1916-12-08-DE-005
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Quelle: /PA-AA/R 20110
Zentraljournal: 1916-A-33660
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 12/12/1916 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 755
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Kühlmann) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Pera, den 8. Dezember 1916

Um sich von der heutigen politischen Lage in der Türkei ein richtiges Bild zu machen, ist es nötig, auf die Zeit zurückzugehen, in der die heute noch regierende jungtürkische oder Komiteepartei das System Abdul Hamids - einen aufgeklärten, aber durch den persönlichen Verfolgungswahn des Sultans häufig recht grausamen Absolutismus - stürzte. Der Hauptvorwurf gegen das Hamidische System war, neben dem lähmenden Drucke im Innern, dessen dauernder Misserfolg in der Auswärtigen Politik, der auf die schwächliche und ängstliche Haltung des Palais zurückgeführt wurde. Wenn auch der objektiv und klar Blickende sich darüber klar sein musste, dass diese stete Gefährdung aussenliegender Provinzen nicht die Schuld eines Einzelnen oder eines Regimes in der Türkei sei, sondern die unabwendbare Folge tief im Wesen des türkischen Staatskörpers steckender Gebrechen, so konnte doch das mehr und mehr erstarkende ottomanische Staatsgefühl der jüngeren Generation den Gedanken an Verkleinerung und Demütigung des Staates durch die europäischen Mächte nicht ertragen.

Abdul Hamid verschwand in enger Haft, und die Jungtürken ergriffen das Ruder des Staates, voll hoher Begeisterung und mit anerkennenswerter Tatkraft. Das heutige Regime beruht auf der Herrschaft sehr weniger durch erlittene Unbilden, überstandene Gefahren und errungene Erfolge untrennbar mit einander verknüpften Persönlichkeiten. Es ist eine Oligarchie im absolutesten Wortsinne.

Als der Ausbruch des gewaltigen Weltkrieges die Türkei vor eine der schwersten Entscheidungen in ihrer Geschichte stellte, da waren es die vier leitenden Männer dieser Oligarchie - Enver Pascha, Talaat Bey, Dschemal Pascha und Halil Bey - die den grossen Entschluss fassten, die Türkei an die Seite der Zentralmächte in den Kampf gegen die drei bisher gefürchtetsten Grossmächte Europas zu führen. Die öffentliche Meinung in der Türkei, soweit man von einer solchen sprechen kann, ist damals nicht für den Krieg gewesen. Sie ist (wie wohl auch in anderen Ländern, z.B. Italien) von den Ereignissen überrascht und von dem Willen einer energischen Minderheit zum Mitgehen gezwungen worden. Auch im Komitee selbst hat von Anfang an eine den Westmächten freundliche Stimmung bestanden, die von einem zu engen Anschluss an die Zentralmächte, insbesondere an Deutschland, eine Gefährdung der türkischen politischen und wirtschaftlichen Selbständigkeit befürchtete. Diese Opposition war stark genug, um bei jeder Spaltung der regierenden Gruppe, bei jedem Zweifel an einem befriedigenden Ergebnis des Krieges gefährlich werden zu können.

Im grossen ganzen ist der Krieg für die Türkei nicht ungünstig verlaufen. Sie hat an den Dardanellen und bei Kut el Amara sogar bedeutende Erfolge erzielen können. Trotzdem ist ein erheblicher Teil des Reichsgebietes in Armenien, Mesopotamien und Arabien vom Feinde besetzt, ohne dass begründete Aussicht bestünde, im Laufe dieses Krieges mit bewaffneter Hand die Russen aus Armenien, die Engländer aus dem Zweistromland und Arabien zurückzudrängen. Angesichts dieser Lage musste die Politik Enver Paschas, den Sieg auf den Hauptkriegsschauplätzen als das wesentliche zu betrachten und der deutschen Heeresleitung immer neue türkische Divisionen (bis jetzt im ganzen sieben) für Mazedonien, Galizien und die Dobrudscha zur Verfügung zu stellen, im Komitee Widerspruch finden.

