1916-11-14-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R14094
Zentraljournal: 1916-A-34191
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 12/16/1916 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: K. No. 177/J. No. 2688
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Geschäftsträger des Generalkonsulats Jerusalem (Brode) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



K. No. 177 / J. No. 2688

Jerusalem, den 14. November 1916

Geheim!

Euer Exzellenz beehre ich mich anliegend Abschrift eines der Kaiserlichen Botschaft von mir über das neue armenische Patriarchat erstatteten Geheimberichts zu übersenden.


Dr. Brode
Anlage

Abschrift


K.No. 126./J.No. 2688.

Geheim!
Jerusalem, den 14. November 1916

Die neue Verordnung über das armenische Patriarchat (in deutscher Übersetzung abgedruckt in No. 5 des Korrespondenzblattes der Nachrichtenstelle für den Orient vom 29. August dieses Jahres) ist, wie ich Euer Hochwohlgeboren schon an anderer Stelle zu melden die Ehre hatte, den hiesigen armenischen Kreisen gänzlich überraschend gekommen und muss schon deshalb verstimmend wirken, weil die türkische Regierung sich damit willkürlich über die in dem Statut vom 24. Mai 1860 der armenischen Kirche gegebenen Garantien hinwegsetzt. In dessen Schlussartikel 99 war ausdrücklich vorgesehen, dass eine etwaige durch die Zeit oder Erfahrung als notwendig erwiesene Revision der grundlegenden Bestimmungen nicht ohne Zuziehung eines aus Priestern und Laien zusammengesetzten Komitees erfolgen solle.1

Die beiden wesentlichsten Punkte der Neuordnung sind die Loslösung der osmanischen Armenier von dem russischen Oberhaupt und die Verlegung der kirchlichen Zentrale nach Jerusalem. Die erstere Massnahme ist nach der Rolle, die die Armenier bei dem russischen Vormarsch im Kaukasus gespielt haben, vom türkischen Standpunkt aus verständlich, wird aber von allen Anhängern der "christlich-apostolischen Kirche der Armenier" als gewaltsame Zerstörung ihrer kirchlichen Einheit innerlich abgelehnt werden. Das am Fusse des Berges Ararat gelegene Kloster Etschmiadsin wurde bereits von dem Hauptapostel der Armenier und Gründer ihrer nationalen Kirche, Gregor den Erleuchter, im dritten Jahrhundert als Sitz gewählt2 und ist seither, abgesehen von einer längeren, durch politische Verhältnisse bewirkten Unterbrechung, der ständige Sitz des armenischen Kirchenoberhauptes geblieben. Dem in Etschmiadsin residierenden Katholikos aller Armenier waren nach allgemeiner Auffassung die vier übrigen kirchlichen Würdenträger, die Katholici von Aghthamar und Sis und die Patriarchen von Konstantinopel und Jerusalem untergeordnet. Während Aghthamar nie besondere Bedeutung gehabt hat, wurde Sis, als sich nach der seldschukischen Eroberung des alten Armenien in Cilicien durch armenische Einwanderung ein neues Staats- und Kirchenwesen bildete, für anderthalb Jahrhunderte der Sitz des Katholikos,3 bis im Jahre 1441 ein in Etschmiadsin versammeltes Nationalkonzil die Wiederherstellung des dortigen Katholikats beschloss. Da der damalige Katholikos von Sis sich weigerte, seinen Sitz nach Etschmiadsin zu verlegen, wurde ein neuer Katholikos für diesen Platz gewählt und das Katholikat von Sis blieb als partielles Katholikat von Cilicien mit einer sich nur über das Gebiet dieser Provinz erstreckenden Amtsgewalt und beschränkten Gerechtsamen bestehen, von den Katholicis von Etschmiadsin bald anerkannt, bald verworfen. Das Patriarchat von Jerusalem scheint seine Sonderstellung der ägyptischen Okkupation nach den Kreuzzügen zu verdanken und hat immer nur eine räumliche, auf die Provinz Palästina als Kirchensprengel beschränkte Bedeutung gehabt. In kirchlicher Beziehung hat es stets die Oberherrschaft von Etschmiadsin anerkannt. Das Patriarchat in Constantinopel wurde durch Muhammed II Fatih gegründet, welcher den Erzbischof von Brussa im Jahre 1461 nach Constantinopel lud und ihm über die Armenier des Reichs (mit Einschluss sogar aller nicht orthodoxen Rajahs) ähnliche Befugnisse wie dem griechischen Patriarchen übertrug. Seit dem letzten Jahrhundert galt der Patriarch von Constantinopel auch als Vikar des Katholikos von Etschmiadsin und vermittelte, als Repräsentant aller osmanischen Armenier, die kirchliche Verbindung mit dem Oberhaupt der armenischen Kirche in Etschmiadsin, welches durch apostolische Ueberlieferung geweiht ist.

Durch § 1 der neuen Verordnung werden die Katholikate von Sis und Aghthamar sowie das Patriarchat von Konstantinopel tatsächlich aufgehoben und als einziger kirchlicher Repräsentant bleibt – wenn man von dem wohl nur dekorativen Titel eines patrik wekili für den Konstantinopler Delegatsbischof (§ 24) absieht – nur der Patriarch von Jerusalem übrig, welcher gleichzeitig den Titel Katholikos erhält und im Kloster Mar Jakub in Jerusalem zu residieren hat. Diese Verlegung des kirchlichen Schwerpunktes nach Jerusalem, wo sich nur eine verschwindend geringe armenische Kolonie befindet, kennzeichnet deutlich die Absicht der türkischen Regierung, ihr religiöses Leben ganz des nationalen Charakters zu entkleiden. Dem neuen Oberhaupt wird ein Platz angewiesen, wo es sich religiös nach Belieben betätigen mag, aber gar nicht in Versuchung geraten kann, unter Missbrauch seines religiösen Einflusses politische Ziele zu verfolgen. Die ganze Massregel ist, wenn ein etwas krasser Vergleich erlaubt ist, etwas ähnliches, als wenn die deutsche Regierung, weil das Reich sich mit Italien im Kriegszustande befindet, den Papst absetzen und an seiner Stelle einen deutschen Bischof mit dem Amtssitz in irgend einer protestantischen Stadt als Gegenpapst aufstellen wollte.

