1916-03-30-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 20060
Zentraljournal: 1916-A-
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 03/30/1916 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Reichstagsabgeordnete Schulze-Graevernitz an das Auswärtige Amt

Bericht



Prof. v. Schulze-Gaevernitz beehrt sich den Bericht über seine Reise nach Constantinopel zu überreichen, insb. auf die Bemerkungen über Capitulationen u. deutsche Unterstaatssecretäre hinzuweisen. Dr. Jaeckh wird die Sache der Teutonia nach der Anregung von Ev. Exc. in Ordnung zu bringen suchen.

Vertraulich.

Bericht des Reichstagsabgeordneten von Schulze-Gaevernitz über die Lage in Konstantinopel, März 1916, gelegentlich seiner Reise mit Herrn Mac Clure, erstattet auf Grund eingehender Gespräche mit den leitenden türkischen Staatsmännern sowie bestunterrichteten Deutschen und Amerikanern.


I. Die militärische Lage wird von Sachkennern (von Lossow) als nicht ungünstig beurteilt und rechtfertigt einen maßvollen Optimismus.

Im Einzelnen: 1. Die Lage an den Dardanellen war zeitweise höchst kritisch – „ein Wunder“, daß die Engländer nicht durchbrachen. Der Rückzug der Engländer von den Dardanellen erscheint, von Konstantinopel aus gesehen, ein welthistorischer Wendepunkt, tödlich für das Prestige Englands in der islamitischen Welt. Eine Wiederholung der Landung gilt bei den jetzigen Verteidigungsmaßregeln als ausgeschlossen. Das Marmarameer ist frei von feindlichen U-Booten, die durch Netzvorrichtungen in den Dardanellen abgehalten werden.

2. In politischer Hinsicht erscheint die Irakfront als besonders wichtig, nicht nur wegen der großen wirtschaftlichen Werte Mesopotamiens, das vor den Friedensverhandlungen von den Engländern gesäubert sein sollte, sondern auch wegen der großen Bedeutung des Namens Goltz, der den Türken als gleichbedeutend mit Deutschland gilt. Der Verlust Bagdads wäre unerträglich für das Ansehen Deutschlands und könnte, wenn irgend etwas, am ehesten die Türken zum Separatfrieden veranlassen. Die Lage am Irak wird von Sachkennern für „nicht schlecht“ beurteilt. Goltz benötigt, um die Engländer in Kut el-Amara zur Uebergabe zu zwingen, statt des langsam wirkenden Hungers, stärkerer Artillerie. Die Autoverbindung über den Taurus und von Aleppo nach Mesopotamien ist im wesentlichen hergestellt, - immerhin hat England den Vorzug der Seebasis und des riesigen indischen Hinterlandes.

3. Nach dem Urteil der Sachverständigen liegt die Sperrung des Suezkanals im Bereich der Möglichkeit. Tatsächlich sind gute Autostraßen bis weit in die Sinaihalbinsel eingebaut. Ich sprach mit einem Automobilisten, der bis 50 Kilometer an den Kanal herangefahren war. Die Sperrung des Kanals würde nicht nur den zur Verfügung stehenden englischen Schiffsraum erheblich vermindern (Fahrt um Afrika) und in dieser Hinsicht in derselben Richtung wie unsere U-Boote wirken. Für die Friedensverhandlungen wäre die Sperrung des Kanals zugleich ein Pfand erster Ordnung. Man rechnet mit der Gefahr einer englischen Landung bei Alexandrette, um den Schienenweg nach Suez zu zerschneiden. Die Eroberung Aegyptens gilt den Sachkennern für eine Utopie; sie wäre durchführbar, „wenn wir eine zweigleisige Bahn von Konstantinopel bis Suez hätten“ (von Lossow).

