1915-12-31-DE-001
Deutsch :: de
Home: www.armenocide.net
Link: http://www.armenocide.net/armenocide/ArmGenDE.nsf/$$AllDocs/1915-12-31-DE-001
Quelle: DE/PA-AA/R14089
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


C. Adolf Bratter: Die armenische Frage.






Es konnte nicht ausbleiben. In dem Maße, indem die Wahrscheinlichkeit dahinschwand, daß den verbündeten Feinden Deutschlands, Österreich-Ungarns und der Türkei der endgültige Sieg zufallen werde, steigerte sich bei ihnen das Bedürfnis, Deutschland und seine Bundesgenossen moralisch zu vernichten. Die belgischen Greuel verfingen nicht mehr. Selbst in Amerika, wo man sich am längsten und am hartnäckigsten gegen die Wahrheit versperrt hatte, fing man an, die Berichte vom deutschen Blutdurst, von geschlachteten Kindern und langsam hingemordeten Weibern phantasielos und langweilig zu finden. Man merkte das Klischee und die ungeschickte ”Aufmachung”. Die ”managing editors” der gelben Blätter waren in Verlegenheit um neue ”spreads”, wie man drüben die zollgroßen Überschriften über die ganze Seitenbreite heißt. Die öffentliche Meinung war mit ”German atrocities” übersättigt. Die heilige Flamme der Entrüstung über die ”unaussprechlichen Deutschen”, die unsere Feinde im neutralen Auslande zu hellen Gluten entfacht hatten, drohte zu erlöschen.

Da hieß es, für neue Flammenherde sorgen. Die Minderung des deutschen Ansehens in der Welt ist einer der wichtigsten Faktoren in den Berechnungen unserer Feinde. Und sie haben diesen Faktor, wie wir zu unserem großen Leidwesen erfahren mußten, nicht erst seit dem Kriegsbeginn wirksam ausgestaltet. Seit Jahrzehnten geht diese Wühlarbeit vor sich; ihre stärksten Werkzeuge sind der Konsularbericht und die Zeitung. Namentlich die Zeitung, das heißt die öffentliche Meinung, deren ungeheure Bedeutung wir so lange übersehen haben, bis uns die Augen gewaltsam geöffnet wurden.

Die Engländer, auf dem von uns gering geachteten Instrument unübertroffene Meister, haben den Erlaß für die ”deutschen Greuel” bald gefunden. Ohne sonderliche Anstrengung. Sie griffen auf ein altes, bewährtes Repertoirestück zurück, das vor gar nicht langer Zeit eine sehr erhebliche Zugkraft auf die öffentliche Meinung ganz Europas ausgeübt hatte. Sie holten es aus ihren Archiven hervor und modernisierten es ein wenig. Nur ganz wenig, wie später eingehend nachgewiesen werden wird. Sie haben sich wirklich nicht in große Unkosten gestürzt. Wir kennen die Weise, wir kennen den Text, wir kennen auch die Herren Verfasser. Ganz genau kennen wir sie.

Man hat lediglich die ”armenischen Greuel” aus den Geheimkammern der englischen Orientpolitik hervorgezogen und sie den Zeitumständen entsprechend appretiert.

Die Kennzeichen dieser armenischen Greuel sind jetzt ganz genau dieselben wie in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Hier das Rezept:

Die revolutionären Armenier werden von England oder Rußland zu Aufständen, zu Empörung und Landesverrat aufgestachelt. Die von tiefster Erbitterung erfüllten Türken, die seit Jahrzehnten diese Zettelungen vergebens zu unterdrücken suchen, nehmen furchtbare Rache. Im Orient reißt man die entfesselte Volkswut alle Schranken der Menschlichkeit, ja oft des Menschlichen nieder; die Rache fordert ungezählte Opfer, darunter viele Schuldlose. Und diese Ausbrüche einer wahnwitzigen Wut werden von den armenischen Verschwörern vorsätzlich und planmäßig provoziert, um die Aufmerksamkeit Europas auf die ”türkische Bestialität” zu lenken und Europa zum Einschreiten zugunsten der Armenier, das heißt zur Lostrennung eines erheblichen Gebietes der asiatischen Türkei von der ottomanischen Herrschaft, zu veranlassen.