Natürlich wird auch die rein kirchliche und verwaltungstechnische Arbeit des neuen Katholikos–Patriarchen dadurch erschwert, dass sich Jerusalem fern von seiner Diözese und der vorgesetzten Staatsbehörde befindet.

Weitere Punkte der neuen Verordnung, welche das Missfallen der armenischen Kreise erregen müssen, sind die die bisherige Mitwirkung der Laien einschränkenden Bestimmungen über die Wahl und die Bestimmungen über die Absetzbarkeit des Katholikos–Patriarchen.

Auch dass der erste Katholikos–Patriarch nicht auf Grund einer Wahl, sondern durch Ernennung von Hoher Hand sein Amt bekommen hat, muss als unzulässiger Eingriff empfunden werden.

Dass die Armenier ihrem Unwillen irgendwelchen Ausdruck geben könnten, ist allerdings in gegenwärtiger Zeit ganz ausgeschlossen. Sie sind durch die brutalen Verfolgungen dermassen eingeschüchtert, dass sich jeder einzelne hütet, sein Armeniertum, sei es in kirchlicher oder nationaler Hinsicht, irgendwie zu betonen. Ich habe sogar die Beobachtung gemacht, dass die hiesigen Armenier den Verkehr mit der Geistlichkeit nach Möglichkeit vermeiden, wozu allerdings auch beigetragen haben mag, dass die seit Jahren wegen Neuwahl des jerusalemer Patriarchen im Kloster Mar Jakub herrschenden Streitigkeiten die besseren Laienkreise angewidert haben.

Was die Rolle des früheren konstantinopeler Patriarchen Ormanian, nach welchem Euer Hochwohlgeboren mich seiner Zeit fragten, anbetrifft, so war dieser vor etwa 2½ Jahren von der armenischen Nationalversammlung nach Jerusalem gesandt worden, um die aus Anlass der Wahl eines neuen Patriarchen unter den Mitgliedern der Kongregation entstandenen Wirren beizulegen und die Neuwahl zu leiten. Er soll sie aber in der Hoffnung, selbst gewählt zu werden, künstlich hingezogen haben und schliesslich durch die Neuordnung selbst überrascht worden sein. Die Ernennung des Katholikus von Sis, Wortherrossahak, lag jedenfalls nicht in seinem Interesse, da sie seiner bisherigen Machtstellung ein Ende brachte. Immerhin hat er verstanden, sich mit dem neuen Herrn auf guten Fuss zu setzen. Wenigstens ist dies aus der Tatsache zu schliessen, dass der Katholikos–Patriarch sich dringend für Ormanian verwandt hat, als die Regierung kürzlich beschlossen hatte, ihn nach Damaskus zu verschicken, weil seine weitere Anwesenheit im Kloster Mar Jakub ihr unopportun erschien. Die Verwendung hatte Erfolg und Ormanian weilt nach wie vor im hiesigen Kloster, wo er sich mit literarischen Studien befassen soll.

Ormanian gilt zwar als grosser Intrigant, macht aber persönlich einen liebenswürdigen jovialen Eindruck. Wortherrossahak hingegen scheint eine grämliche Natur und ist durch die Leiden seiner Stammes- und Religionsgenossen offenbar auch persönlich schwer niedergebeugt. Besonders schmerzen ihn natürlich die aus dem Ostjordanland immer wiederkehrenden Nachrichten über gewaltsame Bekehrung der dorthin deportierten Armenier zum Islam (vgl. dazu meinen Bericht No. 73 vom 26. Juni dieses Jahres). Diese Bekehrungen werden auch jetzt noch, wie ich von zuverlässiger Seite erfahre, allen türkischen Ableugnungsversuchen entgegen fortgesetzt.

Die armenische Frage wird voraussichtlich auch ein Thema der Friedensverhandlungen bilden. Ich würde es für bedauerlich halten, wenn wir dabei unsere Freundschaft für die Türkei soweit trieben, die gegen die Armenier verübten Greueltaten zu entschuldigen. Was wir zur Lösung der Frage im einzelnen tun können, entzieht sich, da mein Amtsbezirk dem nationalen Zentrum des armenischen Lebens fern liegt, meiner Beurteilung, doch sollte nach meinem unmassgeblichen Dafürhalten das Deutsche Reich als christlicher Verbündeter der Türkei, sobald es die Verhältnisse gestatten, die erste Macht sein, den christenfeindlichen Tendenzen der Türkei entgegenzutreten. Die Proklamation des Heiligen Krieges hat sich für uns als recht zweischneidige Waffe erwiesen: über die Erfahrungen, die ich gerade als Leiter des Generalkonsulats Jerusalem in dieser Hinsicht machen konnte, behalte ich mir einen besonderen Bericht vor.


[Dr. Brode]

1 Young, Corps de droit ottoman Bd. II S. 91.
2 Vgl. F. von den Steen de Jehay. De la situation légale des sujets ottomans non-musulmans Bruxelles 1906 S. 57.
3 Van den Steen a.a.O. S. 61.



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