1915-06-22-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14086
Zentraljournal: 1915-A-19605
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 06/22/1915 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Johannes Lepsius an das Auswärtige Amt

Privatschreiben



Potsdam, den 22. Juni 1915

Nach der Mitteilung des Botschafters laut Telegramm vom 31. Mai beabsichtigt Enver Pascha ”aus den jetzt insurgierten armenischen Centren die nicht einwandfreien Familien in Mesopotamien anzusiedeln”.

Wie ich bereits in meinem Schreiben vom 18.6. mitteilte, handelt es sich indes nicht um Verschickungen einzelner Familien, sondern um Massendeportationen großer armenischer Bevölkerungsteile aus anatolischen Gebieten und aus Cilicien nach verschiedenen Distrikten besonders nach Mesopotamien.

Diese Maßregeln können aus militärischen Gründen nicht gerechtfertigt werden. Sie stehen in keinem Verhältnis zu den unbedeutenden Anlässen, durch die sie motiviert wurden. Auch widersprechen sie der offiziellen Mitteilung der türkischen Regierung vom 4. Juni (W.T.B. [Wolffs Telegraphisches Büro] aus Konstantinopel), dass ”die Armenier von Erserum, Derdschan, Egin, Sassun, Bitlis, Musch und Kilikien keinerlei Maßregeln der Kaiserlichen Behörden unterworfen waren, da sie keine Handlungen begangen hatten, die die öffentliche Ordnung und Ruhe hätten stören können.” Denn auch aus diesen Gebieten haben Massendeportationen stattgefunden und werden successiv auf alle armenischen Gebiete ausgedehnt. Auch der Passus ”Wenn gewisse Armenier von ihren Wohnorten weggeschafft werden mussten, so geschah das, weil sie im Kriegsgebiete wohnen” bietet keine Handhabe, denn es handelt sich zum grössten Teil um Gebiete, die fern vom Kriegsgebiet im inneren Anatolien liegen.

Soweit die Nachrichten reichen, sollen bis jetzt etwa 200000 Armenier von den Deportations-Maßregeln betroffen worden sein. Besonders werden genannt die Gebiete des oberen Euphrat (Ersingjan, Kemach, Baiburt), das Taurus- und Amanusgebiet (Zeitun, Hadjin, Aintab, Marasch) und Cilicien. In andern Gebieten, wie Erzerum, werden gleiche Maßregeln vorbereitet. Da auch in Thracien zwischen Adrianopel und dem Marmarameer die griechische Bevölkerung der Dörfer vertrieben wurde, handelt es sich augenscheinlich um den Versuch, unter dem Schleier des Kriegsrechtes und mit Benutzung des durch den heiligen Krieg wachgerufenen muslimischen Hochgefühles die christliche Bevölkerung des Reiches nach Möglichkeit zu decimieren und durch Verschleppung in klimatisch ungünstige und unsichere Grenzdistrikte der Ausrottung preiszugeben.

In welcher Weise hierbei verfahren wird, davon ein Beispiel. Von den ca. 27000 Bewohnern von Zeitun im taurischen Hochlande wurde die männliche Bevölkerung in die heissen Euphratniederungen von Deir es Zor mitten unter arabische Beduinenstämme verschickt (500 Kilometer südöstlich), die Frauen, Mädchen und Kinder dagegen in das Gebiet von Angora abtransportiert - (500 Kilometer nordöstlich) also die Männer wurden von ihren Familien durch 1000 Kilometer getrennt. Auf dem Transport wurden die jungen Mädchen in türkische Harems verschleppt, in den muhammedanischen Dörfern die Frauen der Vergewaltigung preisgegeben. Während für die Ansiedlung von muhammedanischen Bosniaken in dem evakuierten Zeitungebiet von der Regierung 20000 Lt. angewiesen wurden, wurden die Armenier ihrer Habe beraubt und mittellos in die Fremde geschickt.

Solche Maßregeln, die nur in den Deportationen der alten Assyrer ihresgleichen haben, sind durch militärische Zwecke nicht zu rechtfertigen, sondern laufen auf verschleierte Christenmassacres hinaus. An Ausdehnung werden sie voraussichtlich die Massacres zur Zeit Abdul Hamids übertreffen.

Ich halte es für meine Pflicht, auf die Folgen dieser türkischen Maßnahmen aufmerksam zu machen.

1. Sobald die Tatsachen in Europa und Amerika bekannt werden, werden sie nicht nur, wie der Botschafter es bereits in der Depesche vom 4. Juni voraussetzt, ”in der gesamten uns feindlichen Welt wieder grosse Aufregung verursachen und gegen uns ausgebeutet werden” - sie werden auch in der gesamten evangelischen Kirche Deutschlands eine Empörung wachrufen, die durch die aufrichtigsten Sympathien mit dem türkischen Volk nicht gemildert werden kann.

2. Durch die Ausrottungspolitik der gegenwärtigen türkischen Machthaber wird in der gesamten armenischen Nation (d.h. 2 Millionen russischer und 2 Millionen türkischer Armenier) ein Hass gegen die Türkei systematisch gezüchtet, der nur den Interessen der Entente-Mächte zugute kommt und dem Einfluss Deutschlands auf die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei, die zum grössten Teil auf den Schultern der Armenier liegt, in höchstem Maße schädlich sein muss. Durch die Evakuierung Ciliciens von Armeniern werden z.B. den dortigen deutschen Unternehmungen (Baumwollgesellschaften u.s.w.) sämtliche Arbeitskräfte entzogen.

3. Es kann in einem Lande, in dem die Regierung von jeher mit terroristischen Mitteln gearbeitet hat, nicht ausbleiben, dass die Ausrottungspolitik die Betroffenen ebenfalls in den Terrorismus hineintreibt. Man darf nicht vergessen, dass die gegenwärtige Regierung eine starke und gefährliche Oppositionspartei auch unter den türkischen und arabischen Untertanen hat, der die bisher loyalen türkischen Armenier in die Arme getrieben werden. Da die türkische Opposition (die liberale Union) mit der Entente zusammengeht, ist es unser dringendes politisches Interesse, die türkischen Armenier nicht in eine terroristische Opposition hineinzutreiben und dem deutschen Einfluss zu entziehen. Es sind etwa 120 Führer der Daschnakzagan die durchaus loyal waren, in Haft gesetzt worden und man befürchtet ihre summarische Hinrichtung. Durch die Beseitigung dieser loyalen Intellektuellen werden die terroristischen Elemente des russischen Armeniertums auch in der Türkei freie Hand bekommen.

Die loyalen armenischen Komitees haben durch die betreffenden Gesandten die amerikanische, bulgarische und griechische Regierung gebeten, ihren Einfluss zu Gunsten der Armenier geltend zu machen. Diese haben übereinstimmend geantwortet, dass nur die deutsche Regierung im Stande sei, den Übeln zu steuern, weil sie allein Einfluss auf die türkische Regierung besitze und infolgedessen auch vom Auslande für die inneren Zustände in der Türkei mitverantwortlich gemacht werde.


Johannes Lepsius

[Notiz Zimmermann 22. 6.]


Abschriftlich Pera Nr. 494 zur gefl. Ktn. und mit dem Anheimstellen der Äußerung erg. übersandt.



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