1915-09-06-DE-007
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Quelle: DE/PA-AA/R 20013
Zentraljournal: 1915-A-27862
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 09/21/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: BN 822/KN. 16
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Vizekonsul in Alexandrette (Hoffmann-Fölkersamb) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Alexandrette, den 6. September 1915.

Über das K. Konsulat Aleppo und die Kaiserliche Botschaft.

Die militärischen Sicherungsmassregeln gegen eine etwaige feindliche Landung in Alexandrette haben sich in den letzten Monaten offensichtlich verschlechtert.

Der Nachrichtendienst, der das Auftauchen feindlicher Kriegsschiffe von den nächstgelegenen Küstenplätzen ausserhalb der Bucht telegraphisch und von Arsus, 50 km südlich von Alexandrette in der Bucht gelegen, telephonisch hierher meldet, arbeitet allerdings gut. Dagegen sind die hier stationierten Truppen nicht nur an Zahl, sondern vor allem an Güte wesentlich geringer geworden. An ausgebildeten Truppen liegen zur Zeit hier nur 3 Kompagnien des 132. Regiments, jede etwa 180 Mann stark. Selbst diese lassen jedoch, auch nach dem Urteile des Kommandanten, an Ausbildung sehr viel zu wünschen übrig. Drei weitere Kompagnien bestehen aus eben erst einberufenen ungedienten Leuten, meist älteren Jahrgängen, die zurzeit militärisch ganz wertlos sind. Teile von Kompagnien liegen in dem eine halbe Stunde entfernten, in der Ebene nahe der Küste gelegenen Dorfe Karaagatsch und an den Hängen zwischen der Stadt und dem den Pass nach Aleppo beherrschenden Flecken Beilan. Artillerie ist nicht vorhanden. Schützengräben sind an verschiedenen Stellen dicht bei der Stadt, ja noch in ihrem Weichbilde, und in der sich beiderseits erstreckenden sumpfigen Ebene, sowie an einigen Hügelhängen beilanwärts - deutlich sichtbar - angelegt und durchweg primitiv. Drahtverhaue oder sonstige Hindernisse finden sich in der Ebene nirgends. Ebenso wenig sind die vielen Sümpfe e[unleserlich]lich der Verteidigung nutzbar bemacht.

Aus dem Ganzen gewinnt man den Eindruck, dass eine ernstliche Verteidigung der Stadt Alexandrette gegen einen tatkräftigen, auch mit geringen Kräften unternommenen Besetzungsversuch mit diesen Mitteln unmöglich und anscheinend auch nicht geplant ist, wenn schon bei jedem Auftauchen eines feindlichen Kriegsschiffes die Besatzung mehr oder weniger ungeschickt nahe dem Ufer hinter Mauern und Häusern postiert wird.

Vielleicht rechnet man in Militärkreisen damit, dass - von wichtigeren politischen und militärtechnischen Gesichtpunkten abgesehen - eine blosse Inbesitznahme Alexandrettes ohne Vormarsch ins Innere dem Gegner nichts nützen kann und von daher von ihm nicht ins Auge gefasst werden wird, sowie damit, dass sich für eine Landung zwecks Angriffs auf die Hauptetappenstrasse Adana-Mamureh-Radschu bequemer gelegene und gesundere Punkte der Küste für eine Landung finden.

Es mag indessen dahingestellt bleiben, ob nicht der Klang, den Alexandrette als „der Hafen der Bagdadbahn“ oder „der andere Endpunkt der Bagdadbahn“ (der eine: Bassra) im feindlichen Ausland hat, zu einer Besetzung aus Reklamerücksichten verlocken könnte. Der minderwertige Zustand der Verteidigungsmassregeln darf dabei dem Gegner als bekannt vorausgesetzt werden, da Persönlichkeiten wie der hiesige italienische Wahl-Vizekonsul, der vor einigen Wochen das Land verliess, den Gegnern darüber zweifellos reinen Wein eingeschenkt haben werden.

Eine ernstliche Verteidigung scheint erst auf der Passstrasse vor Beilan (14 km von Alexandrette) geplant zu sein, die von Alexandrette über die Ausläufer des Amanusgebirges etwa 500 m hoch in die Aleppoebene führt. (Alexandrette-Aleppo: 157 km), Der Beilanpass eignet sich seiner ganzen Bodengestaltung nach zu einer nachdrücklichen Verteidigung. Von irgendwie auffällig starken Verteidigungsvorkehrungen ist allerdings auch bei Beilan nichts zu sehen. Auch ist die Besatzung letzthin durch Abkommandierungen anlässlich der Armenierunruhen bedeutend unter den Stand eines Bataillons gesunken. Offenbar rechnet man höheren Orts damit, dass selbst im Fall einer Besetzung Alexandrettes genügend Zeit zur Organisierung einer kräftigen Verteidigung des Passes bleiben wird.

Die Bevölkerung der Stadt Alexandrette, die vor dem Kriege etwa 12000 Seelen betrug, ist durch Abreise und Flucht, besonders nach den verschiedenen Aktionen feindlicher Kriegsschiffe, ferner durch Ausweisung und letzthin durch die Verschickung aller Armenier auf ein Drittel gesunken. Das Geschäftsleben ist dem Nullpunkt nahe. Aus- und Einfuhr steht seit Monaten still. Der letzte Handelsdampfer lief Alexandrette im April an. Das Elend der ärmeren Bevölkerungsteile - die weit überwiegen - ist infolgedessen schon seit Monaten gross und in letzter Zeit durch die Verheerungen der Heuschrecken noch gestiegen. Ihm entspricht die stille Sehnsucht der christlichen, aber selbst eines Teiles der muhammedanischen Bevölkerung nach feindlicher Besetzung (derjenigen Muhammedaner nämlich, die ihrem Land auch heute noch die Fähigkeit nicht zutrauen, wieder in die Höhe zu kommen).


Hoffmann



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