Das ist in der Regel der Ausgangspunkt, der Inhalt und der Zweck der ”armenischen Greuel” gewesen.

Die jetzigen haben einen womöglich noch ernsteren Hintergrund. Und sie beleuchten womöglich noch schärfer die englisch-russische Infamie.

Es wird in nicht allzu ferner Zeit aktenmäßig dargelegt werden, daß England mit Hilfe Rußlands und Frankreichs in Armenien eine weitverzweigte Verschwörung angelegt hat zu dem Zwecke, einen allgemeinen Aufstand in dem Augenblick hervorzurufen, in dem die Verbündeten in die Dardanellen eingedrungen wären. Die Engländer hatten den Aufruhr sehr sorgfältig vorbereitet. Die Armenier waren mit Waffen und Munition in großen Mengen, ja sogar mit Polizei-Uniformen für die von den Armeniern zu errichtende provisorische Regierung versehen. Es war die größte Verschwörung, die England je im Orient angezettelt hat, und das will viel sagen. Es war eine Verschwörung, die den Bestand des türkischen Reiches bedrohte, denn ihr Zweck war, Konstantinopel den Verbündeten in die Hände zu spielen. Zum Unglück für die Armenier brach der Aufstand vorzeitig los; gleichzeitig wurde die Verschwörung der türkischen Regierung verraten. Das Strafgericht war furchtbar, traf aber nicht ausschließlich die armenischen Verschwörer. Die Führer des Aufstandes in Arabien, sämtlich Mohammedaner, wurden ebenso grausam bestraft. Der Scheich Abdul Kerim und 21 seiner Anhänger wurden gehängt, 100 andere gepeitscht und zu schweren Gefängnisstrafen verurteilt.

Es wird in nicht allzuferner Zeit gleichfalls bewiesen werden, daß armenische Revolutionäre in diesem jetzigen Kriege eine Zeitlang die größten Städte des armenischen Hochlandes besetzten und sie den Russen auslieferten. Daß diese armenischen Banden überall mit russischen Waffen ausgerüstet waren, am Van-See mit russischen Truppen gegen die Türkei kämpften, so daß diese Kämpfe sogar in den amtlichen Petersburger Kriegsberichten als ”Siege” verzeichnet wurden. Daß die Mehrzahl der armenischen Bevölkerung in der Asiatischen Türkei sich in diesem Kriege neutral erklärte (!), anstatt für die Türkei gegen Rußland zu kämpfen.

Es wird unter Beweis gestellt werden, daß der englische Konsul in Mersina den Armenier-Aufstand im Vilajet Adana im April 1909 angezettelt hat. Ebenso daß einige Jahre zuvor 40000 Armenier, die an einem Aufstande beteiligt waren, mit Erlaubnis und Hilfeleistung der russischen Regierung nach Kaukasien flüchteten.

Es war die selbstverständliche Pflicht der ottomanischen Regierung, gegen die Landesverräter und Reichsfeinde mit der größten Schärfe vorzugehen. Daneben sind freilich viele, sehr viele Unschuldige mit getroffen worden. Die asiatische Tradition ist aber auch in diesen Dingen anders, als die europäische. Das weiß man in – Rußland ganz genau. Ebenso in England. Die Türken werden mit den armenischen Revolutionären nicht viel grausamer umgegangen sein, als die Engländer in ihrer Kolonialgeschichte häufig genug in Indien und Afrika, als die Russen noch bis in die jüngsten Tage mit den politischen ”Verbrechern” und den Juden verfahren sind. Und die Amerikaner, die eben jetzt wieder den Engländern behilflich sind, eine neue ”armenische Greuel”-Kampagne ins Werk zu setzen, täten besser, an das Märtyrertum ihrer Indianer, Neger und an ihre Sklavenschlächtereien zurückzudenken, an die Bestialität ihrer Lynchgerichte, an die Tausende von Arbeitern, die in den riesigen Lohnkämpfen, die sich drüben abspielten, von Polizei, Miliz und gedungenen Hilfstruppen unbarmherzig niedergeknallt wurden.


