1915-12-15-DE-006
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Quelle: DE/PA-AA/R 20036
Zentraljournal: 1915-A-36980
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 12/23/1915 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 722
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Wolff-Metternich) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Auf der Fahrt von den Dardanellen nach Constantinopel, den 15. Dezember 1915

Einer Einladung des Marschalls Liman von Sanders folgend, war ich zwei Tage an den Dardanellen. Da der Seeweg durch feindliche Unterseeboote unsicher ist - bei dem letzten Sturme ist das Stahlnetz, welches an der engsten Stelle vom europäischen zum asiatischen Ufer gelegt war, gerissen und mehrere Unterseeboote sind in die Meerengen eingedrungen - wählte ich auf Anraten der Marine den Landweg. Die erste Strecke wird mit der Eisenbahn zurückgelegt bis Usunköprü. Von dort wird die Etappenstrasse benutzt bis zu den Stellungen des Marschalls. Usunköprü bot ein lebhaftes militärisches Bild. Die Folgen des serbischen Feldzuges waren hier schon sichtbar. Ein großer Teil der für die II und V Armee bestimmten Zufuhr wird dort ausgeladen, ein anderer Teil geht nach Constantinopel weiter, um auf dem Wasserwege an die Dardanellenfront gebracht zu werden, allerdings augenblicklich mit Zittern und Bangen für die Ladung infolge der U-Boot-Gefahr. Die Etappenstraße von Usunköprü führt zunächst durch das Gebiet der II Armee, welche Hilmi Pascha untersteht, bis an den Golf von Saros. Dort schließt sich die V Armee unter dem Marschall Liman von Sanders an. Dieser einzige Etappenweg ist zum Teil sehr schlecht und bei Regenwetter für schweres Fuhrwerk und Automobile unpassierbar. Zahlreiche Arbeitsbataillone bessern die Strasse aus. Überall herrscht lebhaftes militärisches Treiben. Lange Reihen von beladenen Kamelen, die kleinen aus Syrien, die großen starken Tiere aus Anatolien, von Maultieren, Eseln, Pferden, Ochsen- und Büffelgespannen ziehen die Strasse entlang.

Der Marschall und sein Stab wohnen in einem gegen Fliegersicht gedeckten Pinienwäldchen, der Marschall in einer Asbestbaracke, der Stab in gemauerten Unterständen. Die ganze Anlage ist äußerst einfach und dürfte vielleicht mit unserer Westfront verglichen, der Unterkunft eines Bataillons-Stabes entsprechen. Der Marschall führte mich am ersten Tage im Automobil, zu Fuß und zu Pferde zum linken Flügel der Nordstellung vor der Suvlabucht. Auch dem nicht-militärischen Auge fällt der grossartige Ausbau des Schützengrabensystems auf. An langgedehnten Abhängen vor dem feindlichen Feuer geschützt ziehen sich die Unterstände für die Reserven hin. Da die Gegend durchweg gebirgig ist, so gewinnt man leicht einen Überblick über die Stellungen. Die Bergabhänge sind derart durchlöchert und mit einem Netz von Gräben durchzogen, dass sie aus einiger Entfernung beobachtet an einen ungeheuren Kaninchenbau erinnern. Aus den vorderen Linien überblickt man die langgestreckte Linie der Engländer am Meere, die sich bis zum Damme der ersten Erhöhung hinzieht und von den Kriegsschiffen gedeckt wird. Die Annahme, dass sich die feindliche Flotte vor unseren Unterseebooten in versteckten und gesicherten Häfen zurückgezogen hätte, beruht auf Irrtum. Die feindlichen Kriegsschiffe liegen ganz ruhig sowohl in der Suvlabucht, sowie an der Südspitze der Dardanellen und beschiessen tagtäglich die türkischen Stellungen. Insbesondere sind die Monitore gefürchtete Feinde.

