1915-01-10-DE-002
Deutsch :: de
Home: www.armenocide.net
Link: http://www.armenocide.net/armenocide/ArmGenDE.nsf/$$AllDocs/1915-01-10-DE-002
Quelle: DE/PA-AA/R 20175
Zentraljournal: 1915-A.S.-63
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Praesentatsdatum: 01/10/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: 213
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Bericht eines (ungenannten) deutschen Informanten über Serbien





Anlage zu Nr. 213

Seit meinem letzten Schreiben haben sich hier Wunderdinge vollzogen. Vor 14 Tagen waren die Oesterreicher über Valievo und Uschitza bis Poschega und Tschatchak vorgedrungen, während Kragujevatz von G. Milanovatz aus bedroht wurde. Gleichzeitig drang der linke Flügel gegen Mladenovatz vor, um die Bahnverbindung zu durchschneiden. Der Rückzug der Serben war allgemein. Belgrad wurde evakuiert und erst 36 Stunden später von den österr. Truppen besetzt. Allgemein sprach man davon, dass die serb. Armee durch den Mangel an Artilleriemunition gezwungen sei, den Kampf aufzugeben. Etwas Munition war zwar unterwegs und in Nisch angelangt, als die Bahnbrücke bei Geogheli von bulgarischen Banden gesprengt wurde, sodass weitere Transporte von Saloniki unterbunden waren. Man erzählte, das Oberkommando habe jeden Mut verloren, weil die Truppen nicht mehr kämpfen wollten. Die radikalen Führer sahen den Zusammenbruch ihrer Herrlichkeit herannahen und appellierten an Russland, damit es die Versöhnung mit Bulgarien durchsetze auf der Basis des Vertrages vom Jahre 1912, laut welchem Bulgarien 200 000 Mann gegen Oesterreich hergeben sollte. Gleichzeitig opferte Paschits seinen Genossen Protits, den hartschädeligen Minister des Innern und appellierte an die Opposition zur Bildung eines Koalitionskabinetts, weil er die Verantwortung für evtl. an Bulgarien abzutretende Territorien nicht allein seiner Partei aufhalsen wollte. Es traten zwei Jungradikale und der Fortschrittler Woja Marinkovitsch in das Kabinett ein. Der liberale Ribaratz, auf den Paschits ebenfalls gerechnet hatte, weigerte sich mitzuwirken und zog es vor, seine Partei in Reserve zu halten. Nisch und die südlicher gelegenen Städte wurden von hunderttausenden Flüchtlingen aus dem Westen und Norden überschwemmt. Die Spitäler waren schon längst überfüllt, es wurden täglich viele Verwundete mit Verband nach Hause geschickt, um den neuankommenden Platz zu machen. Tausende von Verwundeten und Krüppel nebst bettelnden Frauen und Kindern füllen die Straßen an: ein Bild des Jammers und des Elends, das durch das Vordringen des Feindes nur noch grösser geworden wäre. Die Regierung erwog schon die Uebersiedelung nach Uesküb, einzelne Privatleute fuhren rechtzeitig nach Saloniki, aus Furcht, sie würden später im Gedränge nicht mehr fortkommen. Die Verzweifelung war eine allgemeine, als man erfuhr, König Peter sei zum Oberkommando gefahren. Der alte Greis, den seit Monaten niemand mehr gesehen noch gesprochen hatte, wirkte Wunder; seine Ansprache an die Truppen hob wieder deren Stimmung und tags darauf ging die déroute serbische Armee wieder zum allgemeinen Angriff über, der eben gestern mit einer völligen Niederlage der Oesterreicher geendet hat. Innerhalb 10 Tagen wurde deren rechter Flügel über die Drina und die Save geworfen, das Zentrum wurde auf dem Kosmaigebirge zertrümmert, während der über Belgrad bis Ralja und Mladenovatz vorgedrungene linke Flügel nach Belgrad zurückgedrängt und dort über die Donau geworfen wurde. Es wurden an diesen Tagen zumindest 30 000 Mann und 200 Offiziere gefangen genommen, bei 200 Geschützen mit Munition, über 100 Mitrailleusen und ein ausgiebiger Train erbeutet. Zur Stunde ist kein österr. Soldat mehr in Serbien, ausser ca. 75 000 Mann Gefangener, für die man keine Unterkunft mehr findet. Dieselben werden gut aufgenommen, von der Bevölkerung mitleidig behandelt und von dem Militär als Kameraden und Brüder angesprochen, weil sie zumeist Slaven sind und serbisch sprechen. Heute haben sich 800 Serben und Kroaten in die serb. Gendarmerie aufnehmen lassen, um nach Neuserbien zu gehen, hauptsächlich an die albanische Grenze und in die südlichen Kreise, die noch immer von den bulgarischen Banden bedroht werden. Viele dieser Gefangenen rechnen nicht mehr damit, nach Oesterreich zurückzukehren und wünschen den Zerfall der Monarchie. So hat sich meine Voraussagung, dass sich Deutschland auf das österreichische Heer nicht wird verlassen können, wenigstens in Serbien glänzend bewahrheitet, denn die Niederlage unseres Verbündeten ist eine ungeheure. Es haben sich sonach das Zögern bei Belgrad und der Einbruchsplan von der Drina aus bitter gerächt. Die Herren in Wien, besonders die Wiener Diplomaten, hörten aber stets in Serbien das Gras wachsen und wussten alles besser. Wahrhaft eine Schande für ein grosses Reich.