II.

Als die türkische Regierung gegen die armenischen Hochverräter und Spione einschritt, hatten die Entente-Regierungen die unerhörte Dreistigkeit, in einer öffentlichen Kundgebung die türkischen Minister in aller Form zu ächten, ihnen öffentlich anzudrohen, man werde sie persönlich für alle Maßnahmen gegen die Armenier verantwortlich machen. Die Agence Havas verbreitete am 24. Mai 1915 die Mitteilung, daß Frankreich, Großbritannien und Rußland übereingekommen seien, folgende Erklärung zu publizieren: Die türkische Regierung würdigte diese anmaßende Drohung keiner Entgegnung. Dagegen wandte sie sich, um einer neuerlichen Aufpeitschung der öffentlichen Meinung Europas durch englische Greuelberichte rechtzeitig entgegenzutreten, mit einer eingehenden Schilderung des Sachverhalts, so wie er sich aus ihren Untersuchungen ergeben hatte, an das neutrale Ausland. Der Einwand, daß diese Schilderung einseitig gefärbt sein könne, ist wenig stichhaltig. Die ausführlichen Angaben der türkischen Regierung sind gewiß nicht weniger vertrauenswürdig, als die knappe, ganz vage und unbewiesene Behauptung der drei verbündeten Regierungen, es hätten ”seit etwa einem Monat Massakers stattgefunden”. Die Entente, die um jeden Preis Material gegen die Türkei sucht, hat dem neutralen Auslande gegenüber sicherlich keinen begründeten Anspruch auf unbedingte Glaubwürdigkeit. Zudem kennt man die berüchtigte englische Praxis, ”Beweise” für eine vorgefaßte Anklage zu beschaffen, allerorten zur Genüge.

In der türkischen Gegenerklärung heißt es:

Diesen Ausführungen ließ die türkische Regierung Mitte Juli 1915 die nachstehenden ergänzenden Mitteilungen folgen: Einer der Haupträdelsführer der revolutionären Armenier ist Boghos Nubar Pascha, ein früherer ägyptischer Minister, Sohn des bekannten verstorbenen ägyptischen Ministers des Äußeren Nubar Pascha. Boghos, ein Armenier, wird von dem Konstantinopeler Kriegsgericht beschuldigt, unter Ausnutzung des Kriegszustandes sich in den Dienst der Mächte des Dreiverbandes gestellt zu haben, um aus den östlichen Provinzen der asiatischen Türkei ein unabhängiges Armenien zu schaffen, mit Genehmigung des armenischen Katholikos von Etschmiadzin bei den Armeniern Geldsammlungen veranstaltet zu haben, deren Ergebnisse er zur Anwerbung armenischer Freiwilliger für die im Kaukasus operierende russisch Armee und zur Unterstützung von Armeniern verwendete, die den Aufstand gegen die ottomanische Regierung verkündigt hatten. Ferner wird er beschuldigt, in den in Amerika erscheinenden armenischen Blättern Aufrufe an die gesamte armenische Nation veröffentlicht zu haben, in dem diese zum Aufstand aufgefordert wurde, und die durch den Balkankrieg verursachte Schwäche der Türkei benutzt zu haben, um sich in der Eigenschaft eines Delegierten der gesamten armenischen Nation an die Spitze der armenischen Komitees zu stellen und in den Hauptstädten der Mächte des Dreiverbandes Feindseligkeiten gegen die ottomanische Regierung zu unternehmen, um ein unabhängiges Armenien unter ausländischer Kontrolle zu schaffen. Daß die Fäden der von Boghos Nubar geleiteten Verschwörung im russischen Gouverneurspalast zu Tiflis zusammenlaufen, ist längst erwiesen.


III.

