1915-05-21-DE-003
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Quelle: DE/PA-AA/R 20185
Zentraljournal: 1915-A.S.-2497
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Praesentatsdatum: 05/21/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr.
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger an den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt (Zimmermann)

Schreiben


Berlin, den 21. Mai 1915

Euer Excellenz

überreiche ich in der Anlage eine sehr interessante Aufzeichnung des mir persönlich bekannten Herrn Swing, den ich für glaubwürdig halte und dessen Urteil Beachtung verdient.

Mit vorzüglicher Hochachtung


Euer Excellenz ergebener
M. Erzberger
Mitglied des Reichstags
Anlage

Auszug eines amerikanischen Berichterstatters [Raimond Swing, Korrespondent der „Chicago Daily News“] aus Bukarest vom 30. April 1915.

In der Türkei ist die Arbeit eines Journalisten so merkwürdig beschränkt, dass ich keinen Versuch machte, mich über die politische Lage zu unterrichten. Aber man hört viel und sieht manches. Deutsches Talent ist wirksam in der Armee und ruft angeborene kriegerische Fähigkeiten hervor, von denen ein gut Teil mehr vorhanden ist, als man geglaubt. Die Türken sind in diesem Punkte sehr empfindlich, und man kann Unannehmlichkeiten erwarten, wenn Konstantinopel erhalten bleibt, - in der Hinsicht, dass jede Ueberhebung und Herrschsucht seitens der Deutschen eine kräftige Reaktion hervorrufen wird. Ich hatte das Gefühl, dass diese Empfindlichkeit der Türken nicht genügend gewürdigt wurde. Es ist in Konstantinopel üblich, den Türken wie ein Kind zu behandeln und über seine Anmassung zu schelten. Die Deutschen sind keineswegs frei von dieser Gewohnheit. Die Armee, das ist meine Ueberzeugung, wird sich aus sich heraus selbst gegen einen starken Gegner halten, und solange der Krieg dauert, ist dies der ausschlaggebende Faktor. Deutscher Takt, in politischer Beziehung, handelt in vielen Dingen richtig; er bereitet sich auch für eine harte Probe in der Zukunft vor. Wenn der Deutsche willens ist, den Türken jeden für den Krieg notwendigen Kredit zu gewähren, werden die Konzessionen wertvoll sein. Sorgt nur für Harmonie unter den gegenwärtigen Verhältnissen, wenigstens solange die Armee der entscheidende Faktor ist.

Bulgarien ist heute der Schlüssel für die Kriegslage. England versucht, Bulgarien auf seine Seite zu ziehen. Bisher sind als Belohnung für die Mitwirkung nur Versprechen gegeben. Serbien weigert sich, einen Teil in Mazedonien abzutreten, ehe es Hand auf österreichisches Land gelegt. Sir Edward Grey weigert sich, auf Serbien Druck auszuüben, sehr gegen die Ansichten der englischen Diplomaten im Balkan, die die Tatsache erkennen, die augenscheinlich in London von Grey oder Kitchener nicht verstanden wird, dass Bulgarien den Sieg der Entente in seinen Händen hat. Die bulgarische Regierung will mit der Entente unter den folgenden Bedingungen gehen: Okkupation des serbischen Teils von Mazedonien vor der Mobilisation; ein Versprechen der Ueberlassung von Kawalla etc. wenn Griechenland Smyrna und dessen Hinterland erhält, und ein Versprechen der Wiederherstellung der Enos-Midia Grenze. Man spricht auch von der Bereitwilligkeit Bulgariens, wenn England die Bürgschaft für die Abtretung dieses Gebiets oder wenigstens des serbischen Teils desselben übernimmt. (Diese Mitteilung habe ich nur aus einer guten Quelle; man kann damit rechnen, darf es aber ohne weitere Bestätigung nicht als sicher annehmen.)

Der gegenwärtige Angriff auf die Dardanellen ist ein Bluff. Der wirkliche Angriff wird nicht auf die Meerenge erfolgen, sondern auf Konstantinopel mit einer Landung in Enos und einem Marsche längst der bulgarischen Grenze und längst der Eisenbahn nach Konstantinopel. Während dieses Marsches erwartet man, dass die Bulgaren dem englischen Werben nachgeben werden.

Die Bulgaren haben wenig Sympathien für den Krieg. Für sie ist es unwesentlich, auf welche Seite sie treten. Sie glauben nicht, dass ihre Interessen durch Russlands Besitzergreifung von Konstantinopel sehr beeinträchtigt würden. Die Deutschen scheinen zu glauben, dass dieser Gedanke für die Bulgaren eine Beeinträchtigung ihrer Interessen bedeute; das ist eine falsche Annahme, denn die Bulgaren haben sich gegenwärtig entschieden, nur nach dem Besitz Mazedoniens zu streben und, wenn möglich, nach den durch den Londoner Frieden 1912 abgetretenen Gebietsteilen von Thrazien. Aber Bulgarien, das den Wert des Entente Idealismus aus bitterer Erfahrung kennt, giebt nicht der Propaganda nach, die so stark in Rumänien, Griechenland, Italien und den Vereinigten Staaten tätig gewesen ist. So glaubt Bulgarien nicht, dass die Deutschen geschlagen sind, und bis es das tut, wird es zögern, sich der Entente anzuschließen.

