1915-08-23-DE-003
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Quelle: DE/PA-AA/R 20005
Zentraljournal: 1915-A-
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 08/24/1915 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Reichstagsabgeordnete Martthias Erzberger an den Staatssekretär des Auswärigen Amts (Jagow)

Privatbrief


Berlin, den 23. August 1915.

Euer Exzellenz

überreiche ich in der Anlage einen Bericht, wie ich ihn von einem zuverlässigen Deutschen, der eben aus der Türkei zurückgekehrt ist, erhalten habe.


Mit vorzüglichster Hochachtung
Ew. Exzellenz ganz ergebener
M. Erzberger
Mitglied des Reichstages.

Anlage

Eindrücke eines Deutschen bei einer Reise durch die Türkei.


Trotz der militärisch günstigen Lage, sowohl an den Dardanellen als an der Schwarzen-Meer-Küste, welche fast allgemein in Konstantinopel als solche angesehen wird, war ich von der Bedrücktheit der Bevölkerung überrascht. Den Schlüssel hierfür fand ich erst im Laufe meines 5wöchentlichen Aufenthalts, hauptsächlich aber wohl bei der Reise durch Klein-Asien.

Die Pässe für die Reise nach Klein-Asien waren nur schwer zu erlangen solange ich diese auf dem Wege über die deutsche Botschaft zu bekommen suchte, da man mehr oder weniger offiziellen deutschen Persönlichkeiten den unmittelbaren Einblick in die asiatischen Zustände ungern gewährt. In erster Linie ist es das Vorgehen gegen der griechische und armenische Bevölkerung Klein-Asiens, welches man einer breiteren Oeffentlichkeit nicht gern zugänglich macht.

Es ist zuzugeben, daß die Armenier Feinde im eigenen Lande darstellen, und daß sie im armenischen Hochland, wo sie der türkischen Gewalt mehr oder weniger entrückt sind, mit den Russen gemeinsame Sache gemacht und die Türken aus Wan vertrieben haben. Gleichwohl kann die Behandlung, welche der armenischen Bevölkerung von Anatolien zu teil wird, keine Billigung finden.

Als Auftakt zu dem Schauspiel, das sich mir später bot, traf ich im westlichen Klein-Asien an entlegenen Ortschaften Konzentrationslager an, in denen in der Hauptsache begüterte Armenier versammelt waren. Diese Internierten können sich an Nahrungsmittel u.s.w. kaufen, was sie an Ort und Stelle für ihr Geld bekommen. Von der Regierung wird ihnen weder Brot noch sonst etwas Eßbares geliefert, noch dürfen sie sich durch Arbeit etwas verdienen. Die Polizeiorgane erklärten mir, man wolle auf diese Weise die Armenier dazu zwingen ihr Geld zu verausgaben, und auf die Frage „Was dann sei, wenn sie nichts mehr hätten“, sagte man lächelnd, „dann sollen sie eben zu Grunde gehen.“

Weiter nach Osten zu traf ich dann die Ausführung dieser Politik in einer geradezu schrecklichen Form. Die Straßenränder der heißen, sonnendurchglühten Straßen, welche nach den Salzstätten und Mesopotamien führen, sind besät von sterbenden Weibern, Kindern und Greisen von Armeniern. Die Evakuierung der von Armeniern bewohnten Städte und Dörfer geschieht nämlich in der Weise, daß man der Bevölkerung eine Frist zwischen 4 und 24 Stunden läßt, innerhalb welcher Zeit diese einiges von ihrer Habe zusammenraffen kann, anderes für einige Piaster zu Geld machen kann, was Werte von Hunderten von Francs darstellt, nur um unterwegs ein Glas Milch oder ein Brot erstehen zu können.

Dann wird die Menge von berittenen Gendarmen fortgetrieben, welche von Etappe zu Etappe sich abwechseln, während man den Armeniern, abgesehen von einigen Hauptkonzentrationspunkten, keine Rast läßt. An dem Zielpunkte der Reise kommt wohl nur noch ein Bruchteil der Deportierten mehr an.

Die angewandten drakonischen Maßregeln sind wohl um so weniger zu rechtfertigen, als es sich in diesen Gegenden nur um Weiber, Kinder und Greise handelt, denn die gesamte waffenfähige Bevölkerung, also die Männer zwischen etwa 18-55 Jahren, ist zum Heeresdienst eingezogen und wird in der Hauptsache als Arbeitssoldaten verwendet. Es ist wohl auch infolgedessen von dieser Bevölkerung keine wesentliche Schädigung zu befürchten, wenn sie an ihrem Wohnsitz belassen worden wäre, oder wenn man ihre Entfernung mit menschlicheren Mitteln bewerkstelligte.

Männliche Armenier, welchen man unmittelbaren Verdacht entgegenbringt, werden meist auf andere Weise beseitigt, indem man sie standrechtlich zur Prügelstrafe verurteilt und ihnen zwischen 100-250 Stockhiebe zudiktiert, denen sie in der Regel erliegen.

Damit die muselmanische Bevölkerung nicht selbst Bedenken gegen die Behandlung der Mitbürger bekommt, mit denen sie zum Teil in gutem Verhältnis lebte, läßt man dieser in den Moscheen durch die Geistlichen sagen, daß Deutschland mit diesem Vorgehen nicht nur einverstanden sei, sondern es sogar wünsche. Gegen Vorstellungen der deutschen Botschaft ist die türkische Regierung taub und erklärt, sie habe sich nun einmal vorgenommen, die Armenier und Anatolier auszurotten, und werde diesen Vorsatz um so mehr jetzt ausführen, als im gegenwärtigen Zeitpunkt ihr niemand in den Arm fallen könne.

Ein kleiner Teil der armenischen Bevölkerung, welcher deportiert wird, ist insofern besser daran, als er gegen Bezahlung des Eisenbahnpreises 3. Klasse in Güter- und Hammelwagen verstaut nach den Etappenstationen verbracht wird. Natürlich müssen auch diese für ihre Beförderung als für ihre Ernährung aus eigener Tasche sorgen, und wenn ihnen das Geld ausgegangen ist, steht ihnen das gleiche Schicksal bevor wie der großen Masse.

Auch die griechische Bevölkerung im Norden von Anatolien wird entfernt, weil man von ihr eine Unterstützung der englischen Unterseeboote im Marmara-Meer befürchtet, indes ist die Behandlung doch wesentlich glimpflicher, offenbar mit Rücksicht auf das Königreich Griechenland.

Das Vorgehen gegen die Armenier hat aber neben der moralischen auch eine sehr ins Gewicht fallende wirtschaftliche Seite. Die Armenier sind nämlich die Träger der gesamten industriell-landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit in Klein-Asien. Z.B. wird die Kultur der Seidenraupe und der Baumwollzucht ausschließlich von Armeniern besorgt, freilich auch der Handel mit den Seidenkokons. Durch die Vertreibung der Armenier sind nun beispielsweise diese Seidenkulturen dem Verderben preisgegeben, einmal da die Muselmanen in diesen Gegenden der Zahl nach nur einen ganz geringen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachen und zum anderen Mal diese Arbeit nicht kennen. Hierdurch ist die Quelle des Volksvermögens in beiden Gegenden von Anatolien auf lange Zeit zerstört, da nicht abzusehen ist, wie und wann die Seidenkultur wieder neu entwickelt werden kann.


* * *

Auch die innere Verwaltung, soweit sie sich auf die eigene Hauptstadt bezieht, wirkt mit zu der allgemeinen gedrückten Stimmung in Konstantinopel. In Klein-Asien ist natürlicherweise ein großer Ueberschuß an Agrar-Produkten: Getreide, Eier, Gemüse u.s.w. Es darf aber nichts davon im freien Verkehr nach Konstantinopel gebracht werden, vielmehr werden die aus dem Inneren in Haddar Pascha ankommenden Reisenden einer gründlichen Visitation unterzogen, damit sie auch nicht 1 kg. Butter oder Aehnliches mit nach Konstantinopel führen. Die Erlaubnis zur Verbringung dieser Produkte nach der Hauptstadt liegt vielmehr und allein in den Händen des sogenannten Dschemijed, des Syndikats jungtürkischer Komiteeleute, zu deren Gunsten die Ware im Innern des Landes verteuert wird und welche sie mit einem Aufschlag von 100 oder 200% an die eigene hauptstädtische Bevölkerung weiterverkaufen.

Unter solchen Verhältnissen ist es begreiflich , daß selbst muselmanische Türken zum Teil der dringenden Hoffnung Ausdruck geben, daß nach Beendigung dieses Krieges Deutschland dem Treiben der Regierungsleute nicht müßig zusieht oder Belehrungen gibt, sondern selbst die Zügel der Verwaltung in die Hand nimmt, um Ordnung im Lande zu schaffen, da man sich in einsichtigen Kreisen der Erkenntnis nicht verschließt, daß die Türken aus eigener Kraft positive Werte zu schaffen nicht vermögen.

Freilich darf man wohl in der Türkei die Dinge nicht mit europäischem Maßstabe messen, denn auch die Form, wie der Gegner Krieg mit den Türken führt, entspricht nicht den Gepflogenheiten von Kulturvölkern. So wurde in der vergangenen Woche eine erhebliche Anzahl schwerverwundeter Soldaten von der Dardanellenfront ins Lazarett eingeliefert, welche schreckliche Beiß- und Reißwunden im Gesicht und am Körper aufwiesen. Es stellte sich heraus, daß die Engländer als neuestes Hilfsmittel Bluthunde verwenden, welche des Nachts in die türkischen Schützengräben gehetzt werden. Daß eine solche menschenunwürdige Behandlung seitens eines Kulturvolkes nicht dazu angetan ist, mildere Sitten im eigenen Land zu verbreiten, ist augenscheinlich.



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