Ein besonders beachtenswerter Zug in dem armenischen Gesamtbilde ist die eigentümliche Art, in der Amerika die englisch-russische Hetze gegen die Türkei unterstützt. Daß dies nicht ohne eine ganz bestimmte tendenziöse Absicht geschieht, ist klar. Diejenigen Elemente in Amerika, die mit Bedauern feststellen mußten, daß die ”Lusitania”- und die ”Arabic”-Affäre den erhofften Bruch mit Deutschland nicht herbeiführten, griffen gierig die armenischen Greuelberichte auf, um auf dem Umwege über die Türkei deren Bundesgenossen, Deutschland, anzugreifen. Man berief sich auf die englischen Berichte, daß die Armenier-Massaker von ”deutschen Agenten” organisiert worden seien. So behaupteten amerikanische Blätter auf Grund englischer Meldungen schlankweg, der deutsche Konsul in Aintab, Rößler, habe die dortigen Massaker ”überwacht”. In Wirklichkeit ist ihm von ausgesprochenen Armenierfreunden (so in den ”Basler Nachrichten” vom 13. Oktober 1915) bekundet worden, daß er zugunsten der verfolgten Armenier alles getan hat, was in seinen Kräften stand. Noch viel höher hinauf reichen die amtlichen deutschen Versuche, sich der Armenier anzunehmen. Deutschland macht von seinem bundesgenossenschaftlichen Verhältnisse zu Türkei nicht den Gebrauch, den die Entente ihm andichtet. Das gerade Gegenteil ist der Fall. Das amtliche Deutschland hat, soweit es sich überhaupt für befugt hielt, in eine innertürkische Angelegenheit einzugreifen, in Konstantinopel im Sinne weiser Mäßigung den Armeniern gegenüber eingewirkt. Das weiß man in London und in Washington ebenso gut wie in Berlin. Trotzdem hat die amerikanische Regierung nicht allein der Pforte mit dem Abbruch der Beziehungen gedroht, falls ”die Armeniermorde nicht aufhörten”; einer unwidersprochen gebliebenen Reutermeldung zufolge hat man es in Washington auch für angezeigt gehalten, in Unterredungen mit dem deutschen Botschafter mahnende Worte über die armenische Sache fallen zu lassen. Mit welcher Berechtigung dies geschehen ist, soll hier nicht erörtert werden. In Amerika hat man die englisch-russischen Verleumdungen hemmungslos auf sich wirken lassen, weil Amerika ein für derartige gegen Deutschland gerichtet Ausstreuungen günstiger Boden ist. Dasselbe gilt auch von anderen nominell neutralen Ländern. Daß aber jene Verleumdungen auch bei ruhiger denkenden Völkern Eindruck gemacht haben, beweist der nachfolgende, in den Schweizer Blättern veröffentlichte Aufruf: Der Aufruf trägt die Unterschriften von hundert Personen, zumeist Professoren und Geistlichen, aus der Schweiz, der Mehrzahl nach allerdings aus der uns feindlich gesinnten Westschweiz. Die Sammlung von Hilfsgeldern für die Armenier soll in der Schweiz unverzüglich in die Hand genommen werden. Es bestehen hierfür schon Komitees, und weitere werden noch gebildet.

Nicht nur der Aufruf an sich, auch die besondere Art, wie auf das Gefühl der Massen eingewirkt, wie mit groben Pinselstrichen ein Schreckensbild entworfen wird, von dessen Wirklichkeitswert die Unterzeichner keine Ahnung haben, weisen auf England als den intellektuellen Urheber dieser Kundgebung hin. Woher wissen diese Herren das, was sie öffentlich behaupten? Aus welchen Quellen haben sie geschöpft? Wer und wo sind die ”einwandfreien Personen”, die das alles erzählen? Haben die Unterzeichner sich die Mühe genommen oder auch nur Gelegenheit gehabt, sich von der ”Einwandfreiheit” dieser Personen zu überzeugen? Und warum schenken die Unterzeichner dieses Aufrufs den Behauptungen unkontrollierbarer Persönlichkeiten mehr Glauben, als den amtlichen türkischen Erklärungen? Warum reden sie gedankenlos den Unsinn nach, daß es sich um die Ausrottung eines christlichen Volkes handle, daß also die Armenier-Greuel einen religiösen (oder besser gesagt konfessionellen) Hintergrund haben und lediglich dem Zwecke dienen, im ottomanischen Reich alles, was christlich ist, zu vertilgen? Wie viele der Unterzeichner haben von der Geschichte des Armeniertums in der Türkei hinlänglich Kenntnis, um sich ein Urteil erlauben oder gar um Europa gegen die Türkei aufwiegeln zu dürfen?