4. Der erste Angriff der Türken an der Kaukasusfront war übereilt. Sie erklären, und wohl mit Recht, daß er auf Druck von Berlin erfolgt sei, um Deutschland zu entlasten. Hierzu kam der armenische Aufstand im Rücken der Türken, mangelhafte und im entscheidenden Augenblick zum Teil auf Urlaub befindliche, rein türkische Oberbefehlshaber, unglaublich schlechte Verbindungen, schwierigstes Klima. Die türkischen Truppen mußten wochenlang bei 20° Kälte und darunter im Freien kampieren. Nachdem die Russen die Hochpässe besetzt haben, gilt es für sehr schwierig, das Gebiet von Erserum mit Waffen zurückzuerobern; Trapezunt gilt als ernstlich gefährdet. Aber auch der Vormarsch der Russen gilt als erschwert durch die gleichen Hindernisse, denen die Türken unterlagen. Da die Türken Armenien und Kurdistan wohl nur mittels deutscher Hilfe in Friedensverhandlungen zurückerhalten können, so sind sie durch den Vorstoß der Russen in dieser Gegend an uns gebunden. Die Gefahr einer Bedrohung unserer Etappenlinien nach dem Irak gilt zur Zeit noch als gering; aber man möge diese Gefahr nicht unterschätzen!

5. Die Eroberung von Valona gilt, wie mir ein erster militärischer Kenner des Landes versicherte, für schwierig, aber unter Heranschaffung von schwerer Artillerie für möglich. Auch dieser Erfolg sollte zu Beginn der Friedensverhandlungen erreicht sein, zwecks endgültiger Befriedung des Balkans.

6. Erwähnen möchte ich die Bravourtat eines deutschen Unterseebootes, welches den Senussen in Afrika Munition brachte, unterwegs einige feindliche Schiffe erledigte, deren Mannschaft in die Boote brachte, diese ins Schlepptau nahm und so noch an 100 Gefangenen den Beduinen zuführte (Gewährsmann: der deutsche Marineattaché).


II. Wirtschaftspolitische Lage.

Unsere Gegner setzen heute ihre Hoffnung auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch der Türkei. Sie berufen sich auf die gewaltige Preisteuerung in Konstantinopel, wo die Preise der notwendigen Lebensmittel auf das sechs- bis achtfache gestiegen sind, mit Ausnahme des Brotes, das von der Regierung zu nahezu den alten Preisen, aber in ganz ungenügender Menge ausgeteilt wird. In der Hauptstadt hungern und verhungern Hunderte und vielleicht Tausende, besonders in den asiatischen Stadtvierteln.

Die Gründe dieser Erscheinung liegen darin, daß die Hauptstadt im Frieden auf dem Wasserwege vom Schwarzen Meer her, ja zum Teil auch von Amerika, ernährt wurde. Diese Verbindungen waren durch den Krieg abgeschnitten. Zu den 1 ½ Millionen Einwohnern der Hauptstadt traten 1 ½ Millionen zu ernährende Soldaten, sowie ½ Million an Zugtieren für den Etappendienst der Armee. Die Ernährung der Soldaten und der militärischen Zugtiere ging unbedingt vor. Der großen Vermehrung der Esser gegenüber stand eine außerordentliche Verschlechterung der Transportverhältnisse. Die anatolische Bahn ist eingleisig, sie besitzt keine genügenden Ausweichen und leidet zudem Mangel an rollendem Material. Im besten Fall war es möglich, 1 Million kg Getreide täglich heranzuführen, während 2 ½ Millionen kg zum mindesten gebraucht wurden. Auch die Eröffnung der Balkanbahn hat in dieser Beziehung keine Besserung gebracht. Es ist nur möglich, täglich zwei Güterzüge vom Westen her an die Hauptstadt heranzuführen. Der eine bringt Kohlen für die Regierung (Kriegsschiffe, Elektrizitätswerk der Hauptstadt usw.), der andere dieser Züge bringt Munition und Kriegsmaterial. Dagegen besteht eine gewisse Zufuhr aus Rumänien über wenig leistungsfähige Gebirgsbahnen. Das Schwarze Meer ist von den Russen so gut wie abgesperrt.

Unter diesen Verhältnissen hätte nur eine ausgezeichnete Organisation die Zivilbevölkerung vor dem Aeussersten bewahren können. Unsere Militärbehörde mußte diese Organisation den Türken überlassen, welche nichts taten. Daher die wucherischen Preissteigerungen bei vermindertem Angebot und gesteigerter Nachfrage.

