1915-05-08-DE-008
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Quelle: DE/PA-AA/R 20184
Zentraljournal: 1915-A.S.-2250
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Praesentatsdatum: 05/13/1915 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 287
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Telegraphischer Bericht



Nr. 287.

Pera, den 8. Mai 1915

1 Anlage.

Unter Bezugnahme auf Euer Exzellenz Telegramm Nr. 434. {A.S. 914}

Das Material betreffend die Beziehungen der hiesigen revolutionären Oppositionspartei zur englischen und französischen Regierung, bei denen Herr Venizelos den Vermittler gespielt hat, wird zur Zeit von dem Polizeipräfekten Bedri Bey, dem Sekretär des Komitées Union et Progrès, Midhat Schukri Bey und dem Sekretär des Senats Muktab Bey bearbeitet. Letzterer hat unserem Vertrauensmann einige Mitteilungen über das bisherige Ergebnis der Enquete gemacht, die in dem beifolgenden Memoir zusammengestellt sind.

Die betreffenden Dokumente werden mir demnächst zur Verfügung gestellt werden.


Wangenheim
Anlage

Der am Großwesir Mahmud Chefket Pascha im Mai 1913 verübte Meuchelmord war für die türkische Opposition nicht von den erwarteten Folgen begleitet. Ihre Führer, an deren Spitze Cherif Pascha, der gewesene türkische Gesandte in Stockholm, stand, vereinigten sich in Paris, um über neue Mittel und Wege zu beraten, die türkische Staatsordnung aus dem Sattel zu heben. Sie organisierten in Paris ein „Bürger-Komitee“. Sein Zentralsitz verblieb in Paris, während Filialsitze in Athen, Kairo, Alexandrien, Odessa und Salonik errichtet wurden. Besondere Bedeutung gab man der Filiale in Athen. Man rechnete daselbst einerseits auf die Unterstützung der griechischen Regierung andererseits hoffte man die damals noch in griechischer Gefangenschaft befindlichen türkischen Offiziere für die Pläne der Opposition zu gewinnen. Zu diesem Zweck delegierte Cherif Pascha den Obersten Sadik Bey und den Abgeordneten der türkischen Kammer Ismail Bey aus Gumuldjina nach Athen. Beide befanden sich bereits außer Landes und waren wegen Mitschuld am Morde an Mahmud Chefket Pascha zum Tode verurteilt worden. Hier in der türkischen Hauptstadt hatte man von diesen Vorgängen durch einen zufälligen Umstand Kenntnis erhalten. Mehrere der Polizei bekannte Personen waren auf der Suche nach einem in der Nähe des rückwärtigen Ausgangs der russischen Botschaft gelegenen Hause. Es sollte gemietet werden. Dieser scheinbar nebensächliche Umstand diente der Geheimpolizei als erstes Mittel, um einem der wuchtigsten jemals gegen die türkische Staatsordnung geplanten Komplotte auf die Spur zu kommen.

Die Hohe Pforte ist zur Zeit mit der Ausarbeitung des gesamten ihr in die Hände gefallenen absolut einwandfreien Materials beschäftigt. Sie wird voraussichtlich in einem nahen Zeitraum dieses Material, welches eine tiefen Einblick in die verwerflichsten Doktrinen gestattet, mit denen die Gegner der Türkei diese in den Abgrund stürzen wollten, der Öffentlichkeit übergeben.

Während die Chefs der türkischen Opposition an der äußeren Organisation des „Bürger-Komitees“ arbeiteten, gelang es Cherif Pascha, mit einem gewissen Midhat Effendi in Verbindung zu treten, um ihm die Leitung des Komitees in Konstantinopel anzuvertrauen. Midhat galt immer als guter Patriot. Die Gegnerschaft, welche er der Partei „Union et Progrès“ entgegenbrachte, war frei von persönlichen Ambitionen. Midhat Effendi, welcher ein Jahr früher den Sturz der Partei Union et Progrès hauptsächlich veranlaßt hatte, empfand später Gewissensbisse, weil nach seiner Ansicht die Kabinette Muktar Pascha und Kiamil Pascha die Türkei ins Unglück gestürzt hatten. Nach der Wiedereinnahme Adrianopels durch die türkischen Truppen und dem türkischen Frieden mit Bulgarien kam Midhat Effendi in Fühlung mit der Komitee-Partei. Das wußte Cherif Pascha in Paris allerdings nicht. Er ließ Midhat wissen, daß die Lage in der Türkei eine Übereinstimmung aller patriotischen Männer notwendig mache und in erster Linie auf seine Mitwirkung gezählt würde. Midhat beabsichtigte zuerst, das Anerbieten Cherifs abzulehnen. Da er sich aber sagte, daß Cherif trotzdem auf einen Umsturz in der Türkei hinwirken würde, nahm er das Anerbieten an. Er hatte sich jedoch vorher mit der Staatspolizei in Verbindung gesetzt, um mit ihr gemeinsam hinter die Ziele Cherifs zu gelangen. Wir sehen Midhat als Hauptagenten des revolutionären Komitees in Konstantinopel, während er in Wirklichkeit ein solches der türkischen Staatspolizei ist. Midhat empfängt jede Woche Instruktionen aus Paris. Er antwortet sofort in Übereinstimmung mit der Staatspolizei. In Paris wähnt man, daß in Konstantinopel ein Revolutions-Komitee besteht, zusammengesetzt aus zahlreichen einflußreichen Mitgliedern, Militär und Zivil, und daß Midhat unter den Augen der Regierung die Pläne des Bürger-Komitees ausführt.

