1915-02-24-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 14085
Zentraljournal: 1915-A-06915
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Praesentatsdatum: 02/25/1915 a.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


"Vorwärts"

"Das Armenische Problem"



In der Reihe der Forderungen, die in der Dumasitzung vom 9. Februar von den Vertretern der Regierung und der bürgerlichen Parteien als Ziele der russischen auswärtigen Politik proklamiert wurden, steht neben der in allen Reden wiederkehrenden Forderung der Erwerbung der Meerengen und Konstantinopels an erster Stelle die Forderung der definitiven Regelung der armenischen Frage. Die russische Regierung hat diese Frage für so bedeutsam gehalten, daß sie kurz vor der Dumasitzung ein Orangebuch herausgab. Der Minister des Äußeren Ssasonow erklärte hierzu nach dem amtlichen Berichte folgendes:

"Die kaiserliche Regierung war in den letzten Jahren fortgesetzt bestrebt, die Lage der türkischen Armenier zu erleichtern, geleitet sowohl von den uneigennützigen Ueberlieferungen der russischen Politik, wie auch von unseren staatlichen Interessen ... Das russisch-türkische Einvernehmen vom 26. Januar (8. Februar) 1914 ist ein historischer Akt, durch dessen Unterzeichnung die Pforte unsere ausschließliche Stellung in der armenischen Frage bestätigt hat. Nach der Beendigung des Krieges wird diese ausschließliche Stellung von der kaiserlichen Regierung in einer für die armenische Bevölkerung günstigen Richtung ausgenutzt werden."

Das Orangebuch über die armenische Frage enthält eine Sammlung von diplomatischen Schriftstücken über die armenische Reformfrage aus der Zeit vom 26. November (9. Dezember) 1912 bis zum 10./23. Mai 1914. Bekanntlich wurde die armenische Reformfrage im Dezember 1912 von der russischen Regierung aufgerollt, als die Niederlagen der Türkei im Balkankrieg einen Vorstoß nach Anatolien als aussichtsreich erscheinen ließen.

Aus dem im russischen Orangebuch veröffentlichten Material geht hervor, daß die türkische Regierung zur Vermeidung größerer Schwierigkeiten von der Seite Rußlands sich bereit erklärte, das dringend notwendige Reformwerk in Armenien in Angriff zu nehmen. Die Regierungen in Paris, London, Berlin, Wien und Rom erklärten sich bereit, im Verein mit der Petersburger Regierung die Grundlagen der armenischen Reformen zu erörtern und der Pforte praktische Vorschläge zu unterbreiten. Die deutsche Regierung knüpfte - völlig im Einklang mit der Richtung ihrer Orientpolitik - hieran nur die Forderung, daß man bei der Erörterung der armenischen Reformen den Grundsatz der territorialen Einheit des türkischen Reiches streng einhalten solle. Nach längeren Verhandlungen, in denen die gegensätzlichen Tendenzen der russischen und der deutschen Politik in Vorderasien ziemlich deutlich zum Vorschein traten, kam schließlich am 26. Februar (8. Februar) 1914 ein Einvernehmen zwischen Rußland und der Türkei zustande, wonach die Reform der Verwaltung in Türkisch-Armenien unter der Leitung zweier europäischer General-Inspektoren in Angriff genommen werden sollte.

Aus der ganzen Fassung des Orangebuches über die armenische Frage geht hervor, daß es der russischen Regierung vor allem darum zu tun ist, ihre Bemühungen um die Einführung von Reformen in Türkisch-Armenien, die nichts weniger als uneigennütziger Natur waren, in ein helles Licht zu rücken. Denn Armenien bedeutet für den russisch-türkischen Kriegsschauplatz in Asien dasselbe wie Polen für den Schauplatz der Kämpfe mit Deutschland und Österreich-Ungarn. Darum führt man den Armeniern die Verdienste Rußlands um ihre "Befreiung" recht eindringlich vor Augen. Dieses Vorgehen der russischen Regierung wird noch verständlicher, wenn die Wandlungen in der armenischen Frage während der letzten Monate berücksichtigt werden.

Es hat nämlich in den letzten Monaten eine sehr wichtige Auseinandersetzung über die Schicksale Armeniens in der russischen Presse stattgefunden. Während die Vertreter der großrussischen Reichspolitik für die "Annexion" Armeniens und seine Angliederung an Rußland eintraten, stellte sich der größte Teil der armenischen Presse ("Orizon", "Arev" u.a.) und sehr einflußreiche armenische Politiker auf einen anderen Standpunkt. So erklärte der linksliberale armenische Dumaabgeordnete Adshemoff, ein namentlich in Südrußland sehr einflußreicher Politiker, im "Petrogradski Kurjer":

"Die Türkei kann und darf auch nach dem Kriege nicht aufhören zu existieren.... Weder Rußland, das viele Millionen Mohammedaner als Untertanen zählt, noch England können sich für eine Herabsetzung des Kalifats erklären ... In der besiegten Türkei (als russischer Politiker geht Adschemoff naturgemäß von dieser Voraussetzung aus. D.R.) müssen die Bestrebungen der sie bevölkernden einzelnen Nationen nach einer selbständigen Existenz ihre Verwirklichung finden."

Noch bestimmter erklärte sich der Sekretär des armenischen Komitees in Moskau, K. B. Kussikjan:

"Türkisch-Armenien hat das Recht auf eine selbständige Existenz ... Die innere Gestaltung Türkisch-Armeniens ist Sache der türkischen Armenier ... Nach Beendigung des Krieges wird man die Wünsche und Meinungen der türkischen Armenier feststellen und das Leben des Volkes im Einklang mit seinen Wünschen neu ordnen müssen."

Gegen diese Erklärungen maßgebender armenischer Politiker, die sich um zahlreiche andere vermehren ließen, hat die russische Presse mit wenigen Ausnahmen schroff Stellung genommen. Wir gehen kaum fehl, wenn wir als die Meinung der russischen Regierungskreise und der auf dem Boden der großrussischen Reichsidee stehenden liberalen Politiker die dagegen zielenden Äußerungen des Kadettenführers Professor Miljukow in der "Retsch" anführen:

"Es wird von den armenischen Politikern der Einwand erhoben: wir können jetzt nicht offen von der Vernichtung der Türkei sprechen. Sonst setzen wir, im Falle kriegerischer Mißerfolge oder selbst in Erwartung kriegerischer Erfolge, die Existenz der Armenier im Bereiche der Türkei aufs Spiel ... Ich würde die Notwendigkeit einer solchen zweideutigen Formel verstehen, wenn die armenischen Politiker selbst die Notwendigkeit der Erhaltung der türkischen Souveränität nicht in ganz anderem Sinne erläuterten und bewiesen, daß die Erhaltung der Türkei für sie selbst notwendig und wichtig ist und ihren nationalen Interessen vollkommen entspricht ... Ich sehe mich zu der Schlußfolgerung gezwungen, daß die Idee der Erhaltung der türkischen Souveränität kein zufälliger und vorübergehender, sondern ein innerlich begründeter und fester Bestandteil des nationalen Programms (der Armenier) ist."

Gegen diesen Standpunkt der armenischen Politiker, die den Mut und die Konsequenz haben, ihn trotz aller Anfeindungen in der russischen Presse zu vertreten, fährt nun Professor Miljukow sein schwerstes Geschütz auf:

"Ich sage es offen - erklärt er - ich betrachte diesen Standpunkt sowohl für die armenischen als auch für die russischen Interessen als schädlich und gefährlich und halte eine entsprechende Revision des nationalen Programms (der Armenier) für unbedingt notwendig."

Daß diese "Mahnung" Erfolg haben wird, erscheint uns allerdings zweifelhaft. Denn für die Stellungnahme der Armenier ist, ungeachtet starker russophiler Neigungen in ihrer Mitte, die in der tiefen Rückständigkeit des türkischen Staatslebens immerfort neue Nahrung fanden, die Erwägung maßgebend, daß die wirtschaftliche und kulturelle Entwickelung Armeniens (mit Einschluß des als Klein-Armeniens bezeichneten Kilikiens an der Mittelmeerküste) weit eher gesichert ist, wenn es unter türkischer Oberhoheit eine weitgehende Autonomie erlangt, als wenn es von Rußland verschluckt und in eine Brücke nach den so heißbegehrten Meerengen verwandelt wird.

Wir haben diese sich kreuzenden Pläne und Absichten über die künftige Gestaltung Armeniens so ausführlich geschildert, nicht weil wir sie als letztes Wort in diesem schwierigen und verworrenen Problem betrachten, sondern weil sie für die Beurteilung dieses Problems von Bedeutung sind. Sicherlich hängt auch das Schicksal dieser Frage vom Ausgang des gewaltigen Ringens auf den Schlachtfeldern Europas und Asiens ab. Aber namentlich die Arbeiterpresse hat die Pflicht, die Probleme der kleinen "staatenlosen" Nationen, die nur allzu oft den Herd internationaler Konflikte bilden und bei ihrer Beilegung wie hohle Nüsse verschachert werden, aufmerksam zu verfolgen, um gegebenenfalls bei der Gestaltung der Schicksale dieser Nationen im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker und ihrer ungestörten Entwicklung wirken zu können.



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