Zweifellos wirkt die Geldentwertung mit, da die Türkei bekanntlich ihre Kriegsausgaben auf Papiergeld-Emission aufbaut.

Immerhin ist eine Besserung der Lage von der zweiten Hälfte April ab zu erwarten. Zunächst vollzieht sich gegenwärtig der Abtransport des Heeres und seiner Zugtiere, sodann bedeutet die Säuberung des Marmarameeres von feindlichen U-Booten eine Erleichterung der Zufuhr. In der gleichen Richtung wirkt die Herbeischaffung von gegen 700 deutschen Eisenbahnwagen und zugehörigen Lokomotiven, welche nach Anatolien übergesetzt wurden, der Bau von neuen Stationen und Ausweichstellen auf der anatolischen Bahn usw. Endlich kommt in Betracht, daß von April an bereits Salat und Gemüse zuzuwachsen beginnt und die Bevölkerung an diese Nahrungsmittel gewöhnt ist: „Salatesser“.

Sehr viel günstiger liegt die Lage in den Provinzen. In Syrien und Palästina hat Gjemal Pascha mit großer Energie und mit deutschen Gehilfen erfolgreich gearbeitet. Hier wirkte zusammen der militärische Druck von oben sowie die Barzahlung, welche die Etappen den verkaufenden Landleuten gewähren. Jede Eisenbahnstation kauft Getreide auf, und die fortwährende Zufuhr beweist, daß Vorräte vorhanden sind. Barzahlungen zu hohen Preisen steigern den Anbau. Des weiteren verfügt das Heer über außerordentlich zahlreiche Arbeiterbataillone, da man den christlichen Wehrpflichtigen wenig traut und sie infolgedessen nicht an die Front bringt. Dieselben sind überwiegend mit Straßenbau beschäftigt, was die Zufuhrmöglichkeiten steigert. Hierzu kommen in den genannten Gegenden Syriens und Palästinas ganz außergewöhnlich günstige klimatische Verhältnisse. Es hat so viel geregnet wie nicht seit Jahren. In der Sinaihalbinsel ist die dem Meer zugelegene „Sandwüste“ zwar jeder Kultur unfähig, dagegen besitzt die mehr im Innern gelegene „Steinwüste“ Täler mit außerordentlich fruchtbarem Löschboden, der dieses Jahr durchweicht ist. Es sind hier Gebiete bebaut worden, die seit Jahrzehnten Wüsten waren, und in vier Wochen reift die Ernte. Enver erwartet in diesem Gebiet eine überdurchschnittliche Ernte, von Lossow, vorsichtiger, eine Ernte „nicht schlechter“ als im Durchschnitt.

Anatolien wird verschieden beurteilt. Tatsache ist, daß unter dem Druck von Konstantinopel in den letzten vier Wochen noch viel bestellt worden ist, so insbesondere in der Adana-Ebene. Auch scheinen in abgelegeneren Gegenden noch Vorräte vorhanden zu sein. Aber gerade nachdem der Druck von oben her sich als wirkungsvoll erwiesen hat, sollte er nicht nachlassen. Vor allem sorge man beizeiten für die richtige Herbstbestellung, setze die zahlreich vorhandenen Dampfpflüge (an 130) in Tätigkeit und fördere die Heuschreckenbekämpfung (Dr. Bücher im Ackerbauministerium). Es sollte diesen Dingen auch von Berlin her die nachdrücklichste Aufmerksamkeit zugewandt werden.

Zusammenfassend: weder der Kriegswille noch die Kriegsfähigkeit der Türken kann durch die zum Teil vorhandene wirtschaftliche Notlage gebrochen werden, umsomehr als der Regierung die Notstände der Zivilbevölkerung völlig gleichgültig sind und der Hunger, wie vor tausend Jahren, so auch heute noch hier als regelmäßige und natürliche Todesursache des Menschen angesehen wird. Der türkische Soldat kann hungern. 30 Haselnüsse und 5 Oliven hingezählt, gelten als auskömmliches Mittagsmahl (Mitteilung eines deutschen Etappenoffiziers).