Wie schon früher gesagt, verfügt Serbien mehr als jedes andere am Kriege beteiligte Land reichlich über Lebensmittel. Es hat zwar Mehl aus Rumänien bezogen, weil die grossen Belgrader Mühlen bei Beginn vom Feinde vernichtet worden sind; auch Hafer wurde eingeführt, dagegen schickt man sich an, Gerste an Griechenland abzugeben und wurden weisse Bohnen (Fiesolen) über Saloniki nach Triest und Frankreich ausgeführt. Mais gibt es für 2 Jahre. Fleisch ist billig und wurde etwas gesalzenes Schweinefleisch nach Frankreich abgegeben; die Regierung weigert sich jedoch, die Ausfuhrerlaubnis zu geben. Geflügel und Eier sind ebenfalls billiger als sonst, weil auch darin die Ausfuhr unterbunden ist. Nur Kolonialwaren sind teuer, weil sie über Saloniki eingeführt werden und bereits mit dem griechischen Zoll belastet sind. Die deutsche Zuckerfabrik in Belgrad (Regensburg) soll anlässlich des Rückzuges der Serben aus Belgrad, von den Komitadschis vernichtet worden sein. Näheres über den Befund der Stadt ist noch nicht bekannt. Die Bahnverbindung mit Belgrad ist unterbrochen, weil die Serben beim Herannahen des Feindes den Tunnel und den Viadukt bei Ralja gesprengt haben, womit sie nur sich selbst ungeheuren Schaden verursacht habe.

Die Staatskasse bezahlt noch immer alle Anschaffungen im Auslande prompt in Gold und wurden im Inland noch keinerlei Requisitionen vorgenommen. Die Notenzirkulation beträgt ca. 150 Millionen Silbernoten, mit einer Golddeckung von 115 Millionen. Das Agio stieg in den kritischen Tagen von 25 auf 50 %, um alsbald auf den Erfolg der serb. Waffen wieder auf 20 bis 25 % zurückzufallen. Ausser dem ausserordentlichen Heereskredit von Frs. 90 000 000, der am 29. Juli votiert worden ist, hat die Regierung noch Frs. 110 000 000 am 12/25. November genehmigt erhalten. Ueber die Flüssigmachung der Kredite, wo und in welcher Art, ist absolut nichts Bestimmtes zu erfahren. Ich glaube aber, dass die Ententemächte dies besorgen. Auf diese Weise konnten auch alle fälligen Kupons in Paris im vorhinein gedeckt werden. Es wurde die gesamte Dotation per 1. Januar 1915 der 4 % Rente v. J. 1895 in Höhe von Frs. 7000000 bei der Ottomanbank in Paris bestellt, während Frs. 500000 für die Einlösung in Serbien hier zurückbehalten werden. Was die Dotation für die Fälligkeit per 1. Dezember der 4 1/2 % Rente v. J. 1909 betrifft, wollen Sie gefl. zur Kenntnis nehmen, dasss dieselbe rechtzeitig bestellt worden ist, und bleibt der auf Deutschland entfallende Betrag von Frs. 937500 bei der Ottomanbank in Paris deponiert, da dessen Ueberweisung nach Berlin nicht gestattet ist.



Copyright © 1995-2024 Wolfgang & Sigrid Gust (Ed.): www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved