1915-06-12-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14086
Zentraljournal: 1915-A-18969
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 06/16/1915 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Johannes Lepsius an den Legationsrat im Auswärtigen Amt Rosenberg

Privatschreiben



Potsdam, den 15. Juni 1915

Auszüge aus dem Bericht von Dr. Liparit über die Lage in Armenien.

Die Deutsche Botschaft ist über das vorliegende Material unterrichtet, da Dr. Liparit dafür gesorgt hat, dass Dr. Weber und Dr. Mordtmann regelmässige Informationen erhalten. Dr. Liparit bleibt vorläufig in Sofia, da er dort leichter Nachrichten aus dem Kaukasus beziehen kann. Die Daten über die militärische Lage entstammen teilweise der armenischen Presse Bulgariens. Dr. Rohrbach war der Meinung, dass der stellvertretende Generalstab für diese Daten Interesse haben könnte. Ich lege daher von diesem Blatt zu event. Weitergabe eine Abschrift bei. Die letzte erst gestern erhaltene Nachricht über die Haltung und das Programm der armenischen Komitees, die mit der Entente durch Boghos Nubar Pascha, Dr. Savriew u.a. Fühlung haben, dürfte auch in Konstantinopel noch unbekannt sein.


Johannes Lepsius
Anlage

1. Die militärische Lage im Wan- und Urmia-Gebiet 1

(Nachrichten armenischer Zeitungen in Bulgarien aus dem Kaukasus)


A. Gebiet des Urmia-Sees (Nordwestpersien) B. Gebiet des Wan-Sees (Hocharmenien)

Reguläre russische Truppen und Freischaren russischer Armenier dringen von drei Seiten in das Wan-Gebiet ein.

Ausser dem persischen Gebiet von Khoi und Salmas ist also das Gebiet östlich und nördlich des Wansees in russischen Händen. Südlich des Wansees ist Vostan und Kavash, also die Hälfte des Seegebietes und landeinwärts Shattakh und Mukus in russischen Händen. Da auch die durch das obere Zabtal nach Jezire-Diarbekir und Mosul führenden Wege in den Händen des Feindes sind, ist die türkische Armee im Urmiagebiet von ihren westlichen Verbindungen abgeschnitten.

2. Die Lage in Armenien.

A. Hocharmenien:

Im Vilajet Wan und Bitlis stehen im Wesentlichen nur irreguläre Truppen, Hamidiehkurden und Baschibozuks. Die Kurden zwischen 16 und 60 Jahren wurden bewaffnet, den Armeniern alle Waffen abgenommen. Berüchtigte kurdische Räuber wie Musa Bei, Kasim Bei und Mehemed Emin wurden mit ihren Banden in die Miliz eingestellt. Diese irregulären Truppen wurden in den christlichen Dörfern einquartiert, die teilweise evakuiert wurden. Die muhammedanischen Dörfer blieben möglichst verschont. In der Ebene von Musch wurden die Reserven, ca. 20000 Baschibozuks in armenischen Dörfern untergebracht. Die Dörfer nördlich des Wansees wurden von den kurdischen Bewohnern von Alschkert, die die Russen bei ihrem Einmarsch vor sich hertrieben (ca. 2000 Familien) überflutet.

Da reguläre türkische Truppen, die für Ordnung gesorgt hätten, nicht vorhanden waren, so war die armenische unbewaffnete Landbevölkerung den Plünderungen und Roheiten der irregulären Truppen ausgeliefert. Die Zahl der getöteten armenischen Bauern soll in viele Tausende gehen. Durch rücksichtslose Requisitionen ist die Landbevölkerung ausgesogen. Da es an Saatkorn und Arbeitern fehlte, ist die Herbstsaat unterblieben. Auch die Bitte um Korn und Arbeitskräfte für die Frühjahrssaat wurde von der Regierung abgewiesen. Alle Männer, soweit sie nicht eingezogen sind, werden für Transporte und Wegebauten gebraucht. Da es an Lebensmitteln fehlt, ist die Sterblichkeit aufs Fünffache gestiegen.

Unter diesen Umständen werden die einrückenden russischen Truppen, die zum grossen Teil aus russischen Armeniern bestehen, als Befreier begrüsst.

B. Cilicien.

Unruhen in Zeitun, die aus belanglosen Streitigkeiten mit Gendarmen entstanden und durch eine Strafexpedition unterdrückt wurden, hat der Vali von Haleb, Djemal Pascha, befriedigend geordnet. Zur Zeit dieser Unruhen bemächtigte sich der Muhammedaner von Aleppo und Aintab grosse Erregung. Dem Einfluss von Konsul Rössler in Aleppo gelang es, drohenden Ausschreitungen gegen die christliche Bevölkerung vorzubeugen.


3. Die politischen Tendenzen der russischen Armenier.

Die russischen Armenier identifizieren sich nicht mit den Zielen der russischen Politik.

Das Eingreifen der russisch-armenischen Freischaren bezweckte, die armenische Landbevölkerung gegen Plünderung, Frauenraub und Totschläge von Seiten der Kurden und Baschibozuks zu schützen, und ebenso die russischen Truppen an Gewalttätigkeiten zu verhindern. In dem Bereich der Freischaren konnten Metzeleien verhindert werden. Der Zweck der Bildung der Freischärlerkorps war nicht Unterstützung der russischen Eroberung, sondern Selbstverteidigung der armenischen Nation.

"Gewisse armenische Kreise in Russland haben die Überzeugung, dass nur durch die Russen die Lage der türkischen Armenier gebessert werden könne. Aber ihr Einfluss und ihre Anzahl ist beschränkt. Auch die Zahl der Freischärler übersteigt nicht 4000 - 5000. Zuzug von nichtrussischen Armeniern haben sie, von vereinzelten Fällen abgesehen, nicht gehabt. Das Balkankomitee der Daschnakzagan hat stets verhindert, dass Armenier vom Ausland nach Russland gehen, um in die dortigen Freischärlerkorps einzutreten, indem es auf die Gefahren hinwies, die eine derartige antitürkische Parteinahme für die türkischen Armenier nach sich ziehen würde."


4. Die Haltung der armenischen Truppen im türkischen Heer.

Enver Pascha hat in seinem Schreiben an den armenischen Patriarchen und den Bischof von Konia bezeugt, dass die Armenier sich mit bewundernswürdiger Tapferkeit schlügen und dass in der Schlacht von Sarykamisch nur die kühne Attacke der Armenier den türkischen Stab vor der Gefangenschaft bewahrte.

5. Dr. Liparits Besprechungen mit der Botschaft.

Dr. Weber und Generalkonsul a.D. Dr. Mordtmann, die mit der Bearbeitung der armenischen Frage betraut sind, werden auch weiterhin mit Informationen über die Lage in den armenischen Gebieten versehen werden. Dr. Liparit wird von Sofia aus Erkundigungen über die armenischen Dinge im Kaukasus einziehen. Der Botschafter erklärte sich bereit, in wichtigen Fragen Wünsche und Beschwerden der Armenier bei der Pforte zu vertreten. Um die Botschaft mit den loyalen politischen Führern der Armenier in Fühlung zu erhalten, brachte Dr. Liparit Herrn Aknuni mit Dr. Weber und Dr. Mordtmann in Verbindung. In einer mehrstündigen Sitzung mit diesen Herren wurde beraten, welche Schritte zur Hebung der Mißstände in Armenien geschehen könnten. Als geeignete Maßnahmen erschienen:

1. Ernennung deutscher Konsuln in den wichtigsten Centren Armeniens.

Die zufällige Anwesenheit des deutschen Konsuls von Mossul in Musch und des deutschen Konsuls von Aleppo in Marasch hat genügt, um von diesen Gegenden die drohende Gefahr einer Metzelei abzuwenden. Wo deutsche Konsuln sind, verhalten sich die Türken ruhig und fühlen sich die Armenier sicher. Einer Erregung der Gemüter kann rechtzeitig vorgebeugt werden.

2. Anweisung an die in den armenischen Gebieten tätigen deutschen Offiziere und Beamten, für die Sicherheit der armenischen Bevölkerung Sorge zu tragen.


6. Tendenzen der armenischen Komitees, die der Entente nahestehen.

Nach gestern erhaltenen Mitteilungen haben die armenischen Komitees, die durch Boghos Nubar Pascha, Dr. Savriew u. A. mit der Entente in Verbindung stehen, den englischen vor den russischen Anschauungen den Vorzug gegeben. England wünscht, die russischen Absichten auf Anatolien möglichst einzuschränken und die russische Tendenz, bis Cilicien durchzustossen, zu unterbinden. Nicht nur Boghos Nubar Pascha, sondern auch die politischen Führer der russischen Armenier wünschen dringend, die armenischen Provinzen der Türkei vor russischer Herrschaft zu bewahren. Sie haben im Einverständnis mit der englischen Politik ihr Programm dahin formuliert: Autonomie der 6 ostanatolischen Provinzen und Cilicien unter türkischer (!) Souveränität, aber unter Kontrolle - der Ententemächte!

Es ist bedeutsam, dass auch die mit der Entente zusammenhängenden Armenier die türkische Souveränität der russischen vorziehen und dass sie hierbei von England unterstützt werden.

Die Wünsche aller Armenier gehen tatsächlich auf nichts Anderes als auf vernünftige Reformen hinaus, die nur bei einer politischen und wirtschaftlichen Stärkung der Türkei und einer Beteiligung europäischer Beamten in den Provinzialverwaltungen durchführbar sind. Ob die Entente-Mächte oder die Centralmächte die Reorganisation der Türkei herbeiführen und überwachen, ist den Armeniern (selbst den russischen) völlig gleich. Wenn nur etwas geschieht und es nicht, wie seit 40 Jahren bei Versprechungen bleibt.


[Notiz Auswärtiges Amt]


1. Die anliegenden von Dr. Lepsius mitgeteilten Auszüge aus Berichten des Dr. Liparit über die Lage in Armenien werden im Anschluss an anderweitige Vorgänge u. R.
i.A

D.


2. Die aus armenischen Quellen stammenden abschriftlich anliegenden Notizen über die militärische Lage in Armenien


1 Die Schreibung der Namen entspricht der Karte von Lynch.Map of Armenia and adjacent countries by H.F.B.Lynch and F.Oswald. London. Stanford 1901.



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