III. Politische Persönlichkeiten.

Nach der gewaltsamen Entfernung des england-freundlichen Ministerium Kiamil besteht heute in der Türkei eine „Militärdiktatur konservativer Reformer“, welche das Staatsruder mit eiserner Hand festhalten – wohl die einzig mögliche Form der Regierung in der heutigen Türkei. Hinter ihnen stehen die in Deutschland gebildeten straff vaterländisch gesinnten Offiziere. In den leitenden Stellen der Ministerien findet man junge starke Männer im Alter von gegen 35 Jahren, Mitglieder und meist Mitbegründer des „Komités“ für Einheit und Fortschritt. An der Spitze steht das Triumvirat: Talaat, Enver, Halil, von denen Talaat wohl der stärkste ist; Enver wird als glänzendes Symbol der aufsteigenden Türkei angesehen und von Lossow als loyal bezeichnet. Diese Männer sind fest und durchaus entschlossen, den Krieg zum guten Ende zu führen. Der Gedanke eines Separatfriedens ist nicht zu fürchten und wiederholt abgelehnt worden. Auch der Sultan ist in dieser Hinsicht keine Gefahr. Er wird von den Ministern mit äußerstem Respekt behandelt, aber weiß, wie Kundige versichern, von der Weltlage so viel „wie bei uns ein Knabe von 12 Jahren“.

Wenn wir die heutigen Machthaber für fest und kriegswillig bezeichnen, so sind hierfür zwei Gründe maßgebend: Bei weit verbreiteter Friedenssehnsucht und Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung, welche da fragt, was brachte uns der Krieg, sind die heutigen Machthaber an uns gebunden, weil sie bereits zu weit gingen, den Feind im eigenen Land haben, und ohne Deutschland nicht wieder die alten Grenzen herstellen können. Die Gefahr, daß Rußland seinen Gegner etwa durch Rückgabe des Kaukasusgebietes eine goldene Brücke zum Separatfrieden baue, ist kaum zu fürchten. Auch ist in Konstantinopel der Verteilungsplan der Alliierten bekannt, welcher die Hauptstadt und Meerenge russisch macht. Man behauptet, Palästina sei den Amerikanern vorbehalten gewesen. Auch die bulgarische Stellung, vor den Toren der wenig geschützten Hauptstadt, verleidet etwaige Abfallsgedanken – im Balkankrieg hatte Zar Ferdinand bereits Briefmarken anfertigen lassen, auf denen er als byzantinischer Kaiser dargestellt war.

Wichtiger noch ist, daß man in Gesprächen mit den leitenden Persönlichkeiten eine weltpolitische und historische Auffassung findet, welche die Türkei mit Deutschland für die Dauer verknüpft. Für den Türken ist und bleibt Rußland die Gefahr, deren Abwendung nur durch deutsche Hilfe möglich ist. England aber erstrebe den Zusammenhang von Aegypten über Arabien und Mesopotamien mit Indien. Es bedrohe damit die heiligen Stätten des Islam und das Kalifat, welches an die Türkei als die letzte unabhängige mohammedanische Macht geknüpft ist. Deutschland habe ein Interesse an einer starken Türkei, während Rußland und England seit Langem an ihrer Schwächung arbeiten. Deutschland habe zugleich ein Interesse an der islamitischen Bewegung, und der Türke weist auf die Möglichkeit hin, die islamitischen Sympathien für Deutschland in Wirtschaftswerte umzusetzen, die Deutschland zugute kommen sollen. Aber auf der anderen Seite wissen und erklären die denkenden Türken, daß auch Deutschland ihrer nicht entbehren kann. Wäre die Türkei ohne Deutschland unter die gierigen Erben aufgeteilt worden, so hätte Deutschland wohl sein nacktes Dasein verteidigt, aber ohne die Anteilnahme der Türken wäre der Krieg als Weltkrieg verloren gewesen und Deutschland hätte als Weltmacht ausgespielt. Daher erwarten die Türken von uns Behandlung auf dem Fuße der Gleichberechtigung. Zweifellos ist das nationale Selbstgefühl der Türkei durch den Krieg außerordentlich gestärkt worden, das uns in manchen Fällen recht unbequem werden wird. Aber da wir die notwendigen Reformen den Türken schon aus geographischen Gründen nicht aufzwingen können, wie etwa England in Aegypten getan hat, so werden wir mit diesem Selbstgefühl rechnen müssen. Der Großwesir zitierte mir ein Wort Wangenheims, die Türkei sei „das Preußen des Islams“, um welches sich die übrige islamitische Welt kristallisieren solle. Indien werde in 50 Jahren nicht mehr englisch sein. Man wird gut tun, solchen Gedanken nicht allzu großen politischen Wert beizumessen, aber, soweit sie wirksam sind, sie politisch wie wirtschaftspolitisch zu benutzen.


