1916-06-30-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 20200
Zentraljournal: 1916-A.S.-2168
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 07/05/1916 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Wolff-Metternich) an das Auswärtige Amt

Bericht


Therapia, den 30. Juni 1916

Ich habe die Vertreibung der armenischen Arbeiter von der Amanusstrecke, wodurch die Kriegführung geschädigt wird, mit Talaat Bey und Halil Bey besprochen. Diese Massregel, so sagte ich unter anderm den Ministern, mache den Eindruck, als ob die Türkische Regierung selbst darauf bedacht sei, den Krieg zu verlieren.

Der Vorgang ist lehrreich nach verschiedenen Richtungen hin. Leute, wie Talaat und Enver, wissen wohl, dass dem Kriegszweck durch die Gefährdung des Eisenbahnbetriebes und –Baues am Amanus geschadet wird. Es hat aber niemand mehr hier die Macht, die vielköpfige Hydra des Komités, den Chauvinismus und Fanatismus, zu bändigen. Das Komité verlangt die Vertilgung der letzten Reste der Armenier, und die Regierung muss nachgeben. Das Komité bedeutet aber nicht nur die Organisation der Regierungspartei in der Hauptstadt. Das Komité ist über alle Vilajets verbreitet. Jedem Vali bis zum Kaimakam (Landrat) herab steht ein Komitémitglied zur Unterstützung oder zur Überwachung zur Seite. Die Armeniervertreibungen haben überall wieder begonnen. Von diesen Unglücklichen haben die hungrigen Wölfe des Komités ausser der Befriedigung ihrer fanatischen Verfolgungswut aber nicht mehr viel zu erwarten. Ihre Güter sind schon längst eingezogen und ihr Vermögen ist durch eine sogenannte Kommission liquidiert worden, das heisst, wenn beispielsweise ein Armenier ein Haus im Werte von 100 Ltq besass, so ist es einem Türken, Freund oder Mitglied des Komités, für etwa 2 Ltq zugeschlagen worden. Von den Armeniern ist also nicht mehr viel zu holen. Die Meute bereitet sich daher auch schon mit Ungeduld auf den Augenblick vor, wo Griechenland, von der Entente gezwungen, sich gegen die Türkei oder deren Verbündete richten wird. Es werden dann Massacres in weit grösserem Umfange eintreten, als bei den Armeniern. Die Opfer sind zahlreicher und die Beute ist verlockender. Das Griechentum bildet das Kulturelement der Türkei. Es wird dann vernichtet werden, ebenso wie das armenische, wenn äussere Einflüsse nicht Einhalt gebieten. Türkisieren heisst, alles nicht Türkische vertreiben oder töten, vernichten und sich gewaltsam anderer Leute Besitz aneignen. Hierin und im Nachplärren freiheitlicher französischer Phrasen besteht vorläufig die berühmte Wiedergeburt der Türkei. Man schämt sich, in diesem Hause der Freundschaft zu sitzen. Leute wie Talaat, die den ehrlichen Willen haben, die Türkei vorwärts zu bringen, obgleich auch er nur Machtpolitik kennt, müssen sich der vielköpfigen Hydra fügen.

Der Vorgang Amanus zeigt aber auch, dass übertrieben optimistische Berichte über die ausgezeichneten Zustände in der Türkei mit Vorsicht aufzufassen sind; auch dass die Anklagen von deutscher militärischer Seite, die gegen die Anatolische und Bagdad-Bau-Gesellschaft erhoben worden sind, im Lichte der jüngsten Vorgänge unbegründet erscheinen. Die jüngsten telegraphischen Berichte des deutschen Hauptmanns Görke von der Eisenbahn-Baukompagnie bestätigen dies. Die Gegensätze zwischen deutschen militärischen Stellen und dem grossen deutschen Eisenbahnunternehmen, auf das wir viel politische und wirtschaftliche Kraft verschwendet haben, sind den Türken natürlich nicht unbekannt geblieben. Das deutsche Unternehmen hat darunter gelitten. Wäre es unterstützt anstatt angegriffen worden, so würden sich die Türken niemals erlaubt haben, Massnahmen wie die am Amanus zu ergreifen, unter denen jetzt die ganze Kriegslage zu leiden hat. Dass mit der Behandlung der armenischen Arbeiter, wenn die Türken es wünschen, auch eine Ausnahme gemacht werden kann, zeigt der unter Türkischer Leitung stehende Bahnbau Angora – Sivas, der nach anderweitigen Berichten 76 km weit vollendet sein sollte. Nach neuerlichen Feststellungen der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft, welcher durch ihre zahlreichen Agenten bessere und zuverlässigere Informationen zu Gebote stehen, als flüchtigen Reisenden zu sammeln möglich ist, ist die Bahn bis auf 2 km von Angora gediehen. Die armenischen Arbeiter für den türkischen Bahnbau Angora – Sivas sind bisher nicht behelligt worden. Die armenischen Arbeiter des deutschen Unternehmens der Bagdadbahn sind vertrieben worden.

Der Zwang der Kriegslage entwindet uns hier allmählich das Heft aus den Händen. Wir sind daran zum Teil selbst schuld. Die militärischen deutschen Stellen haben hier nicht in Harmonie zusammengearbeitet. Ihre persönlichen Zwistigkeiten untereinander werden von den Türken ausgebeutet, um sich der deutschen Zwangsjacke zu entziehen. Das Bestreben, sich mit den militärischen türkischen Machthabern gut zu stellen und die türkischen Zustände zu beschönigen, genügt nicht, um unsern Einfluss während der Kriegführung hier zu sichern. Es wirkt im Gegenteil schädlich. Der Türke muss fühlen, dass ihn eine feste Hand in diesem Kriege führt. Es ist daher notwendig, dass einer militärischen Stelle die Autorität verliehen wird, der sich alle anderen fügen müssen. Sie muss angewiesen sein, im engsten Anschluss an die politische Vertretung des Reiches zu wirken.


P. Metternich



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