Der Marschall klagte sehr über die mangelhafte Bekleidung der ihm unterstellten Armee. Die Mannschaften seien noch in ihren Sommeranzügen, die mit der Zeit zerrissen und zerfetzt worden seien. Bei der vor 14 Ttagen vorübergehend eingetretenen Kälte seien eine Anzahl Leute erfroren. In der Tat machte die Bekleidung der Mannschaft einen äußerst dürftigen und zerlumpten Eindruck. Von meinem Vorgänger wurde Ende September durch die deutsche Regierung an Enver Pascha 40 Millionen Mark ausgehändigt unter der ausdrücklichen Bedingung, dass sie für die V Armee verausgabt werden sollten. Was mit dieser Summe für seine Armee geschehen ist, wußte der Marschall nicht anzugeben. Auch die inzwischen durch das Kgl. Preußische Kriegsministerium für die Dardanellenarmee abgesandten zahlreichen Monturen sind bisher dieser Armee noch nicht zugekommen. Der Marschall versicherte mir, daß nicht ein einziger Soldat seines Heeres ein deutsches Bekleidungsstück besitzt. Ich bin der Ansicht, dass bei den in Aussicht genommenen, um das doppelte zu vermehrenden Vorschüssen für die Türkei bei Verwendung der Gelder eine genaue Kontrolle durch einen deutschen Finanzmann verlangt werden muss, da unser Geld zu gut ist, um die weiten Taschen von Komiteemitgliedern und deren Hintermänner zu füllen.

Auch sollte ausbedungen werden, dass der Einkauf von Rohmaterialien, insbesondere Wolle, durch die deutsche Kommission auf dem freien Markte ungehindert geschehen darf und nicht, wie die Türkische Regierung es wünscht, ausschliesslich durch die General-Intendantur vermittelt werden muss. Der General-Intendant, Hakki Pascha, hat sich schon in Freundeskreisen, wie mir berichtet worden ist, damit gebrüstet, daß er den Deutschen die Wolle für einen 4 mal höheren Preis, als sie wert ist, verkaufen wird. Es ist unnötig, dass wir das bodenlose türkische Finanzloch ohne Vergütung stopfen und uns ausserdem noch übers Ohr hauen lassen sollen. Verpflichten wir uns bedingungslos zu ferneren und erhöhten Vorschüssen, so werden wir ausgebeutet werden. Es wäre dringend zu wünschen, dass unsere militärischen Stellen, welche die neuen Vorschuss-Verhandlungen mit der Türkei angebahnt haben, diesen Gesichtspunkt berücksichtigen.

Den zweiten Tag verbrachte ich auf Veranlassung des Marschalls an der asiatischen Seite der Dardanellen. Ich setzte von Kilia Liman nach Tschanakkalé über und wurde dort von Admiral Merten begrüsst. Ich fuhr sodann in militärischer Begleitung mit Automobil nach der türkischen Geschützstellung von Intepé in der Nähe des Ausgangs der Dardanellen. Von dort sah man deutlich zunächst die französischen und daran anschließend einen Teil der englischen sowie die gegenüberliegenden türkischen Stellungen. Hinter einem Lazarettlager spielten die Engländer Fussball.