IV. Kriegsziele der Türkei.

Nach dem Verlust der europäischen Provinzen im Balkankrieg hat die Türkei durch die Armenier-Massakers während dieses Krieges nahezu eine nationale oder vielmehr religiöse Geschlossenheit erreicht. Die christliche Bevölkerung macht nur noch einen Bruchteil der Gesamtbevölkerung aus. Nach geringer Schätzung sind 500000 Armenier, wahrscheinlich erheblich mehr, umgekommen – von 1 ½ bis 2 Millionen armenischen Untertanen der Türkei. Insbesondere fielen auf dem Landtransport – Verpflanzung nach Mesopotamien – ungezählte Frauen und Kinder armenischen Volkstums dem Hunger und den Entbehrungen zum Opfer. Zu ihrer Rechtfertigung verweisen die türkischen Machthaber auf die allerdings unbestreitbare Tatsache einer armenischen Revolution im Rücken des türkischen Heeres zu einem höchst kritischen Zeitpunkt. Waffen, Bomben aus armenischem Besitz, revolutionäre Flugblätter und Embleme, das Staatswappen des neu zu gründenden Königreichs Armenien in verschiedenster Ausführung wurden in Wagenladungen nach Konstantinopel gebracht und uns von den dortigen Polizeibehörden vorgelegt. Im Uebrigen wertet der Türke das Menschenleben wenig – das seiner eigenen Soldaten, das der verhungernden und gänzlich ungepflegten Verwundeten, noch viel weniger das Leben von Rebellen, welche durch die Jahrhunderte hindurch Feinde waren. Talaat sagte mir von der Armenierverfolgung: „Es war ein Krieg im eigenen Lande“. Wie dem immer sei, zur Zeit herrscht die türkische Regierungsgewalt so unbeschränkt wie noch nie zuvor bis nach Suez, z.B. auch in dem ganz französierten Syrien und in dem bisher nahezu unabhängigen Libanon.

Als Hauptziel betrachtet die Türkei die Unabhängigkeit von Europa oder konkret gesprochen, die Beseitigung der Kapitulationen, die bisher jeden Fortschritt verhinderten. Es ist selbstverständlich, daß die wirtschaftliche Seite der Kapitulationen fallen muß, daß die Türkei die Freiheit gewinnen muß, ihr Wirtschaftssystem (Zölle!) nach eigenen Bedürfnissen auszubauen. Die Steuerfreiheit mag dem Ausländer bisher angenehm gewesen sein, aber sie ist eine unerträgliche Ungerechtigkeit und in Zukunft unmöglich. Aber auch die juristische Seite der Kapitulationen, Gerichtsstand der Ausländer vor den Konsulargerichten, ist in Zukunft unhaltbar. Das gesteigerte Selbstgefühl eines alten Herrenvolkes sträubt sich gegen die Behandlung „wie Zulukaffern“. Man weist auf die gewiß auch nicht hervorragende Rechtssicherheit etwa in Serbien oder Venezuela hin, - Länder, welche trotzdem von europäischen Kapitulationen verschont bleiben. In dieser Beziehung ist die Türkei fest. Sie betrachtet die Aufhebung der Kapitulationen als ihr wichtigstes Kriegsziel Wir aber haben keine Mittel, das Gegenteil zu erzwingen. Deswegen gebe man, was man geben muß, rasch und mit nobler Miene. Es ist ein oft gemachter Fehler, um Gaben, die man nicht verweigern kann, zu feilschen und damit die psychologisch günstige Wirkung zu verspielen. Möglich sind vielleicht gewisse Gegenforderungen auf juristischem Gebiet und im einzelnen Fall ist eine Intervention der Botschaft beim Ministerium stets vorzubehalten. Sollten die Ententemächte die Aufrechterhaltung der Kapitulationen beim Friedensschluß ganz oder zum Teil durchsetzen, so würden wir selbstverständlich das Recht der meistbegünstigsten Nation beanspruchen. Gegen unsere Gegner werden sich etwaige Ungerechtigkeiten zuerst wenden. Lassen wir sie die Kastanien auf dem Feuer holen.