Ich glaube, alle diese Fragen summarisch beantworten zu können. Diese Herren – und nicht nur sie – stehen, ohne es zu wissen, unter dem Einflusse der raffinierten englischen Stimmungsmache, die seit dreißig Jahren von Zeit zu Zeit einsetzt, so oft England eine türkenfeindliche Bewegung zu irgendwelchen politischen Zwecken braucht. Die ”armenische Frage” ist ein englisches Erzeugnis. Das hat sogar der berüchtigte Lepsius indirekt zugegeben. Der englischen Meisterschaft in der Kunst, in weitesten Kreisen auf das Gefühl und das religiöse Empfinden zu wirken, sich ”Beweise” für alles, was es gerade beweisen will, zu verschaffen, sich gerade in der Psyche der Gebildeten einzunisten und dort eine Saat des Mißtrauens und der Abneigung gegen das jeweilige Objekt auszustreuen: dieser Kunst sind schon vor den Unterzeichnern des Schweizer Aufrufes viele Tausende ausgezeichneter Männer erlegen. England, das den weitaus besten Geheim- und Kundschafterdienst in der Welt hat, verfügt auch über den weitaus besten Apparat zur eindringlichen, zähen und wirksamen Beeinflussung der Gemüter im Mutterlande und in der übrigen Welt. Kalten Herzens und berechnenden Sinnes entwirft es packende, flammende Aufrufe für diesen, gegen jenen, mit nie versagender Sicherheit des Ausdrucks, der Steigerung, der Beschwörung. Seine unzähligen Helfer auf dem ganzen Erdenrund, seine Diplomaten, Konsularbeamten und nichtetatmäßigen Werkzeuge liefern ihm Material für alles, was es braucht. Seine Presse, seine Ausland-Korrespondenten sind ein mit tausend Gehirnen ausgestatteter Kopf, dessen kolossale Gedankenenergie stets auf das jeweilige englische Interesse gerichtet ist, stets den Freund des Tages fördert, den Feind mit dem Arsenal von tausend Intelligenzen bekämpft, schmäht, in der Meinung der ganzen Welt herabsetzt. Und wenn gar, wie es in den Anfängen der pro-armenischen Agitation der Fall war, eine Bewegung von einer so überragenden Persönlichkeit wie Gladstone geleitet und mit gedanklichem Inhalt versehen wird, so begreift es sich, daß diese Bewegung Hunderttausende mit sich fortreißt, die, ohne zulängliche Kenntnis der Materie, die aufreizende Rhetorik und das Truggold einer falschen Sachlichkeit auf sich wirken lassen. Diese englische Meisterschaft hat nicht nur den Türken unermeßliche moralische Schädigung zugefügt. ...


IV.

Wenn gesagt und bewiesen wird, daß die beklagenswerten Armenier-Greuel durch Armenier selbst hervorgerufen wurden, so soll damit selbstverständlich kein Verdammungsurteil über das ganze armenische Volk ausgesprochen werden, das zu einem sehr großen Teile aus friedlichen, arbeitsamen und tüchtigen Elementen besteht. Die armenischen Kaufleute in den Städten sind vielfach als Betrüger und Wucherer verschrien, aber die Armenier in dem Gebiet des Van-Sees, in dem Quellgebiet des Euphrat und Tigris, in den Tälern des Taurus-Gebirges sind die intelligentesten und fleißigsten Ackerbauern der Türkei. Das Mißgeschick, das über diesem Volke waltet, liegt darin begründet, daß es, obgleich mit stark ausgeprägten nationalen Instinkten ausgestattet, nie imstande gewesen ist, eine lebenskräftige Nation aus sich zu machen, eine Nation, die stark genug ist, um sich gegen Feinde von außen und innen zu halten. Sie haben darin eine gewisse Ähnlichkeit mit den Polen. Diese Ähnlichkeit erstreckt sich sogar auf den Umstand, daß beide Völker Untertanen dreier Regierungen sind: es gibt Armenier türkischer, russischer und persischer Staatsangehörigkeit. In den sechs asiatischen Vilajets, die man gewöhnlich unter dem Sammelnamen ”Armenien” bezeichnet, bilden die Armenier nur 16 Prozent der Gesamtbevölkerung. Verhältnismäßig am dichtesten ist die armenische Bevölkerung in den russischen Provinzen Kars und Eriwan; dort liegt auch Etschmiadzin, der Sitz des armenischen Katholikos, des Oberhauptes der armenisch-gregorianischen Kirche, und die Ruinen der alten Armenierstadt Ani.

