1918-06-29-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14102
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/01/2014


"Basler Anzeiger"

Armenien.



Von Schweizerischer Seite wird uns folgender Artikel über die Schicksale der Armenier zur Veröffentlichung übergeben:
„In der Türkei stehen die bewährten Staatsmänner Großvezier Talaat und Generalissimus Enver auf ihren Posten ...“ Mit diesen Worten leitete Staatssekretär Kühlmann in seiner jüngsten Reichstagsrede den Abschnitt über die Türkei ein. Er berichtete dann weiter, daß die türkischen Armeen weit über die Grenzen des ihnen in Brest-Litowsk zugewiesenen Gebietes im Kaukasus vordringen. Diese Vorgänge würden von Deutschland aufmerksam verfolgt. Zum ersten Mal seit zweihundert Jahren hat die Türkei bei einem Friedensschluß eine Gebietsvergrößerung zu buchen. Das türkische Reich, das einst Ungarn einschloß, hatte nach und nach eine seiner Provinzen um die andere verloren. Die bodenlose türkische Mißwirtschaft trieb die unterdrückten christlichen Völkerschaften zu heller Verzweiflung; diese erhoben sich gegen ihre Bedränger. Die Serben hatten den Anfang gemacht, dann folgten die Griechen und schließlich wurde mit russischer Hilfe 1878 auch das Bulgarenvolk befreit, sodaß es einen selbständigen Staat bilden konnte.

Durch den Balkankrieg von 1912/13 wurden die Türken schließlich fast ganz aus Europa herausgedrängt. Es blieb ihnen noch die Hauptstadt und Adrianopel. Freilich sollte damit der Auflösungsprozeß nicht beendet sein. Noch schmachteten im asiatischen Teile des Reiches die Armenier, die Griechen und die Syrer unter der türkischen Tyrannei. Nur waren dort die Schwierigkeiten größer. Diese Völker stehen insgesamt auf einer tiefern Kulturstufe, sie sind weit weg von Europa und schließlich bilden die verschiedenen Völkerschaften nirgends eine kompakte Masse, sondern sie wohnen stark gemischt und durcheinander gewürfelt. Nehmen wir zum Beispiel die Armenier; mehrere Hunderttausende von ihnen bewohnen Konstantinopel, in jeder Stadt Kleinasiens bilden sie einen Teil der Bevölkerung, wir finden sie am Schwarzen Meer, im Taurus, am stärksten vertreten sind sie in den östlichen Provinzen des Reiches, in Wan und in Siwas, aber auch dort sollen sie nur knapp die Hälfte der Gesamtbevölkerung betragen. Auf diese Verzettelung stützte sich die türkische Vormacht. Obwohl die Türken unter den 20 Millionen Einwohnern des Reiches nur etwa 6 Millionen ausmachen, gelang es ihnen doch, dank gewisser militärischer Fähigkeiten, die andern Nationalitäten zu beherrschen. Es war keineswegs die Ueberlegenheit des Geistes und der Intelligenz, die ihnen die Führung sicherte, sondern die brutale Gewalt, die im Weltkrieg noch durch mächtige Verbündete unterstützt wurde. Im friedlichen wirtschaftlichen Wettbewerb in Handel und Gewerbe wird der Türke unweigerlich von den intelligenten, rührigen und sehr arbeitsamen Armeniern überflügelt. Nach dem übereinstimmenden Zeugnis von europäischen Beamten der anatolischen Bahnen ist der Türke nur für die untersten Stellen zu gebrauchen. Vom Weichenwärter aufwärts können nur Armenier und Griechen verwendet werden. Deshalb ist der Türke auch von ingrimmigem Haß gegen den unliebsamen Konkurrenten erfüllt. Er schrieb deshalb auf sein Programm: wirtschaftliche Befreiung! Dazu bot nun der Weltkrieg endlich gute Gelegenheit, um dieses Programm gründlich und restlos durchzuführen. Es galt, den unliebsamen Wettbewerber einfach auszuschalten und nach türkischer Art geschieht dies am besten, wenn man ihn totschlägt. Allerdings hängte die jungtürkische Regierung der Sache ein modernes Mäntelchen um; sie ließ die Armenier aus ihrer Heimat deportieren. Das nahm sich ganz europäisch aus. Wegen „dringender militärischer Notwendigkeit“ wurden hunderttausende von Armeniern, sowohl aus den östlichen Provinzen als auch aus Kleinasien und aus Konstantinopel „evakuiert“ und nach Mesopotamien verschickt. An einigen Orten, wir besitzen sichere Berichte darüber aus Angora und Adabasar, wurden diese Maßnahmen mit einem Massaker eingeleitet. Es wurde dem Pöbel bedeutet, die Polizei sei an dem und dem Tage „abwesend“, worauf sich die unsaubern Elemente beutegierig auf die Kaufläden der Armenier stürzten, die Besitzer töteten, die Waren sich aneigneten und die Frauen entführten. Eine solche Methode wirtschaftlicher „Befreiung“ leuchtete natürlich den Leuten ein, indem sie an die niedern Instinkte appellierte. Die Deportierten wanderten nach Mesopotamien. Das Reisen in der Türkei ist auch für den Europäer höchst beschwerlich, für Familien und ganze Dorfgemeinschaften ist es geradezu fürchterlich. Kein Wunder, daß schon auf der Reise zahlreiche Deportierte elendiglich umkamen. Nicht wenige Opfer forderten Epidemien, wie sie ja dort stets vorkommen, zur Kriegszeit natürlich doppelt häufig. Wer die Reise glücklich überstanden hatte, fand in Mesopotamien schließlich ein trauriges Ende, da dort keine Behausungen für die Deportierten sich vorfanden und eine Hungersnot herrschte. Die Güter der Deportierten wurden vom türkischen Fiskus konfisziert und öffentlich versteigert. Einzig in Sansun wurde eine Million Kilogramm Tabak, der aus „verlassenen Gütern“ stammte (so hieß es wörtlich in der Ankündigung) öffentlich von der Regierung verkauft. Bei diesen gewaltsamen Deportationen kamen mehrere hunderttausend Armenier ums Leben. Eine genaue Zahlenangabe ist kaum möglich. Die meisten Schweizer und Deutsche, die Gelegenheit hatten, die Sachlage zu beurteilen, geben als Mindestschätzung eine halbe Million an. An einzelnen Orten, wie in Urfa, leistete die armenische Bevölkerung gegen den Deportationsbefehl Widerstand, wohl wissend, was dieser für sie bedeutete. Urfa wurde dann von türkischen Truppen unter dem Befehl eines deutschen Hauptmanns belagert und zu Fall gebracht. Die Besatzung wurde darauf niedergemacht.