Als weiteres Kriegsziel schwebt den Türken vor eine Reform im Innern mit Hilfe der Deutschen, weswegen sie bekanntlich deutsche Unterstaatssekretäre erbaten. Talaat sagte mir ausdrücklich, daß er bereit sei, sein Ministerium mit deutscher Hilfe baldmöglichst neu zu organisieren. Er fragte: “Wo bleiben die deutschen Staatssekretäre?“ Es scheint von größter Wichtigkeit, daß diese Herren noch während des Krieges voll in Tätigkeit treten, weil nach dem Kriege zweifellos wieder ausländische Einflüsse sich geltend machen werden. Man schmiede des Eisen, so lange es heiß ist!

Ein leuchtendes Beispiel deutscher Reformtätigkeit liefert die Arbeit des Herrn Geheimrat Schmidt im Unterrichtsministerium. Schmidt hat wie wenige Deutsche das Vertrauen des Türken erworben, bei anfänglicher geschickter Zurückhaltung. Er ließ die Reformwünsche des Ministeriums an sich herankommen. Heute rühmt er die glatte Zusammenarbeit mit dem Minister, dessen guten Willen und feste Hand (bei mäßiger Bildung) er anerkennt. Der Minister selbst ist aus dem Lehrerstande hervorgegangen. Der Minister sowie seine unterstellten Organe sind nach der Erfahrung Schmidts schlechthin unbestechlich (dasselbe gilt auch von den anderen Ministern – ob auch ihren unterstellten Organen?).

Das Ziel der Schulreform ist für Schmidt die Fortentwicklung des Bestehenden. Es bestehen zur Zeit 12000 Volksschulen, also eine auf etwa 2000 Einwohner, die meisten allerdings nur sogenannte Koranschulen, die lediglich das Lesen der arabischen Sprache beibringen. Auf nationaler und religiöser Grundlage weiterbauend, beabsichtigt Geheimrat Schmidt die Verstaatlichung des gesamten Volksschulunterrichts, den Uebergang zur allgemeinen Schulpflicht, zu geordneter Schulaufsicht und Lehrerbildung, die Vermehrung der 42 Mittelschulen, sogenannte Sultanschulen, die allesamt seit der Konstitution entstanden sind.

Es entsprach dem Wunsche des Ministers, sowie den Kriegsverhältnissen, die hauptstädtische Hochschule zuerst zu reformieren, sie von französischem auf deutschen Boden zu stellen und damit ein Symbol für die Zukunft aufzurichten. Es hat in den türkischen Kreisen außerordentlich erfreut, daß sich die deutschen Professoren bereit erklärt haben, in türkischer Sprache zu lehren, ja dass einige Professoren bereits damit begonnen haben. Da deutsch nicht genügend verstanden wird, so würde sonst nur die französische Lehrsprache in Betracht gekommen sein, was für uns aus politischen Gründen wenig wünschenswert war. Sollte es Geheimrat Schmidt vergönnt sein, noch zehn Friedensjahre seines Amtes zu walten, so ist meiner Ueberzeugung nach die Grundlage einer neuen Türkei gelegt, welche nur im Unterrichtswesen gefunden werden kann.