Die Politik Enver Paschas beruht zweifellos auf einer richtigen und grosszügigen Auffassung der Gesamtlage. Er lässt die Nebenkriegsschauplätze, auf denen eine eigentliche Entscheidung nicht erfochten werden kann, absichtlich beiseite, wenn sie auch türkisches Gebiet sind, und verwendet die ottomanischen Truppen ohne jede ausdrücklich verlangte Gegenleistung da, wo sie die deutsche Oberste Heeresleitung am nötigsten glaubt brauchen zu können. Diesem Verfahren lag, wenn auch nach türkischer Weise unausgesprochen, die Hoffnung zugrunde, dass aus den von Deutschland besetzten Gebieten genügend Kompensationen (hauptsächlich Russland gegenüber) sich würden herauswirtschaften lassen, um insbesondere in Armenien den grössten Teil des verlorenen wieder zurückzugewinnen. In dieser Beziehung hat die Gründung des Königreiches Polen unserer Freunde enttäuscht und ihre Lage weniger günstig gemacht. Einmal mussten sie im Komitee zugeben, dass dieser wichtige Schritt getan worden ist, ohne dass sie um Rat gefragt worden wären - und dies war eine Enttäuschung für ihre Behauptung, sie würden stets als vollkommen gleichwertiger und gleichberechtigter Bundesgenosse betrachtet und behandelt - aber auch sachlich liess er manche politische Hoffnung schwinden. Denn durch die Gründung des Königreiches Polen begab sich Deutschland fast des gesamten Gebietes, das gegebenenfalls als Kompensationsmasse für eine Räumung Armeniens infrage hätte kommen können.

Diese Erwägungen sind nach türkischer Art wenig hervorgetreten, haben aber die gesamte Lage zum Nachteil der unbedingten Anhänger Deutschlands verändert. Denn die regierende Komiteepartei muss jetzt mit der Möglichkeit, wenn nicht Wahrscheinlichkeit rechnen, dass der Friedensschluss der Türkei neue schmerzliche Opfer an Reichsgebiet auferlegen könnte. Nachdem gerade die Schwäche der Auswärtigen Politik beim Sturz Abdul Hamids die wichtigste Parole abgegeben hatte, müssen sich die verständigen Komiteeleute sagen, dass ihnen der Boden unter den Füssen unsicher zu werden beginnt, wenn auch sie, nachdem von dem Lande bisher unerhörte Opfer verlangt worden sind, nicht nur mit leeren Händen, sondern mit einem weiter zerkleinerten und geschwächten Reiche nach Hause zurückkehren.

Als Kompensation für die vielen und grossen Uebel des Krieges hatte man dem Volke seit langem die Befreiung von den verhassten Kapitulationen in Aussicht gestellt, die auf Schritt und Tritt die Bewegungsfreiheit von Volk und Regierung hemmten und in der Tat unzähligen Missbräuchen zum Schutze diesen mussten.

Unsere Verhandlungen wegen Aufhebung der Kapitulationen waren bis zu einem gewissen Grade gefördert worden, hingen dann aber viele Monate lang bei der Besprechung über die Kirchen- und Schulfrage fest. Unser Kirchen und Schulen in der Türkei hatten bisher keinen besonderen vertraglichen Schutz. Sie genossen aber einen gewissen Schutz durch das Bestehen der Kapitulationen. Einesteils war es begreiflich, dass die verantwortlichen deutschen Stellen von dem Wunsche beseelt waren, den deutschen Anstalten anstelle des nunmehr schwindenden Kapitulationsschutzes neue vertragliche Garantien ihres unveränderten Fortbestehend zu verschaffen, anderenteils muss man auch den zähen Widerstand der türkischen Staatsleiter gegen derartige vertragliche Abmachungen als wohlberechtigt würdigen, da (wie sie richtig voraussehen) nach dem Friedensschlusse es so gut wie unmöglich sein wird, dem Andrängen der anderen Nationen, insbesondere der Franzosen, auf Gewährung der Gleichberechtigung, d.h. Einräumung derselben Vorteile, wie sie durch eine derartige vertragliche Zusicherung von uns verlangt worden wäre, zu widerstehen. Nun handelt es sich auf deutscher Seite um einige Dutzend, bei unseren Gegnern um nahe an die tausend Anstalten.

In dem brennenden Wunsche, die Kapitulationsverhandlungen endlich zu Ende zu bringen und dem türkischen Volke diese so lange verheissene Frucht der engen Freundschaft mit Deutschland vorzulegen, wurden von türkischer Seite allerlei Versuche gemacht, den toten Punkt zu überwinden. Unter anderem vereinbarte der Minister des Aeusseren, Halil Bey, nach langer Verhandlung in Berlin einen Notenentwurf, der den beiderseitigen Wünschen auf einer mittleren Linie gerecht zu werden schien. Offenbar aber hatte Halil Bey durch den längeren Aufenthalt im Auslande den Kontakt mit den Tagesströmungen in Konstantinopel etwas verloren. Die Beratung seines Entwurfes in Konstantinopel ergab, dass im Ministerrate eine Minorität unter Führung von Talaat und Enver, im Komitee hingegen eine starke Majorität sich in der nachdrücklichsten Weise der Annahme der Halil’schen Vorschläge widersetzten. Die Dinge spitzten sich so zu, dass Halil mit einem Demissionsantrag hervortrat für den Fall, dass sein Entwurf nicht angenommen würde, Talaat Bey, der Minister des Inneren, hingegen seine Demission in Aussicht stellte, wenn ein dem Halil’schen ähnlicher Entwurf durchgehen sollte. Enver Pascha machte den Versuch, durch einen weiteren Notenentwurf die Gegensätze auszugleichen. Es gelang ihm, unter starker Einsetzung seiner Persönlichkeit einen türkischen Entwurf im Ministerrate durchzubringen, der aber keine von beiden Parteien befriedigte und wegen seiner wenig glücklichen Fassung von der deutschen Regierung in unzweideutiger Weise abgelehnt werden musste.

Auf diese Weise war für uns eine politisch sehr gefährliche und gespannte Lage entstanden. Im Komitee triumphierten die Deutschland weniger geneigten Elemente, indem sie darauf hinwiesen, es sei Deutschland überhaupt garnicht Ernst mir der Abschaffung der Kapitulationen, die deutsche Politik treibe nur Spiegelfechterei, suche die Angelegenheit jetzt durch allerlei juristische Künste hinzuschleppen, um nach dem Friedensschlusse gemeinsam mit den jetzigen Gegnern der Türkei die Sklavenketten der Kapitulationen wieder aufzuzwingen. Das Ministerium selbst war gespalten, unsere vier stärksten Stützen unter sich vollkommen zerfallen. Enver und Talaat lehnten ab, in dieser Frage mit Halil überhaupt noch zu verhandeln. Die Stellung des Ministers des Aeusseren war auf das bedenklichste erschüttert, sein Rücktritt galt vielen als unmittelbar bevorstehend. Enver war über die Zurückweisung der türkischen Note, die er mit so viel Mühe zustande gebracht hatte, verstimmt. Fielen einmal diese vier Männer auseinander, so brach das jetzige Ministerium zusammen, so waren unsere stärksten Stützen unseres Einflusses in der Türkei beseitigt und den Intrigen der Gegner Tür und Tor geöffnet.

Bei so bedrohlicher Lage schien rasches Handeln geboten, und die von Euerer Exzellenz angeordnete Lösung, die uns alle wesentlichen Garantien - insbesondere die Meistbegünstigung - sicherte, ohne dass eine der beiden Parteien im Kabinett sich der anderen bedingungslos zu unterwerfen brauchte, dürfte auf die gesamte politische Lage klärend und festigend wirken.

Die Freude über die endliche Abschaffung der Kapitulationen, welche die Türkei Deutschland danken wird, wird viel größer und tiefgreifender sein, als irgend jemand in Deutschland sich vorstellen kann, und wird das Vertrauen und die Anhänglichkeit an Deutschland auf viel festeren Boden stellen als irgend etwas, was vorher geschehen ist. Auch für die Zukunft wird, richtig ausgenutzt, unsere Haltung in der Kapitulationsfrage immer dazu beitragen, ein festes Band zwischen Deutschland und der Türkei zu schmieden. Denn es ist in der Tat vorauszusehen, dass insbesondere Frankreich, dessen ganze Stellung im Orient mit der Frage des katholischen Protektorates und der Schulen innig verwachsen ist, alles daran setzen wird, an den Kapitulationen festzuhalten und sein den ganzen Orient planmässig umklammerndes System von Schulen wieder zu eröffnen.

Gerade diese Frage wird noch für Jahre nach dem Friedensschlusse einen trennenden Keil zwischen die Türkei und die Westmächte treiben und uns die Möglichkeit gewähren, der Türkei gegenüber die Rolle eines treuen Freundes und Helfers zu spielen. Halten wir diese Frage stets genügend im Vordergrund, so sichert sie allein uns schon eine Fortdauer des engen Vertrauensverhältnisses, wie es jetzt im grossen ganzen zwischen der Türkei und uns besteht.


Kühlmann



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