Die Berichte über die armenischen Greuel werden von der deutschen Presse und ihren schweizerischen Ablegern ja gerne als „Entente-Entstellungen“ abgetan. Leider stehen diesem Vorwurfe die übereinstimmenden Berichte von Schweizern und Deutschen gegenüber. Bekannt ist ja das Zeugnis der Herren Graeter und Niepaj[g]e über die Vorgänge in Aleppo und die Darstellung des Konstantinopler Korrespondenten der „Kölnischen Zeitg.“ Dr. H. Stürmer. Es ist stets gut, sich dieser Berichte zu erinnern. In letzter Zeit hat sich nämlich in der Schweiz auch eine türkische Propaganda bemerkbar gemacht. Dieselbe verschickt in diesen Tagen gratis eine Broschüre, worin ein gewisser Ahmed Rustem Bey die Armenier als böswillige Friedensstörer brandmarkt, gegen die der gute Türke aus Notwehr vorgehen mußte. Die Broschüre, 204 Seiten stark, ist gedruckt in Bern bei Stämpfli im Jahre der allgemeinen Papiernot 1918!

Mit den Massakers und Deportationen, die sich 1915 und 1916 abspielten, hatten aber die Leiden des armenischen Volkes ihr Ende noch nicht erreicht. Der nach verschiedenen Seiten verhängnisvolle Frieden von Brest-Litowsk bedeutete den Beginn des Schlußaktes der Tragödie. Als in Brest-Litowsk über die Verteilung der russischen Beute verhandelt wurde, verlangte auch die Türkei ihren Anteil. Unter gänzlicher Mißachtung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker wurde Russisch-Armenien den Türken überwiesen. Etwa die Hälfte des Armeniervolkes lebte unter russischer Herrschaft. Sein Los war auch dort nicht glänzend, immerhin war es unvergleichlich besser als dasjenige der in der Türkei lebenden Stammesgenossen. In den letzten Monaten sind nun die türkischen Truppen in das Gebiet von Kars und Batum eingerückt und bereits dringen schauererregende Berichte über die Behandlung der armenischen Bevölkerung nach Europa. Es ist den Türken darum zu tun, ihr Werk so schnell als möglich zu vollenden. So ungestört konnten sie noch nie an die Arbeit gehen. Rußland, das von den Bolschewikis gänzlich zerrüttet ist, kann ihnen keinerlei Widerstand leisten.

Die Türken begnügen sich jedoch mit dem ihnen in Brest Litowsk zugewiesenen Gebietszuwachs nicht, ihre Truppen sind bereits in Eriwan eingerückt. Sie befinden sich schon im Gebiete der Kaukasischen Republik. Den Machthabern in Stambul schwebt in ihrem tollen Größenwahn ein großes Reich sämtlicher turanischer Stämme vor; es umfaßt die Gebiete um das Kaspische Meer und reicht bis nach Turkestan. Sie wollen das Reich des Mongolen Tamerlan wieder aufrichten; ihr Ziel ist ein türkisch-tatarischer Nationalstaat. Turan nennen sie das künftige Reich und Panturanismus die Bewegung, um es zu erlangen. Die „artfremdem“ Stämme, voran die Armenier und die Griechen, stehen dem Panturanismus im Wege, deshalb müssen sie entfernt und unschädlich gemacht werden. Kleinasien, das nach Schätzung von Fachleuten eine zehnfach größere Bevölkerung aufnehmen könnte, das aber durch die Jahrhunderte lange osmanische Mißwirtschaft gänzlich entwaldet ist und der Verkarstung und Verödung entgegengeht, wird immer mehr entvölkert. In den letzten zehn Jahren hat die Türkei drei Kriege durchgemacht und obendrein wurde sie noch von Revolutionen und Aufständen heimgesucht. Dies Alles forderte vom türkischen Volke furchtbare Opfer an Gut und Blut. Die christlichen Völkerschaften, die Armenier und Griechen, sind durch Deportation und Massaker dezimiert. Das ist die Bilanz der jungtürkischen Machthaber. Und in diesem Sinne kann man in der Tat sagen: „In der Türkei stehen die bewährten Staatsmänner Großvezier Talaat und Generalissimus Enver auf ihren Posten.“



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