Auf dem Meere schaukelten sich mindestens ein halbes Dutzend feindlicher Kriegsschiffe. Sodann begab ich mich nach den Überresten von Troja. Was noch davon übrig geblieben ist, ist römischen Ursprungs. Diese Stätte homerischer Sagengesänge liegt mehr im Inlande und bietet einen vorzüglichen Überblick über den heutigen Kampfplatz an der Dardanellenmündung. Die Geschützstellung bei Intepé wurde inzwischen von einem feindlichen Monitor ziemlich heftig beschossen. Auf dem Rückwege zeigte mir Admiral Merten das in der Nähe von Tschnakkalé gelegene alte und neue Fort Hamidie, von wo aus im März des Jahres hauptsächlich die feindliche Flotte, die den Durchgang zu erzwingen suchte, beschossen und mit Verlust von 4 Kriegsschiffen zurückgetrieben wurde. Das alte Fort Hamidie, ein mächtiger viereckiger Bau mit Mauern von mehreren Metern Dicke, von den türkischen Eroberern angelegt, zeigte mehrere Schüsse aus den Kämpfen dieses Frühjahrs. Eine 35 cm. Granate der Queen Elizabeth hat ein Ecke des Turms weggerissen, ist dann durch eine Tormauer der äusseren Umfassung gedrungen und hat schliesslich ein Haus, in dem sich die Telefoncentrale befand, zerstört. Eine andere Granate hat die aussergewöhnlich dicke Steinmauer des Forts durchschlagen und im Innern Verwüstungen angerichtet. In Tschanakkalé bot mir darauf Admiral Merten in seinem von einem hübschen Garten umgebenen, wohnlich eingerichteten Hause einen vorzüglichen, von Borchardt in Berlin herstammenden Imbiss an. Während meines Besuches bei Admiral Mertens warf ein feindlicher Flieger einige Bomben in die Nähe des Hauses. Auf der Überfahrt wurde mir die Sperre der Meerenge gezeigt, die aber leider wegen mangelnden Stahlnetzes nicht mehr funktioniert, sodass die Verpflegung der Dardanellenarmee auf dem Wasserwege durch Unterseeboote sehr gefährdet ist.

Auf der Halbinsel von Gallipoli gibt es ausser dem Militär und den Arbeiterkolonnen keine Einwohner mehr, aber auch weiterhin in Ost-Thrazien ist trotz des fruchtbaren Bodens alles wüst und leer. Der Balkankrieg und der jetzige Krieg haben die Gegen ausgesogen und menschenleer gemacht. Ob es nach dem Kriege der türkischen „Kultur“ gelingen wird, aus der Einöde die vordem blühende Gegend wieder hervorzuzaubern, bleibt dahingestellt. Ich selbst glaube nach dem, was ich bisher gesehen habe, nicht an die Regeneration der Türkei Es fehlen hierzu alle Bedingungen: Redlichkeit, ein tätiger Mittelstand, ein gesicherter Rechtszustand und eine gesunde untere Volksschulbildung. Von einer Clique, die sich mit Schlagworten wie „liberté, droit civil pour tous, constitution“ brüstet, und daneben Hunderttausende von unschuldigen Menschen hinschlachten lässt, halte ich nicht viel.

In einem Land, wo jeder Rechtsbegriff fehlt, und von einem unparteiischen und gebildeten Richterstand gar nicht die Rede sein kann, sollen die Deutschen nunmehr ohne den Schutz der Kapitulationen weiterbestehen. Die einen sagen: es ist besser dann auszuwandern. Die anderen sagen: Jetzt wird es den Europäern erst recht gut gehen in der Türkei. Denn bisher kam der Europäer, wenn er in Streit mit den Türken lag, vor die unparteiische Konsulargerichtsbarkeit und konnte daher seinen Prozess verlieren. Jetzt aber kommt er vor den türkischen Richter, und da der Europäer in der Regel mehr Geld hat wie der Eingeborene und es auch richtig anzuwenden weiss, wird ihm der Richter das Recht zusprechen. Auch bezweifle ich, dass nach dem Krieg eine Ära besonderer Betätigung für die Deutschen eintreten wird. Die Türken knirschen schon jetzt unter dem angeblichen deutschen Joch, wo sie uns noch notwendig haben und ohne uns den Krieg garnicht führen könnten. Nach dem Kriege hat die Türkei vor Allem Geld nötig und wird es wie vorher auch von den Westmächten gegen zu gewährende wirtschaftliche Vorteile mit Vergnügen annehmen. Es wird sehr bald dann eine Reaktion gegen die sogenannte deutsche Vormachtstellung eintreten.

Einige mehr oder weniger jugendliche Schwärmer bei uns, die sich von den hiesigen Machthabern haben einlullen lassen, sind allerdings anderer Ansicht.

Sollte mich ein längerer Aufenthalt hier eines besseren belehren, so wird es mich freuen dies zu berichten


P. Metternich



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