Ein politisches Armenien gibt es ebenso wenig wie ein geographisches. Geschichtlich gehörte Armenien den Mazedoniern, Seleuciden, Parthern, Römern, Persern, Byzantinern und Türken. Nur kurze Zeit war es von eigenen Königen regiert; im übrigen ist seine Geschichte die Leidensgeschichte eines stets unterjochten Volkes, das wie ein Spielball aus der Hand eines Herrschers in die eines andern fliegt. Zum weitaus größten Teil lag die Schuld daran an den unausgesetzten inneren Streitigkeiten, die das Volk zerfleischten. Der weitaus größte Teil des armenischen Volkes bekennt sich zum gregorianischen Christentum; weit geringer ist die Zahl der katholischen, und noch geringer die der protestantischen Armenier. Die gregorianischen Armenier, wie es häufig geschieht, als ”griechisch-orthodox” zu bezeichnen, ist nicht ganz zutreffend, Sie stehen mit den griechischen Kirchen in Konstantinopel oder Rußland in keiner Verbindung. Der Grieche oder Slawe betrachtet den Armenier nicht als einen christlichen Glaubensgenossen, denn die armenische Liturgie weicht in manchen – allerdings nicht sehr erheblichen – Punkten von der orthodoxen ab. Zur Zeit der bulgarischen Greuel in den siebziger Jahren waren die russischen Bauern entsetzt und empört über die Ermordung so vieler ”Pravoslavnis” (orthodoxer Christen); aber die armenischen Massaker von 1895-1896 riefen in Rußland keine größere Entrüstung hervor als etwa die Ermordung einiger katholischer Missionare in China. Auch von seiten des Ökumenischen Patriarchen oder sonst eines hochgestellten Würdenträgers der orthodoxen Kirche erfolgte damals keine Protestkundgebung.

