits berichtet habe, glaubt der türkische Botschafter Naby Bey, daß die Türken in vier Wochen am Suezkanal stehen werden. Wenn sie erst in Kairo eingezogen wären, würde sich Egypten erheben. Der jetzt von den Engländern eingesetzte Khedive habe nur angenommen, um für Egypten einen Rest an Freiheit und für seine Dynastie die Zukunft zu retten. Der Botschafter hob wieder hervor, mit welchem Mißtrauen man hier das türkische Vorgehen verfolge, ein Mißtrauen, das von englischer und französischer Seite auf jede Weise genährt werde. Die französische und englische Presse sucht in der Tat den Italienern einzureden, daß ich es als meine Aufgabe betrachte, von Rom aus Italien mit Hilfe von Enver Bey durch allerlei dunkle Machinationen in Tripolis zu lähmen. An derartigen Insinationen beteiligt sich sogar mein alter Freund und Biograph Tardieu. In Wirklichkeit liegt die Sache gerade umgekehrt. Nicht wir suchen in Tripolis Unruhen anzuzetteln, sondern die englische Regierung hat Emissäre türkischer Nationalität entsandt, um dort eine Bewegung zu entfachen in der offenbaren Absicht, zwischen der Türkei und Italien Konflikte herbeizuführen, und so die letztere Macht zur Aufgabe ihrer Neutralität zu zwingen. Ich höre übrigens, daß Sir Rennel Rodd und Herr Barrère wegen des türkischen Vorgehens gegen Egypten bei Herrn Sonnino gemeinsame Vorstellungen erhoben haben, teils um dieser Demarche mehr Nachdruck zu geben, teils um der italienischen Regierung die unerschütterliche Solidarität der Westmächte vor Augen zu führen. Naby Bey will über Herrn Sonnino nicht klagen, den das türkische Vorgehen zwar mit Mißtrauen erfülle, der ihm doch im Großen und Ganzen mit Loyalität entgegenkomme. Anders stehe es mit dem Kolonialminister Herrn Ferdinand Martini, der ganz im Fahrwasser der Tripleentente segle und den Türken überall Schwierigkeiten zu machen trachte. Ich werde versuchen, ob sich Herr Martini, der ein politischer Kondottiere übelster Sorte ist, zur Raison bringen oder gewinnen läßt.

Herr Sonnino sagte mir gelegentlich, er säe mit großer Spannung der weiteren Entwicklung der Dinge am Suezkanal entgegen. Dort kämpfe England um Sein oder Nichtsein. Sein Prestige stehe auf dem Spiel in jenem historischen Erdenwinkel, wo seit den Pharaonen und Ptolemäern schon mehr als ein Weltreich zugrunde gegangen wäre. England bereite sich aber ernstlich auf den Kampf vor. Die hier maßgebenden Leute glauben bisher nicht, daß die Türken Egypten erobern werden.

