1915-11-17-DE-006
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Quelle: DE/PA-AA/R 20027
Zentraljournal: 1915-A-33407
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 11/18/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 499
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Gesandte in Den Haag (Kühlmann) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Haag, den 17. November 1915

Die Debatte im englischen Unterhause am Montag, den 15. November, war eine der interessantesten seit langer Zeit. Wie zu erwarten stand, fühlten die aus dem Kabinett geschiedenen Minister Churchill und Carson das Bedürfnis, ihre Politik und die Gründe ihres Ausscheidens dem Lande gegenüber ausführlich darzulegen. Hierbei ist es nicht ohne eine ganze Anzahl interessanter Indiskretionen abgegangen.

Ohne auf die Einzelheiten der sehr langen Debatte einzugehen, möchte ich nur einige Punkte, die auch für die zukünftige Gestaltung der Lage nicht ohne Bedeutung sind, herausheben:

Churchill spricht in seiner Rede von „amphibischen“ Aktionen, d.h. solchen, bei denen Heer und Flotte zusammenwirken. Die Vorliebe für solche amphibischen Aktionen liegt den Engländern ausserordentlich stark im Blute. Jede nicht amphibische Aktion ist ihnen von vornherein unsympathisch, und man darf deshalb, will man englische Pläne vorausberechnen, diese Eigenart immer mit einstellen. Churchill spricht davon, dass bei der ersten Flottenattacke auf die Dardanellen man den Plan einer zweiten amphibischen Expedition an einem anderen Orte vorbereitet habe, um den aus der Aufgabe des Dardanellenunternehmens entspringenden Prestigeverlust sogleich wieder wett zu machen. Ich habe den starken Verdacht, dass die Gegend zwischen Adana und Alexandrette der Schauplatz dieser alternativen Expedition gewesen wäre. Sie wird man auch ferner immer im Auge behalten müssen.

Höchst belehrende Streiflichter auf die Vorgeschichte der Salonikexpedition wirft die Rede Sir Edward Carsons. Das englische Kabinett war - sehr verständiger Weise - zu dem Ergebnis gelangt, es habe keinen Zweck Serbien Hilfe zu schicken, da diese auf alle Fälle zu spät käme. Erst auf dringende Vorstellungen der Franzosen, insbesondere Joffres, wurde dieser Standpunkt verlassen. Es muss auffallen, dass der sonst so vorsichtige Asquith in seiner Erwiderung auf die Carson’schen Angriffe, die - nebenbei gesagt - verdienen, im Balkan, insbesondere Bulgarien, Serbien, Griechenland und Rumänien, niedriger gehängt zu werden, gleich ein paar kräftige Unvorsichtigkeiten sich leistete. Er enthüllte, dass eine Division nach Salonik geschickt worden sei, dass aber die übrigen nach dem Osten entsandten Truppen weder nach Salonik noch nach den Dardanellen, sondern nach Alexandria dirigiert worden seien, wo sie bereit gehalten werden sollten, um da, wo das Bedürfnis am dringendsten sei, eingesetzt zu werden. In diesem Zusammenhang ist es nicht ohne Interesse, darauf hinzuweisen, dass nach der Rede Churchills er schon am 30. November 1914 mit Kitchener den Plan bearbeitete, eine Armee in Egypten aufzustellen, deren erster Echelon 40000 Mann betragen sollte, um dann mit dieser Armee im östlichen Mittelmeere da einzugreifen, wo es am notwendigsten schien. Dies alles wird man nicht aus dem Auge verlieren dürfen, wenn man eine Wahrscheinlichkeitsberechnung über Kitcheners jetzige Pläne im Ostbecken des Mittelmeeres aufstellt.

Aus Mr. Asquiths kurzen Bewerkungen kann man noch weitere bedeutungsvolle Folgerungen ziehen. Das englische Kabinett hat zwar, den französischen Bitten nachgebend, eine kleine Truppenmacht nach Salonik entsandt, die weiter verfügbar werdenden Truppen aber nach Egypten dirigiert. Daraus folgt meines Erachtens mit voller Klarheit, wie dies ja auch aus den anderen Ministerreden - insbesondere Lord Lansdownes im Oberhause - hervorgegangen ist, dass England im Grunde die Salonikexpedition nach wie vor für eine aussichtlose Sache hält und nicht gewillt ist, sich dort stark zu engagieren. Denn um in Salonik bedeutende Truppenmassen zu landen, ohne die Dardanellen zu schwächen, bei gleichzeitiger Aufstellung einer leistungsfähigen Armee in Egypten, hat England bei weitem nicht genug verfügbare Truppen.

Diese Fingerzeige für die wahren Absichten Englands sind sehr wertvoll und verdienen ebenfalls die weiteste Verbreitung.

Die von Salonik aus gegen die bulgarische Grenze vorgeschobenen Ententetruppen sollten unseren Truppen und den Bulgaren eine Chance bieten, einen eklatanten Erfolg in der Feldschlacht davonzutragen, wie er bei der Kriegführung auf dem westlichen europäischen Kriegsschauplatz sicher nicht mehr gegeben ist. Eine schwere, augenfällige Niederlage würde das Prestige der Entente im Balkan und im nahen und fernen Orient noch schwerer erschüttern, als dies durch die Dardanellenmisserfolge schon geschehen ist, und würde Frankreich vor die schwere Entscheidung stellen, entweder weitere unentbehrliche Truppen der Westfront zu entziehen und in das aussichtslose Balkanunternehmen zu werfen oder seine Niederlage einzugestehen und unter dem Spott der Griechen aus Salonik abzuziehen. Die Haltung Englands in dieser Frage, zweckmässig beleuchtet, dürfte auch dazu beitragen, zwischen Frankreich und England neue Verstimmungen entstehen zu lassen.

Nicht unerwähnt soll die vernünftige und gemässigte Friedensrede des früheren Unterstaatssekretärs im Ministerium Asquith, Herrn Trevelyans, bleiben. Es wäre aber ganz falsch, die praktische Bedeutung dieser Rede zu überschätzen. Mr. Bonar Law, der gewöhnlich eine ausserordentlich unglückliche Hand hat, machte den schweren Fehler, unter den Kriegszielen Englands in erster Linie die Rückgabe von „Alsace-Lorraine“ zu nennen. Dafür kann sich in England kein Mensch erwärmen, und wenn dort die Überzeugung allgemein werden sollte, dass die Opfer an Geld und Blut dafür gebracht werden, dann allerdings würden die Anschauungen des Herrn Trevelyan bald eine unabsehbare Schar von Anhängern zählen.

Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, dass Carson, der sich jetzt mehr und mehr zum Wortführer einer gefährlichen Opposition entwickelt, fortfahren wird, die Regierung zu allerlei Enthüllungen und Zugeständnissen zu drängen, die England schaden und seinen Feinden scharfe Waffen liefern.


Frv. Kühlmann



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