Unter türkischer Herrschaft waren die Armenier bis vor verhältnismäßig kurzer Zeit trotz drückender Feudalherrschaft und Steuerlast ganz zufrieden. Die Türkische Regierung erwies sich ihnen - wie auch den andern nicht-osmanischen Völkerschaften –- gegenüber sehr tolerant. Die Armenier hatten ihre eigenen Kirchen, Schulen und Hospitäler und waren bei den Türken sehr wohl gelitten. Diese ganze Zeit über waren die Armenier sehr treue und ergebene türkische Untertanen, und Rußland galt als der Erzfeind Armeniens. Die russische Herrschaft über die Armenier des eroberten Kaukasus war drückend, gewalttätig und unduldsam; sie ging auf die nationale Zerstörung des Armeniertums aus. ”Die Türken”, so pflegten die Armenier zu sagen, ”nehmen uns den Körper, die Russen aber die Seele.” Türken und Armenier vertrugen sich sehr gut. Die Armenier lebten sich ganz in türkische Gewohnheiten und Gedankengänge ein, weit mehr als die Griechen und Slawen der Türkei. Die Reicheren wurden Bankiers und Kaufleute und übten zum Teil einen beherrschenden Einfluß auf Handel und Wandel in der Levante aus; die ärmere fanden Beschäftigung in türkischen Haushaltungen, oder sie wurden Kapudjis (Portiers) oder Hamale (Lastträger). Die Türken sprachen von den Armeniern als dem ”millet-i-sadika”, der loyalen Gemeinde. Ein dunkler Punkt in diesem Bilde war freilich das Verhältnis zwischen Armeniern und Kurden, das sich im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts immer feindseliger gestaltete in dem Maße, wie der herrenmäßige Feudalismus in den kurdisch-armenischen Wilajets drückender auf dem armenischen Kleinbauer und Krämer lastete. Dieses wirtschaftliche und soziale Übergewicht der Kurden verschärfte sich unter Abdul Hamid zum Schaden der Armenier ganz ungemein. In seiner Angst und seinem Grimm gegen die armenischen Revolutionäre bot Abdul Hamid alles auf, um die Kurden gegenüber den Armeniern zu stärken. Die von im organisierten Kurden-Regimenter, die Hamidie, eine zügellose Bande, die sich um ihre türkischen Vorgesetzten nicht im geringsten kümmerten, trugen viel zur Verschärfung der Feindseligkeit zwischen den beiden Völkerstämmen bei. Abdul Hamid befolgte das unselige System, den räuberischen Kurden fast völlig freie Hand gegenüber den Armeniern zu lassen; er glaubte dadurch die Armenier von jeder Beteiligung an revolutionären Bewegungen abschrecken zu können. Bei den zahlreichen armenischen Aufständen der letzten fünfundzwanzig Jahre wiederholte sich jedesmal derselbe Vorgang: während die türkischen Truppen gegen die Revolutionäre kämpften, verübten die Kurden, in erster Reihe die Hamidie, an der armenischen Bevölkerung Raub und Mord. So vollzog sich unter Abdul Hamid immer wieder derselbe unheilvolle Kreislauf: Aufstände der Armenier, Unterdrückung der Empörung und strenge Bestrafung der Rädelsführer, Raub- und Mordzüge der Kurden, Ermordung Unschuldiger und, dadurch hervorgerufen, neue Aufstandsbewegungen. Das jungtürkische Regime hat mit den Missetaten der Kurden aufgeräumt; daß aber die armenischen Revolutions- und Hochverratsneigungen geblieben sind, haben die Ereignisse des gegenwärtigen Krieges gelehrt.

Selbst in der hamidischen Ära war das Treiben der armenischen Revolutionäre nicht nur dem türkischen Staat, sondern auch ihren eigenen Volksgenossen gegenüber in hohem Grade verwerflich. Ganz unter dem verhetzenden englischen Einflusse stehend, überhörten sie geflissentlich die Mahnungen wohlmeinender Freunde, insbesondere der Führer der jungtürkischen Bewegung, nicht dem wesenlosen Schatten eines selbständigen ”Königreichs Armenien” nachzujagen, sondern in Gemeinschaft mit dem ganzen türkischen Volke auf ein freiheitliches System hinzuarbeiten. Es wurden ihnen von vielen verständigen Leuten vorgehalten, daß keine europäische Macht ihnen helfen werde, ein Königreich Armenien zu gründen, weil keine Macht ein Interesse an einer solchen Staatengründung habe. Sie blieben hartnäckig bei ihrer Überzeugung, daß zum mindesten England ihnen helfen werde. Sie wußten, daß ihre Treibereien nur immer neue Härten gegen die Armenier, neue Metzeleien zur Folge haben würden. Das war aber, wie der armenische Revolutionär Garo einmal mit unvergleichlichem Zynismus offen bekannte, den Führern gerade recht; die Agitatoren erhofften von jedem Blutbade die Wirkung, daß Europa sich endlich tatkräftig der Armenier annehmen und ihnen zur Verwirklichung ihrer Unabhängigkeitsbestrebungen verhelfen werde.