Das Pariser Komitee hält es für notwendig, für die Ausführung ihrer finsteren Absichten Männer der Tat zu gewinnen. Zu diesem Zweck tritt man mit Sabah Gulian, Chef der armenischen Revolutionspartei der Hintschakisten in Verbindung. Gulian besitzt alle notwendigen Elemente. Menschen, Waffen und Bomben. Aber er braucht Geld. Zu diesem Zweck wird eine Verbindung mit Lord Kitchener, der damals Vertreter Englands in Egypten war, hergestellt. Kitchener, ein praktischer und die orientalischen Kniffe scheinbar gut kennender Mann, fängt zu handeln an. Er erklärt kurz, wenn es dem Komitee gelingt, Talaat zu ermorden, so würden sie eine Belohnung von 20000 Pfund erhalten. (Darauf bezügliche authentische Briefe liegen auf der Pforte.) Enttäuscht über Kitchener wenden sich die Vertrauensmänner des Bürger-Komitees nach Griechenland. Ein früherer Offizier Husni Bey, ebenfalls Agent der türkischen Staatspolizei, verhandelt in Athen mit Nikolaides, Sektionschef im Ministerium des Äußern. Nach einiger Zeit reist Nikolaides im Auftrage der griechischen Regierung nach Paris, wo er eine Zusammenkunft mit Cherif Pascha und dem zu diesem Zweck von Konstantinopel hingereisten Midhat Effendi hat. Man schließt ein Übereinkommen. Die griechische Regierung überweist dem Komitee 10000 Pfund sowie eine Anzahl Waffen. Der griechische Ministerpräsident Venizelos erteilt der griechischen Gesandtschaft in Paris und Konstantinopel Weisungen, sich zur Disposition des Bürger-Komitees zu halten.

Von diesem Tag an erledigen die Verschwörer alle ihre Korrespondenzen durch Vermittlung obiger Gesandtschaften im Wege von chiffrierten Depeschen.

Um die Täuschung weiter aufrecht zu halten, entwickelt Midhat Effendi eine außerordentliche Aktivität. Jede Woche sendet er die Bilanz seiner Arbeit, die Namen angeblicher Mitglieder, ihre Tätigkeit und die ihm von den einzelnen Mitgliedern zur Verfügung gestellten Geldmittel. Die Komödie wird meisterhaft weiter gespielt.

Der allgemeine Krieg, in den die Türkei hineingezogen wird, hat seinen Anfang genommen. Die Chefs des Bürger-Komitees verlegen im November ihren Sitz von Paris nach Athen. Die Aktivität des Komitees leidet nicht unter den neuen Verhältnissen. Um Zeit zu gewinnen, sendet Midhat ihnen aber einen Brief nach Athen, worin er ihnen die Schwierigkeiten auseinandersetzt wegen der allgemeinen Mobilmachung und der damit zusammenhängenden Entfernung einer Reihe von Offizieren, die der Verschwörung angehören, gegenwärtig den Hauptschlag auszuführen. Midhat versichert, die deutschen Offiziere in Konstantinopel würden die Regierung um jeden Preis verteidigen. Es sei daher geboten, bevor man an die eigentliche Verschwörung herantritt, die deutschen Offiziere zu töten oder sonstwie unschädlich zu machen.

Um die in Athen weilenden Chefs der Opposition nicht hoffnungslos zu stimmen und um andererseits nicht den Faden zu verlieren, wird ihnen als Ausfluß der Konstantinopler revolutionären Vereinigung durch Midhat folgender Vorschlag unterbreitet: Die Türkei befindet sich im Krieg mit dem Dreiverband. Wenn wir jetzt eine Revolution unternehmen und das gegenwärtige Deutschland alliierte Kabinett stürzen, bleiben wir naturgemäß ohne Stützpunkt. Der Dreiverband wird aus der dadurch geschaffenen Lage Nutzen ziehen und die Türkei vollkommen zertrümmern. Was geschieht aus uns dann? Kann man von England und seinen Alliierten die gezeichnete Verpflichtung bekommen, welche dann die Integrität der Türkei garantiert?

Dieser Vorschlag wird durch Vermittlung der griechischen Gesandtschaft in Konstantinopel nach Athen mitgeteilt. Ministerpräsident Venizelos erklärt die Rolle des ehrlichen Maklers übernehmen zu wollen. Es beginnen diplomatische Verhandlungen zwischen der englischen und französischen Gesandtschaft in Athen und dem Revolutions-Komitee in Konstantinopel, eine unvergleichliche Maskerade, bei der Grey, Pichon, Delcassé und Venizelos eine tragi-komische Rolle spielen.

