1916-05-11-DE-003
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Quelle: DE/PA-AA/R 20199
Zentraljournal: 1916-A.S.-1716
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Wolff-Metternich) an das Auswärtige Amt

Bericht


[Konstantinopel, den 11. Mai 1916]

Konstantinopel, Januar 1916


Persien entwickelt sich rasch zum Brennpunkt der ganzen Orientlage, die durch das Persische Abenteuer zu unseren Ungunsten verschoben wird. Wer nur oberflächlich über Persien Bescheid wusste, musste wissen, dass dort eine feige Oberschicht von vornehmen Familien neben feilen, militärisch nicht ausgebildeten Räuber- und anderen Stämmen besteht, die ein Mal mit diesem, das andere Mal mit jenem gehen und ein disorganisiertes Genzes bilden, das kaum mehr ein Staat genannt werden kann. Die einzige militärische Macht bilden 8 bis 10000 über das weite Land verteilte Gendarmen unter europäischen Führern.

Diesen halten im Norden die Wage persische Kosaken unter russischer Führung. In dem grossen russischen Grenzgebiet stehen russische Truppen, 15 bis 20000 Mann genügen, die jederzeit so viel von Persien, als die Russen brauchen, in ihre Gewalt bekommen können. Sie haben dies bisher unterlassen aus Rücksicht auf England. Nun aber, nachdem deutsche Offiziere ohne Soldaten persische Stämme ohne Machtmittel in Gärung gebraucht haben, rücken die Russen mit Zustimmung Englands fast widerstandslos vor und breiten sich über Persien aus. Bisher bildete Persien einen sicheren Fall für die Ostgrenze des Türkischen Reiches. Englisch-russische Eifersucht hielt Persien militärisch mehr oder weniger frei. Jetzt aber, wo der Schein deutschen Einflusses sich nach Persien ergoss, ohne dass ihm das Wesen deutschen Einflusses zu folgen vermochte, verschwindet jede Eifersucht, ruft England die Russen herbei, vergisst seine künftigen Interessen, die darin bestehen, dass Russland sich nicht der türkischen Grenze nähert, und sieht nur das eine Ziel vor sich, Deutschland zu schädigen. Zugleich bietet sich den Feinden eine neue Aussicht, den Orientkrieg zu gewinnen. Das Verhängnis, welches an den Dardanellen noch einmal abgewendet wurde, scheint nun die Türkei von der entgegengesetzten Seite des Reiches ereilen zu sollen.


Den 11. Mai 1916.

Dieser Bericht war Anfang Januar begonnen worden. Ich liess ihn ruhen, weil an dem militärischen Lauf der Dinge doch nichts zu ändern und meine ungünstige Ansicht über das Persische Unternehmen bekannt war. Jetzt stehen wir aber vor einer neuen und entscheidenden Wendung. Zur Erläuterung des Folgenden habe ich mir daher gestattet, das vor 4 Monaten Geschriebene voranzustellen.

Trotz des Falles von Kut-elAmara werden die Engländer nicht darauf verzichten, den Russen in Bagdad die Hand zu reichen. Sie würden es vorgezogen haben, allein dort einzuziehen, wenn das Kriegsglück es ihnen gestattet hätte. Aber immerhin besser mit oder nach den Russen als gar nicht. Seitdem Grossfürst Nicolei den Oberbefehl im Kaukasus und Persien hat, rückt seine Armee langsam aber sicher vor. Trapezunt ist in seiner Hand. Die Küste nach Westen steht ihm offen. Türkische Streitkräfte sind dort nicht vorhanden. Ersingjan ist bedroht und kann nach militärischer Ansicht kaum gehalten werden. Erzerum und Bitlis sind gefallen. Von Bitlis bis zum Tigris und der Haupt-Etappenstrasse nach Bagdad und dem Irak ist der Weg nicht weit. Zwischen Kermanschah und Bagdad stehen die Russen auf dem Peitak Pass, von wo aus der Abstieg in die Ebene keine militärischen Hindernisse mehr bereitet. Nach einem Gerücht soll die Grenzstadt Hanikin schon genommen sein. Oberst Bopp hielt den Vormarsch der Russen für unabwendbar und wollte die türkischen Streitkräfte bis Bakuba, 40 km von Bagdad, zurückziehen. Mit der Annäherung der Russen auf Bagdad wird die Lage der türkischen Kräfte bei Kut-el-Amara unhaltbar. Sie geraten dadurch zwischen zwei Feuer. Das englische Entsatzheer bekommt freie Hand. Wenn die klimatischen Verhältnisse, die Hitze, es gestatten, steht seiner Vereinigung mit den Russen in Bagdad nichts im Wege, da die türkischen Kräfte zu schwach sind, um ernstlichen Widerstand zu leisten und es unwahrscheinlich ist, dass zeitig genügend Verstärkungen herangezogen werden können.

Wir haben also mit dem Fall von Bagdad in nächster Zeit und mit der Bedrohung und vielleicht Unterbindung der Etappenstrasse am oberen Tigris zu rechnen. Die nordöstlichen Vilajets sind verloren, und mit dem Verlust von Mesopotamien und dem Irak ist zu rechnen. Die Russen haben bessere rückwärtige Verbindungen als die Türken. Von Baku nach Enseli haben sie den ungehinderten Verkehr auf dem Kaspischen Meer; von Enseli die besten persischen Strassen gerade in den Richtungen ihres Vormarsches auf die türkische Grenze, nämlich über Kaswin, Täbris und Santschbulak einerseits und Kaswin Teheran, Hamadan und Kermanschah andererseits. Die Türken dagegen haben nur den einen viel längeren Weg über Haidar Pascha durch Kleinasien nach Mesopotamien. Aus allen Teilen ihres Reiches werden Truppen herangezogen, um das im Osten drohende Unheil abzuwenden. Thrazien wird von Truppen fast entblösst, die Syrische Armee wird geschwächt und damit die Angriffslust des Feindes auf jene Küsten gelenkt. Die Entente-Armee in Saloniki wächst in beunruhigender Weise. Von Thrazien wird keine Hilfe mehr zu erwarten sein. Infolge der dauernden Hungerkur sind Mann und Tier in grossen Teilen der Armee körperlich wenig widerstandsfähig geworden. Krankheiten und Seuchen dezimieren in erschreckendem Masse die militärischen Verbände.

