1915-05-23-DE-006
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Quelle: DE/PA-AA/R 20186
Zentraljournal: 1915-A.S.-2605
Erste Internetveröffentlichung: 2012 April
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1911.01-1915.05
Praesentatsdatum: 05/26/1915 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 06/17/2017


Der Staatssekretär des Auswärtigen Amts (Jagow) an den Reichstagsabgeordneten Matthias Erzberger

Schreiben


Grunewald, den 23. Mai 1915

Abschrift.

Sehr geehrter Herr Erzberger!

Nach unserem Gespräch habe ich die Situation Balkan noch einmal durchdacht.

1.) Serbien. Durch österreichisch-ungarische Tracasserien geärgert. (a Erschwerung seiner Agrarausfuhr aus Rücksicht auf magyarische Magnaten; b Kroatenfrage in Bosnien, c Verweigerung jedes Ausganges am San). An der Tatsache, dass österreichische Untertanen auf österreichischen Boden infolge von Unzulänglichkeiten österreichischer Polizei österreichischen Erzherzog ermordeten, ist Regierung Paschitsch völlig unbeteiligt. Wahrscheinlich ist Abkommen Serbien-Russland-Italien fertig. Weiter Offensive in Serbien: Entweder langwierig (jeder Greis, jede Frau bewaffnet) und Riesenverluste oder rasch durchgreifend und vernichtend. Gelände im Innern höchst schwierig. In jedem Fall zweites Belgien; also nur im äussersten Notfall ratsam. In jedem Fall neuer Rachegrund für alle Slawen pro futuro. Oesterreich-Ungarn behält seine Serben und Südslawen im Leib; bis zum Aeussersten durch Vernichtung der tapfersten Konationalen gereizt. Oesterreich-Ungarn behält an Adria und besonders in Albanien kein Gegengewicht gegen italienische Aspirationen. Oesterreich-Ungarn behält die Romania Irredenta mit ihren Gefahren. Was auch die Superi beschliessen: gegen Slawen, der zweite Balkankrieg hats bewiesen, kämpft der bulgarische Bauer nur mit halber Kraft.

Und Serbien ist schon einmal vom „Tod“ auferstanden. Der Versuch, es mit Uebermacht zu vernichten, dünkt mich, in Anbetracht seiner Leistung in drei Kriegen, in Anbetracht des Mitleides, das es erwecken müsste, in Anbetracht der österreichischen Gesamtverhältnisse unklug, sittlich und politisch unklug.

2.) Rumänien: hat, wenn es nicht schon jetzt fest mit Entente abgeschlossen hat (und in diesem Falle ist die Erörterung gegenstandslos) nichts für uns noch Wichtiges, für unsere Zukunft Beträchtliches hinter sich. Wird es von uns geschwächt oder gar der Ohnmacht nah gebracht, so gewinnt Ungarn und Oesterreich (eine Hauptsorge weniger), und Russland, Griechenland, Bulgarien, die Serbenstaaten, haben keinen Grund zu Groll und Rache. Denn Rumänien ist ein Fremdkörper in der slawo-finischen Ostwelt, ein Pionier lateinischer, nicht germanischer noch slawischer Kultur im Orient; und ob seine Begünstiger, Frankreich und Italien, mehr oder weniger wüten, ist für unsere Zukunft belanglos. Nicht belanglos, ob wir gegen künftige Verständigung mit Russland, durch Schlag gegen Serbien, neuen Wall aufwerfen.

Deshalb beantworte ich Ihre Frage so: Ich würde ein kurz befristetes, militärisch unterstütztes Ultimatum an Rumänien der anderen Möglichkeit vorziehen. Es müsste so schnell wie irgend möglich ergehen. Der bequemste Weg für Munition, Getreide, Petroleum etc. würde dadurch zugleich geöffnet. Jeder Tag ist unwiederbringlich.

Auf dem Balkan ist, wie in Europa der Grossmächte, eine Macht zu viel. Deshalb das Gedränge und Gestosse. Ratsam, die Macht zu entmachten, die am Wenigsten hinter sich hat. Serbien-Montenegro mit allem Südslawengeknäuel ist für Italien eine Adriagefahr; Rumänien ists nicht. Aus rumänischem Land kann Bulgarien (das nach Serbiens Befriedigung auch 3/4 von Makedonien erhielte) auch ohne Gebietsverlust Griechenlands (Kavala-Drama) befriedet werden.

Bessarabien ist für weitsichtige Rumänen nur dann ein Köder, wenn Russland es freiwillig gibt; denn zur Aktion gegen Rumänien wird Russland immer wieder stark genug.

Mir scheint nützlich, Bernstorff „zur Berichterstattung“ hierher kommen zu lassen; 1. Zeitgewinn i/S. Lusitania; 2. Zeichen wie ernst wirs nehmen; 3. kommt Bernstorff mit guter Manier weg (ist drüben nicht haltbar). Natürlich muss der unbeschreibliche Dernburg verschwinden. Bussche, der für Washington gut wäre, ist in Bukarest fehl am Ort; ohne Gardinen, Frau, Weiberverkehr, Geselligkeit, Schminke, die dort unerlässlich. Der Mann für Bukarest war jetzt vielleicht der kleine galante pariserische Lucius (jetzt Stockholm)

Mit herzlichen Wünschen für Ihre Pfingstruhe

grüsst Sie



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