1915-08-28-DE-006
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Quelle: DE/PA-AA/R 20006
Zentraljournal: 1915-A-25372
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 08/28/1915 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Aufzeichnung Jagow




Berlin, den 28. August.1915.

Naby Bey, bisher türkischer Botschafter in Rom, der zum Besuch seines Bruders, des hiesigen türkischen Botschaftsrats, nach Berlin gekommen ist, suchte mich heute auf.

Er erzählte, die Stimmung in Italien sei bereits recht gedrückt. Die Kriegsberichte Cardonas nehme man mit Skepsis hin, der große Sieg lasse zu lange auf sich warten und die Gelegenheiten zum Flaggen und Schreien blieben aus, deren das italienische Temperament zu Auffrischung des Enthusiasmus bedürfe. Dazu mache sich bereits wirtschaftliches Elend, besonders in Neapel, geltend. Der Krieg gegen Österreich sei zwar noch populär, der gegen die Türkei aber nicht, und vor dem Krieg mit Deutschland fürchte man sich. Zwar wüßte man, daß wir erklärt hätten, unsere und die österreichischen Truppen seien so untermischt, daß der Krieg automatisch eintreten müsse, man wisse auch, daß Deutsche und Italiener bereits gegen einander gekämpft und Gefangene gemacht hätten, aber man rede sich damit heraus, die Deutschen seien nur „Freiwillige“ gewesen. Viele trösten sich mit der Hoffnung, Italien werde sich mit Deutschland wieder verständigen und zwar auf Kosten Österreichs.

Der König habe vor kurzem wieder eine Nervenkrise gehabt.

Die italienischen Truppen schlügen sich über Erwarten gut, selbst die Napolitaner; unter den Verlusten seien allerdings unverhältnismäßig viele Offiziere. Die Verluste schätzt Naby Bey zur Zeit seiner Abreise auf 80000.

In Lybien stände es für Italien sehr schlecht, mehrere Tausend gefangene Italiener befänden sich in den Händen der Eingeborenen.

Der lybische Krieg habe Italien über 1 1/2 Milliarden gekostet, die Kosten des jetzigen Krieges würde eine vollständige Zerrüttung der Finanzen bringen.

In der Conculta sei das Wort des englischen Botschafters maßgebend. Be der früher allgemeinen bekannten Deutschfreundlichkeit Sir Rennel Rodds sei es besonders merkwürdig, gerade ihn jetzt diese Rolle spielen zu sehen, aber er müsse eben der Politik seiner Regierung dienen. Barrère sei krank und trete ganz in den Hintergrund, nach dem Krieg werde er jedenfalls zurücktreten. Der Russe, Herr von Giers, sei sehr korrekt und hielte sich zurück.

Die russischen Niederlagen hätten keinen so großen Eindruck gemacht, man sage, Rußland könne wohl zurückgeworfen, aber nicht völlig besiegt werden. Die Dinge im Balkan beurteile man sehr skeptisch.

Die Kriegserklärung an die Türkei sei gegen den Wunsch der Heeresleitung aus politischen Gründen, auf Druck der Entente, erfolgt. Man habe aber gesagt, man werde gegen die Türkei nur einen „theoretischen“ Krieg machen.

Der Botschafter erzählte mir auch folgendes interessantes Detail. Im vorigen Herbst, als es sich darum handelte, ob die Türkei auf Seiten der Zentralmächte in den Krieg eintreten solle, habe ihm der englische Botschafter dringend davon abzuraten gesucht. Er, Naby, habe keinen Hehl daraus gemacht, daß er persönlich für den Krieg sei, weil die Türkei die Gelegenheit nutzen müsse, sich mit Rußland auseinanderzusetzen. Die fortgesetzte Bedrängung durch Rußland sei für die Türkei nicht erträglich. Sir Rennell habe erwidert, er sähe das ein, aber die Türkei möge noch ein paar Jahre warten. Diese Äußerung läßt auf die bei vielen Engländern vertretene Ansicht schließen, nach diesem Krieg werde England einen zweiten gegen Rußland führen müssen.


[von Jagow]


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