Es ist schon gesagt worden, daß Türken und Armenier sich bis vor wenigen Jahrzehnten recht gut miteinander vertrugen. In weit höherem Grade als die übrigen Christen in der Türkei haben die Armenier sich ihren türkischen Beherrschern anzupassen verstanden. Der Türke betrachtet den Armenier als eine Art Bindeglied zwischen sich und allen Nicht-Moslimen im osmanischen Reich, ein Verhältnis, das sich um so leichter gestaltete, als die Mehrzahl der Armenier die türkische Sprache bis zum Vergessen der eigenen angenommen haben. Die einzige feindselige Handlung, die die türkischen Behörden in früheren Jahrzehnten gegen einen Teil des armenischen Volkes vornahmen, geschah auf Veranlassung des – armenischen (gregorianischen) Patriarchen von Konstantinopel, der durch Bestechung der türkischen Behörden die Ausweisung von nicht weniger als 12000 katholischen Armeniern durchsetzte. Mitten im strengsten Winter wurden (1828) diese Zwölftausend, die aus der Umgebung von Angora stammten, mit Greisen, Kranken, Wöchnerinnen und Kindern gezwungen, nach Angora zurückzukehren; das Elend der Vertriebenen war grenzenlos. Es war dies derselben armenische Patriarch, der in einer Unterredung mit dem türkischen Staatsmann Pertew den römischen Papst als ”dieses Schwein” bezeichnete. An diese geschichtlichen Erinnerungen anknüpfend, könnte man mit Leichtigkeit ein ganzes Buch über die furchtbaren Fehden zwischen gregorianischen und katholischen Armeniern und unter den Gregorianern selbst schreiben, über die blutigen Verfolgungen der papistischen durch die ”nationalkirchlichen” Armenier, über die vielen Gegenpatriachate, die sich gegen das in Etschmiadzin residierende kirchliche Oberhaupt erhoben, über die erbitterten Kämpfe innerhalb dieser Patriarchate und Gegenpatriarchate um die ”rechte Hand des heiligen Gregor”, über die zahllosen Wanderungen dieser heiß umstrittenen Reliquie von einem Ende Armeniens zum andern und über manches andere, aus dem hervorgeht, daß die Armenier als christliches Volk weder unter sich noch gegenüber den Türken als geschlossene Einheit anzusehen sind. Der armenische Patriarch in Konstantinopel, der, wie eben erzählt, 1828 die türkischen Behörden gegen katholische Volksgenossen aufhetzte, ist beileibe keine vereinzelte Erscheinung gewesen. Eine ganze Anzahl gregorianischer Patriarchen haben ihre Machtstellung und ihren Einfluß bei der Pforte dazu mißbraucht, die türkischen Regierungsorgane gegen die katholischen Armenier scharf zu machen; von den furchtbaren Leiden, die diese letzteren auf Anstiften ihrer gregorianischen Landsleute von den türkischen Machthabern zu erdulden hatten, hat aber keine englische Propaganda, kein Schweizer Aufruf Europa unterrichtet. Wohlgemerkt: was hier gesagt ist, stellt nur die äußersten, dürftigsten Umrisse einer langen, schmerzensvollen Leidensgeschichte christlicher armenischer Opfer einer fanatischen christlich-armenischen Verfolgungswut dar. Und nun nochmals eine Frage an die hundert Unterzeichner des Schweizer Aufrufs: Was wissen Sie von allen diesen Dingen? Und warum faseln Sie von einem Vernichtungskampf der Türken gegen die christlichen Armenier, die sich im ganzen Verlauf ihrer nationalen Geschichte immer gegenseitig zerfleischt und dadurch zu Sklaven eines jeden Stärkeren herabgewürdigt haben?


V.

Wenn von ”armenischen Greueln” die Rede ist, so legt die ganze Welt in diese zwei Worte ganz automatisch den Begriff türkischer Bluttaten gegen die Armenier. Es gibt aber auch eine sehr stattliche Reihe armenischer Greuel, bei denen die Türken die Objekte, die Armenier die – Subjekt waren. Auch von diesen spricht keine englische Propagandaschrift, kein Schweizer Aufruf. Und es sei vorweg bemerkt, daß die jüngsten dieser armenischen Greuel sich nach dem Ausbruch des jetzigen türkisch-russischen Krieges, also erst seit einigen Monaten, ereignet haben, als türkische Truppen im Vansee-Gebiet und an den kaukasischen Grenzen teils von Armeniern selbst, teils durch Verrat an die Russen niedergemacht wurden.

Die Geschichte derjenigen Armenier-Greuel, von denen jetzt die Rede ist, geht zurück bis in die Zeit, da Englands politische Wühlarbeit in Armenien begann.



Copyright © 1995-2024 Wolfgang & Sigrid Gust (Ed.): www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved