1915-11-11-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 20025
Zentraljournal: 1915-A.S.-5653
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Telegramm-Abgang: 11/12/1915 12:50 AM
Telegramm-Ankunft: 11/12/1915 06:55 PM
Praesentatsdatum: 11/12/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 2641
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Geschäftsträger in Konstantinopel (Neurath) an das Auswärtige Amt

Telegraphischer Bericht


Pera, den 11. November 1915

Nach wiederholten Unterredungen über die evtl. Abtretung des Dodekanes an Griechenland ist heute morgen Halil Bey hier erschienen und hat mir folgendes mitgeteilt:

Im gestrigen Ministerrat habe gelegentlich einer Diskussion der allgemeinen Lage eine Erörterung über die Endziele des gegenwärtigen Krieges stattgefunden. Seine Minister Kollegen und er seien sich darüber einig, daß als Ziel des Krieges ein dauernder Friede auf dem Balkan angestrebt werden müsse. Dies zu erreichen sei nur möglich, wenn die berechtigten nationalen Aspirationen der Balkanstaaten eine volle Befriedigung fänden. Bulgarien werde - siegreichen Ausgang des Krieges vorausgesetzt - durch den Erwerb Mazedoniens und des östlichen Serbiens bis zur Morawa einen ungeheuren Gebietszuwachs erfahren. Um sich gegen eventuelle Angriffe von der Balkanseite her zu sichern und als Entschädigung für die schweren Opfer des Krieges müsse die Türkei deshalb nicht nur die soeben an Bulgarien abgetretenen Gebiete wieder erhalten, sondern das ganze frühere Vilajet Adrianopel mit Westthrazien einschließlich Gumuldjina und Ottodj . Ferner sei zur Sicherung der Dardanellen der Besitz der großen Inseln Lemnos, Imbros, Chios unbedingt erforderlich. Um Bulgarien für die Aufgabe von Dedeagatsch zu entschädigen müsse es Kavalla erhalten. Griechenland könne mit Südalbanien eventuell noch mit dem Landstrich bei Doiran und Gewgeli entschädigt werden. Es gewinne dadurch ein großes fruchtbares Gebiet, das mehr wert sei als die Inseln und der Küstenstrich mit Kawalla. Außerdem aber würde die Türkei bei einer solchen Regelung der Gebiete auch bereit sein, den Dodekanes an Griechenland abzutreten und mit ihm einen Bündnisvertrag zur gegenseitigen Sicherung des Besitzstandes abzuschließen.

Halil Bey erklärte weiter, er verkenne nicht, daß Deutschland und speziell Seine Majestät der Kaiser eine gewisse moralische Verpflichtung gegenüber der mutvollen und entschlossenen Haltung Königs Konstantin habe. Die Vergrößerung Griechenlands durch Südalbanien sei jedoch so bedeutend, der Gewinn durch einen friedlichen Ausgleich die dauernde Konsolidierung der Verhältnisse auf dem Balkan zu sichern so groß, daß die Abtretung von Kavalla nebst Thasos an Bulgarien, sowie der Inseln an die Türkei, dagegen keine Rolle spielen. Würde Kavalla jetzt nicht an Bulgarien gegeben, so sei mit Sicherheit darauf zu rechnen, daß das nach siegreichem Kriege Griechenland weit überlegene Bulgarien sich früher oder später mit Gewalt in den längst angestrebten Besitz des genannten Gebietes setzen würde. Eine dauernde Beruhigung des Balkans werde vorher jedenfalls nicht eintreten.

Halil Bey bat mich, seine mündlichen Ausführungen, die er auch Markgraf Pallavicini gemacht habe, Euerer Exzellenz mitzuteilen und um eine Äußerung zu bitten, ob die Kaiserliche Regierung bereit wäre, eine Regelung der Balkanverhältnisse auf der angegebenen Basis herbeizuführen und nach Verständigung mit der österreichischen Regierung dahin zielende Verhandlungen mit Bulgarien und Griechenland zu unterstützen.

Durch die vorstehenden Ausführungen ist mein mit Telegramm 2538 in Aussicht gestellte eingehender Bericht überholt und hinfällig geworden.


[Neurath]



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