Von größter Bedeutung ist die Auswahl der Deutschen, welche nach der Türkei geschickt werden. Man schicke nur die Besten, wie übrigens die Engländer auch an ihre indischen Beamten besonders hohe Anforderungen stellen. Man schicke keine „Weggelobten“. Man schicke Männer, welche den Türken Vertrauen entgegenbringen, an die Zukunft der Türkei glauben und mit Herz und Takt an die Sache gehen (keine „Afrikaner“!). Der Türke hat einen außerordentlich feinen Instinkt für den gefühlsmäßigen Untergrund menschlicher Beziehungen.

Auch legt die Regierung, wie mir Talaat ausdrücklich sagte, großes Gewicht darauf, daß Deutschland durch die Zentralregierung, die guten Willens sei, arbeite und nicht auf die Methode früherer Zeiten zurückgreife, Einfluß in der Provinz gewinnen zu wollen ohne und gegen die Zentralregierung, etwa durch Ausspielung von Arabern gegen Türken. Er schien besonders neuerliche Vorkommnisse im Auge zu haben.


V. Amerikanische Gesichtspunkte.

Amerikanische Gesichtspunkte drängten sich mir wiederholt auf, da ich mit einem klugen und scharf beobachtenden Amerikaner reiste. Die amerikanischen Schulen in der Türkei, welche zu Hunderten bestehen, bilden ein großes wirtschaftliches und ein sehr großes moralisches Interesse der Vereinigten Staaten. Hinter ihnen stehen die ersten Namen der amerikanischen Plutokratie. Roberts College und das benachbarte Girls College, beide in wunderbarer Lage am Bosporus gelegen, beherbergen in Friedenszeiten an tausend Studierende und haben die Bedeutung einer Art Universität. Diese amerikanischen Schulinteressenten, mit denen der amerikanische Botschafter Morgenthau auf das engste liiert ist, sind neutralistisch gestimmt und fürchten den Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland, in welcher Richtung wohl auch Morgenthau in Washington arbeitet. Sie wissen, die Türkei würde, im Falle eines Krieges, dieses ausgebaute Schulwesen, das auch große wirtschaftliche Bedeutung hat (Einfuhr landwirtschaftlicher Maschinen), sich sofort aneignen, um es nie wieder herauszugeben. Sind doch die amerikanischen Schulen, welche ihre Zöglinge mit angelsächsischem Stempel prägen, den vaterländisch gesinnten Türken ein Dorn im Auge. Sie behaupten, daß zahlreiche armenische Revolutionäre aus ihnen hervorgegangen seien und daß die Professoren selbst mit den Armeniern konspiriert hätten. Der deutsche Sachkenner gibt diesen Türken wenigstens insofern recht, als er die Meinung vertritt, daß aus den amerikanischen Anstalten landfremde und entwurzelte Existenzen hervorgehen, welche durch Gewohnheit an unangebrachtem Komfort für die höchst primitiven Verhältnisse der Türkei verdorben sind.

Aber die amerikanischen Schulinteressenten wünschen auch nicht den Sieg der Entente, welcher die Russen in Konstantinopel etablieren würde und ließen sich von mir erzählen, wie Rußland mit den deutschen Schulen in den baltischen Provinzen umgesprungen ist.

Mein Begleiter verläßt Konstantinopel, stark neutralistisch gestimmt, empört durch die armenischen Greuel, und warm eingenommen für die deutsche Neuordnung der Türkei – eine Aufgabe, welche er der Aufgabe der Briten in Indien zur Seite setzt. Er wird in Amerika und England mit Bestimmtheit erklären: „Niemand kann Deutschlands Drang nach dem Osten aufhalten“. Herr Mac Clure, als Gründer und langjähriger Leiter von Mac Clure Magazine in seinem Lande hochangesehen, „the dean of American journalism“ – nicht ausgesprochen progerman, aber ehrlicher Neutralist – wird die deutsche Aufgabe in der Türkei in der Evening Mail vertreten (an 160000 Auflage); er beabsichtigt auch eine Vortragsreise in die Vereinigten Staaten in dieser Sache zu unternehmen, wofür ich ihm nach Kräften Material zu beschaffen bemüht war.



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