Nach langer Korrespondenz zwischen London, Paris und Athen nimmt die englische und französische Regierung die Vorschläge der Revolutionäre an. Das heisst, mit ihrer Hilfe das unionistische Kabinett zu stürzen. Die Opposition übernimmt dann das Ruder. Der Dreiverband schließt Frieden mit der Türkei und diese öffnet sofort die Meerengen. Die beiden Dreadnoughts Osmanié und Reschadié werden der Türkei sofort zurückgegeben. Die beiden Mächte lehnen aber ab, dem Komitee, welches keine offizielle Eigenschaft besitzt, ihre Unterschriften zu geben. Zur Beseitigung dieser Schwierigkeiten erklären sich die beiden Mächte bereit, ihre Unterschriften dem griechischen Ministerpräsidenten zu geben. Während dieser letztere die Verpflichtung dem Komitee gegenüber übernimmt. Das Komitee lehnt diese Lösung ab. Es besteht darauf, daß die Zeichnung ihm von den Mächten direkt anvertraut wird. Venizelos durch Vermittlung von Pannas und die übrigen Mitglieder der griechischen Gesandtschaft von Konstantinopel wenden ihre ganze Diplomatie auf, um das Komitee zur anderen Ansicht zu überzeugen. Dies verharrt aber auf seinem einmal eingenommenen Standpunkt.

In der Zwischenzeit wurden die Russen an den masurischen Seen geschlagen. Rußland übermittelt Frankreich eine Note, die Öffnung der Meerengen gebieterisch fordernd. „Der Zar wird sich genötigt sehen, mit Deutschland Frieden zu schließen“, wenn die Verbündeten Rußlands dies nicht zu tun vermögen. Venizelos setzt die kritische Lage Frankreichs dem Delegierten des Revolutions-Komitees in Athen Husni Bey auseinander, und bezeichnet es als unbedingte Notwendigkeit, das türkische Kabinett so schnell wie möglich zu stürzen. Husni berichtet an Midhat. Immer durch Vermittlung der griechischen Gesandtschaft. Die Antwort an Venizelos von Konstantinopel blieb aber aus. Das erste Bombardement der Dardanellen war nur als einfache Demonstration Frankreichs und Englands gedacht und wurde vorher dem Revolutions-Komitee in Konstantinopel mit Bezeichnung des genauen Tages und der Stunde angegeben. Der Dreiverband wartete immer auf den Sturz des Kabinetts und auf die nachherige Zeichnung des Friedens mit der Türkei. Frankreich hatte außerdem den Prinzen Sabah Eddin mit einer bedeutenden Summe Geldes ausgerüstet, um seinerseits auf dem türkischen Hof zu wirken. Dieser Prinz hatte zu diesem Zweck ebenfalls seinen Wohnsitz von Paris nach Athen verlegt. Da von Konstantinopel weder eine Antwort kam und auch die erwünschte Revolution ausblieb, schlug der englische Gesandte in Athen eine neue Strategie ein. Er machte Venizelos den Vorschlag, gemeinsam nach den Dardanellen und Konstantinopel zu marschieren, um die Besetzung der türkischen Hauptstadt durch die Russen zu verhindern. „Da Frankreich“, so erklärte der englische Minister, „das Recht Rußlands auf die Meerengen ausdrücklich anerkannt hat, und im gegenwärtigen Moment England nicht in der Lage ist, sich von seinem Bundesgenossen zu trennen, kann die russische Gefahr einer Besetzung Konstantinopels nur dadurch beseitigt werden, daß man vor Eintreffen der russischen Armee in Konstantinopel anlangt oder daß man so stark ist, daß die russische Armee in sichtiger Minderheit sich befindet. Zu diesem Zweck sind mehrere französische, englische und griechische Armeekorps notwendig. Nach Schluß des Krieges würde Griechenland territoriale Kompensationen in der Provinz Smyrna erhalten.“ Venizelos ist vollkommen für den gemeinsamen Plan gewonnen. Er ist fest entschlossen, der Türkei den Krieg zu erklären. Alles ist nach dieser Richtung hin vorbereitet. Der griechische Kronrat mißbilligt aber seine politischen Pläne und der allmächtig erscheinende Ministerpräsident wird gezwungen seine Entlassung zu nehmen. Mit diesem Abschluß hört auch die Komödie der „Konstantinopeler Revolutionäre“ von selbst auf. Das Interessanteste ist, daß die türkische Regierung die genauen Chiffers der griechischen Gesandtschaft in der Hand hat und jeweilig die gesamte Korrespondenz zu kontrollieren in der Lage war und noch ist.


[Jagow am 15.5. an Treutler (Nr. 56)]

z. gfl. Kenntnisnahme und mit der Bitte erg übersandt, S.M. dem Kaiser und König über die Angelegneheit Vortrag halten zu wollen.

Dem Kaiserlichen Gesandten in Athen wird Abschrift des Berichts zur streng vertraulichen Verwertung beim König von Griechenland mitgeteilt.


[Jagow am 15.5. an Athen (Nr. 67)]

z. gfl. Kenntnisnahme und streng vertaulichen Verwertung bei S.M. dem König erg. übersandt.



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