Es fragt sich nun, wie lange die Türkei diese Zustände noch zu ertragen vermag, oder gewillt bleibt sie zu ertragen und wie lange sie den Krieg noch aushält. Die Machthaber, Enver und Talaat, sind auf ihn eingeschworen. Sie stehen und vergehen mit dem Kriege. Ein erzwungener, ungünstiger Friede wird ihnen zum mindesten ihre Stellung kosten. Sie müssen daher zu uns halten, in der Hoffnung, dass wir die Türkei herausreissen. Augenblicklich haben sie das Land noch in der Hand, obwohl sie von dem Komitee weit abhängiger sind, als gemeiniglich angenommen wird, und auch dieses sich durch seine Gewaltherrschaft unzählige Feinde gemacht hat. Überall tritt bei ihm das Bestreben hervor, den Krieg auszunutzen, um alles ihm widerstrebende oder nicht homogene zu unterdrücken. Armenier, Griechen und Juden sollen beseitigt werden, sei es durch Totschlag, durch Verschickung oder durch wirtschaftliche Eliminierung. Auch jeder europäische Einfluss soll verschwinden, und nur der Türke soll nach Willkür schalten und walten. Dies ist das politische Ideal der jungtürkischen Partei. Nun kann der Türke weder regieren, so dass der Regierte bestehen kann, noch kann er Handel treiben. Er ist und bleibt Orientale, bei dem die Regierungskunst in der Bereicherung des Beamten und in der Einflössung von Furcht auf die Massen besteht. Der Türke ist nur Eroberer. So lange er neue Gebiete besetzte, ging es ihm gut. Er lebte von dem Reichtum des Vorgefundenen. Er ist aber nicht selbst produktiv. An den Mauern Wiens wurde seine Eroberungskraft gebrochen, und seitdem vollzieht sich unaufhaltsam die Auflösung seines Reiches. Mit jedem Kriege verliert er an Territorium. Auch in dem jetzigen. Die verlorenen Vilajets kann ihm niemand zurückerobern. Er setzt daher seine Hoffnung auf einen glänzenden deutschen Sieg, der den Frieden diktiert und auch ihm die alten Grenzen zurückgibt. Er weiss, dass dies nur möglich ist, wenn auch er eine Kraftanstrengung macht. Er bemüht sich redlich, die alten kriegerischen Eigenschaften wieder aufleben zu lassen.

Es ist nicht zu verkennen, dass Talaat und Enver, auch Halil, obwohl er nicht den selben Einfluss besitzt, wie die beiden anderen, alle drei persönlich integer, sich des deutschen Einflusses zu bedienen suchen, um die Türkei innerlich zu heben und nach aussen zu stärken. Ob dies mit einer Beamtenschaft möglich ist, die in ihrer grossen Masse nicht die Eigenschaften besitzt, um einen Staat mit Ehrlichkeit und Gerechtigkeit zu regieren, mag dahingestellt bleiben. Von Kennern der türkischen Verhältnisse, die in der Türkei wohnen, glaubt es kaum einer unter hundert. Eine andere Klasse, aus der zu rekrutieren wäre, gibt es hierzulande aber nicht. Eine vernünftige Verwaltung dieses Landes wird nur unter einer starken fremden Hand möglich sein, die sich der Türke aber nur unter dem Zwang der Verhältnisse gefallen lassen wird. Wird diese Hand die unsrige sein, wenn die neue russische Ostgrenze von Trapezunt bis Hanikin reicht mit dem Persischen Hinterland als russischem Stützpunkt, wenn nach dem Falle Bagdads den Engländern Mesopotamien bis zum Persischen Golf zufällt? Der russische Druck wird dauernd so stark sein auf das, was von der Türkei übrig bleibt, dass sie sich ihm nicht mehr wird entziehen können.

Die Probleme der Zukunft treten vor den Erfordernissen des Augenblicks zurück. Der Feldherr sucht sich nach einer verlorenen Schlacht den Rückzug zu decken, der Politiker muss, wenn ihm eine Karte seines Spiels genommen zu werden droht, sich nach einem Ersatz umsehen, sich nach anderer Seite zu orientieren versuchen.

Wenn Bagdad fällt und sich die Folgen daraus entwickeln, haben wir mit der Möglichkeit zu rechnen, dass sich die gegenwärtig herrschende Richtung in der Türkei bald ändert und zwar zu unsern Ungunsten, sei es, dass die leitenden Männer unter dem allgemeinen Unmut verschwinden oder dass sie dem Druck der Verhältnisse nachgeben müssen. Bis dahin müssen wir die Türkei, wie bisher, unterstützen und zu halten suchen. So lange sie uns treu bleibt, müssen wir auch ihr treu bleiben. Es kann aber auch mal anders kommen. Welche Politik wir dann einschlagen sollten, darüber werde ich mir gestatten bei einer andern Gelegenheit meine Ansichten darzulegen.


P. Metternich



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