Wie ich vor meiner Abreise von Berlin dem Herrn Staatssekretär erzählt zu haben glaube, hörte ich im Dezember aus Italien von zwei zuverlässigen Seiten, die nicht in Verbindung untereinander stehen, es sei zwischen der italienischen Regierung und den Westmächten schon ein Abkommen dahin getroffen worden, daß Italien, wenn die Türken den Suezkanal erreichten, unter dem Vorwande der gestörten Verbindungen mit Erythräa und der infolge der Entfaltung der grünen Fahne des Propheten Tripolis und der Cyrenaika drohenden Gefahren mit der Türkei Händel anfangen und so ohne das Odium eines direkten Vertragsbruchs gewissermaßen automatisch an die Seite der Westmächte gleiten solle. Einer meiner Gewährsmänner schrieb mir damals: „Geschickt wird jetzt bereits im italienischen Volk die Stimmung, die ja von Lybien her den Muselmännern abhold ist, gegen die Türkei geschürt und man versucht ebenso wie vor vier Jahren, die Katholiken gegen die Ungläubigen aufzubringen. Der vom Sultan gepredigte heilige Krieg wird als Kampf des Islam gegen das Christentum hingestellt. Ein so aufrichtiger Freund Deutschlands, wie der General Baldissera, der sich bis zur Treppe schleppte, um mir noch Worte der Neigung für unser Vaterland nachzurufen, beklagte den Bund Deutschlands mit der Türkei. Er hat sicherlich Unrecht, aber seine Empfindung ist bezeichnend für das, was sich durch Anschürung antitürkischer Gefühle in Italien erreichen läßt.“ Was die Möglichkeit eines italienischen Vorgehens gegen die Türkei angeht, so könnte eine solche Aktion den hiesigen Staatsmännern unter Umständen als die ungefährlichere erscheinen. Ein Anlaß dürfte auch nicht schwer zu finden sein, obgleich die Türkei bestrebt ist, Italien in jeder Weise entgegenzukommen. Die energische Sprache, die anläßlich des vermutlich von englischer Seite hervorgerufenen Zwischenfalls von Hodeida hier geführt wurde, beweist, daß eine plötzliche Verschlechterung der türkisch-italienischen Beziehungen durchaus möglich ist. Andererseits sagen sich die italienischen Staatsmänner doch wohl, daß in diesem Falle ein österreichisches Heer aus Tirol hervorbrechen könnte. Sie würden die Aktion gegen die Türkei mit der Flotte und einem Teil der in Lybien befindlichen neuerdings vermehrten Truppen führen und den Krieg im Norden mit der ganzen Kontinentalarmee wagen, die zu diesem Zwecke bereits zu einem bedeutenden Teil gegen die österreichische Grenze vorgeschoben worden ist. Die italienische Regierung wird also zunächst wohl abwarten, ob es den Türken gelingt, siegreich in Egypten einzudringen. Gelingt der Türkei dies Unternehmen, so dürfte Italien ihr gegenüber ruhig bleiben, mißlingt es, so hätte Italien in Lybien von der Türkei nichts mehr zu befürchten noch zu hoffen. Die türkische Gefahr wäre für Italien eliminiert, und dieses könnte sofort eine schärfere Sprache gegen Österreich führen, falls sich Österreich nicht bis dahin mit Italien arrangiert hat. Als Symptome, daß Italien in der einen oder anderen Richtung mit einer Aktion in nicht allzu ferner Zeit rechnet, möchte ich erwähnen: 1) die unermüdliche und umfassende Fertigstellung eines Heeres von rund 1 200 000 Mann; 2.) die Absicht, die Dislozierung der Truppen durchaus geheim zu halten. Herr Salandra hat neulich ein Zirkular an die Präfekten erlassen, in dem auf die Strafen hingewiesen wird, die jede Verbreitung militärischer Nachrichten bedroht; 3.) die innere Anleihe von einer Milliarde; 4.) die offenbare Absicht der Regierung die Drangsalierung des italienischen Handels durch die englische Flotte nicht zu ernst zu nehmen, um zu verhindern, daß die bereits erregte Stimmung in den großen Hafenstädten eine allgemeine Kampagne gegen England hervorruft.

Ich habe in meinen Unterredungen mit Herrn Sonnino und anderen italienischen Politikern ihnen die Gründe dargelegt, aus denen das türkische Vorgehen für Italien nicht nur keine Gefahr bedeute, sondern ihm mannigfache Vorteile verspreche. Nicht allein die bekannten vier Punkte, mit denen sich Italien bereits hat bezahlen lassen, kämen in dieser Beziehung in Betracht, sondern auch die Hoffnung auf den Dodekanes und auf wirtschaftliche Konzessionen in Kleinasien, wo Italien, falls es neutral bleibt und der Dreiverband geschlagen wird, wohl gern die Erbschaft Englands an der Smyrna-Aidin-Bahn antreten würde. Vor allem aber könne Italien jetzt endlich die seit 20 Jahren und länger unerfreulichen Beziehungen zwischen der Halbinsel und der Hohen Pforte sanieren. Erst durch eine solche Verbesserung der italienisch-türkischen Beziehungen würde Italien seines Besitzes in Tripolis und der Cyrenaika wirklich froh werden. Namentlich Herr Sonnino hörte meine Ausführungen aufmerksam an, betonte aber immer wieder, daß das türkische Vorgehen für Italien nicht bequem sei und es großer Umsicht und Vorsicht von türkischer Seite bedürfen werde, um in Nordafrika wie in Kleinasien unerwünschte Zwischenfälle zu vermeiden.


[Fürst von Bülow]



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