Aber Bulgariens Lage kann sehr schwierig werden. Deutschland hat ihm das serbische Mazedonien versprochen, aber nicht das griechische Mazedonien. Deutschland kann auch nicht Thrazien versprechen. Wenn die Entente jetzt Serbien endgiltig zwingt und Griechenland zu Gunsten Bulgariens beraubt, würde Bulgarien ohne Zögern in den Krieg ziehen. Niemand darf sich durch irgend welche gegenteilige Behauptungen irre führen lassen. Es giebt noch eine schwerwiegende Möglichkeit, die ernste Betrachtung verdient.

Sollten die Alliierten genügend Truppen landen, um den Fall Konstantinopels absolut sicher erscheinen zu lassen, so würde Bulgarien fühlen, dass Deutschland geschlagen wird und dass die Zeit gekommen ist, mit dem Strom zu schwimmen. Eine andere ebenso schwerwiegende Möglichkeit: Die Alliierten könnten, wenn der geplante Angriff über Enos misslingt, Truppen in Bulgarien landen, in Dedeagatsch und in Burgas. Die Bulgaren hätten dann zu wählen, ob sie ein neues Belgien sein oder sich mit der Lage abfinden wollen. Sie könnten nicht ein Luxemburg sein, ohne auf alle Hoffnungen auf Mazedonien zu verzichten. Deutschland wagt nicht, Bulgarien auf eine zu harte Probe zu stellen. Es verspricht Serbisch-Mazedonien, trotzdem Serbien noch ruhmreich unbesiegt ist. Ebenso könnte Bulgarien, wenn die Alliierten einen Marsch durch Bulgarien unternehmen, nicht militärischen Widerstand leisten weil es von Ungarn und jeder Zufuhr durch das unbesiegte Serbien abgeschnitten ist. Wenn Deutschland sich über diese ganze Situation klar ist, wird es den Angriff auf Serbien sobald als nur möglich beginnen und in solchem Umfang, dass ein Missglücken ausgeschlossen ist.

Bulgariens Lage bedeutet nicht nur den Schlüssel zu Konstantinopel sondern auch in sehr entscheidender Weise zu Oesterreich und Deutschland. Rumänien wird nicht marschieren, wenn nicht Russland siegreich in Ungarn eindringt - oder wenn nicht Bulgarien marschiert. Griechenland wird nicht marschieren, wenn nicht die Entente mit einer Armee Bulgariens Neutralität garantiert. Während wenn Bulgarien sich der Entente anschliesst, Rumänien und Griechenland sich ebenfalls sofort anschliessen; wenn nicht Osterreich Italien freiwillig alles zugesteht, bedeutet Bulgariens Teilnahme auch die Teilnahme Italiens. Es ist keine Uebertreibung zu sagen, dass Bulgarien das Schicksal Oesterreichs in den Händen hält. Es gibt nur einen sicheren Weg, Bulgariens Entscheidung in dem gewünschten Sinne zu beeinflussen und das ist ein Angriff gegen Serbien in dem oben erwähnten Umfange.

Ich habe von Gerüchten gehört, dass Osterreich beabsichtigt oder beabsichtigt hat, Frieden mit Serbien zu schliessen. Wenn solche Absicht nicht die Abtretung Mazedoniens an Bulgarien in Betracht zieht, wäre sie Selbstmord. Konstantinopel und die Neutralen sind die letzten Karten der Entente. Diese selbst sieht nicht ein, wie wichtig sie sind, wenn nicht Russland eine Ausnahme macht. Deutschland scheint mir, müsste sich nicht, ebensowenig wie Kitchener, durch die Kämpfe auf dem nördlichen Kriegstheater faszinieren lassen. Es wäre in der Lage, die Defensive überall sonst durchzuhalten und alle seine Energie und kriegerischen Kräfte gegen Serbien zu wenden. Jeder andere Weg scheint mir, gering gesagt, gefährlich. Wenn der Balkanknoten durchhauen ist, kann auch die Stockung im Norden überwunden werden.

Ich habe versucht, die Verhältnisse in Ruhe zu schildern; ich glaube keine Tatfeststellungen gemacht zu haben, denen man nicht trauen kann. Ich dränge meine Schlüsse nicht auf, denn schliesslich ist es nicht mein Krieg! Aber meine Schlüsse, scheint mir, ergeben sich aus der Macht der Tatsachen, aus denen sie gefolgert sind. Ich bin überzeugt, dass Sie der Bericht in jeder Weise interessiert und dass Sie von demselben den nach Ihrer Meinung besten Gebrauch machen werden.

Als Anhang möchte ich hinzufügen, dass die Alliierten die Türkei wie folgt verteilen: Russland erhält Konstantinopel und die Dardanellen; wenn Konstantinopel fällt, wird einer der arabischen Revolutionäre sofort Anspruch auf das Kalifat erheben, und England wird ihn einsetzen und aus Arabien ein anderes Aegypten machen, aber wertvoller, weil es das Zentrum der mohammedanischen Welt ist; Frankreich erhält Syrien; England Mesopotamien; Russland Armenien; Griechenland Smyrna und dessen Hinterland; Italien Cypern und die direkt gegenüberliegenden Teil von Kleinasien.


[Raymond E. Swing ]



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