1918-08-04-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14104
Zentraljournal: 1918-A-34710
Erste Internetveröffentlichung: 2000 März
Edition: Kaukasus Kampagne
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 9/p
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der k.u.k.-Vertreter in Tiflis (Franckenstein) an den österreichisch-ungarischen Minister des Äußeren (Burian)

Bericht



Nr. 9/p
Tiflis, den 4. August 1918

1 Beilage.

Eröffnung des armenischen Parlamentes.

Während Baron Kress wegen dringender Angelegenheiten nach eintägigem Aufenthalte in Eriwan nach Tiflis zurückkehren mußte, blieb ich noch einen Tag in der Hauptstadt Armeniens, um der Eröffnung des Rates von Armenien beizuwohnen, hiebei Eindrücke zu sammeln und um noch mit dem Minister des Innern ein Gespräch zu führen.

Der bisherige Präsident des armenischen Nationalrates verlas von einer Tribüne vor den 46 Mitgliedern des Parlaments, hinter denen sich ein zahlreiches Publikum versammelt hatte, eine längere Eröffnungsrede, in welcher er zuerst einen historischen Ueberblick über die Vorgänge gab, die zur Selbständigkeitserklärung geführt haben, durch welche das Ziel jahrhundertelanger Bestrebungen erreicht worden sei. (Im Jahre 1046 verlor Armenien endgültig seine Selbständigkeit). Er erklärte sodann, daß die Grenzen des Batumer Vertrages, innerhalb welcher Armenien nicht leben könne, nicht feststehend seien und revidiert werden würden. Alle in Armenien wohnenden Nationalitäten sollen ihr ruhiges Heim in der Republik haben, daher sei Wert darauf gelegt worden, daß die Nationalitäten-Vertreter bereits bei der ersten Sitzung anwesend seien. (Im Gegensatze hiezu sind im georgischen Nationalrate bisher nur georgische Volksvertreter, doch soll eine Vertretung der hiesigen anderen Nationalitäten in dieser Körperschaft geplant sein). Er übergebe die Fürsorge für das Wohl des Vaterlandes dem Parlamente und trete als Präsident des Nationalrates zurück. Er wurde sodann einstimmig zum Parlamentspräsidenten gewählt. Seine Rede wurde hierauf zuerst auf türkisch und dann auf russisch verlesen, weil die Nationalitätenvertreter armenisch (zum Teil) nicht verstehen.

Die Volksvertretung ist folgendermaßen zusammengesetzt:

Die Jesiten sind ein den Kurden verwandter Stamm, der Religion nach eine Art Teufelsanbeter.

Unter der Präsidententribüne hatten links die Präsidenten des tartarischen und des russischen Nationalrates Platz genommen, rechts die Pressevertreter. Über diesen in einer Loge die Minister, deren Namen in der Beilage angeführt sind und die Generäle, ihnen gegenüber war der leer gebliebene Armstuhl des Katholikos. Neben diesem war die Loge für die fremden Vertreter, in welcher sich außer mir zwei deutsche nach Eriwan zur politischen und wirtschaftlichen Beobachtung detachierte Offiziere, ferner der türkische und der persische Konsul und der Vertreter der Ukraine befanden. Unter den Volksvertretern war eine große Anzahl Typen, die durchaus an jüdische Physiognomien erinnern, mit welchem Volksstamme die Armenier viele Eigenschaften gemein haben. Viele von den Volksvertretern und mehrere Minister schauen aus wie lebendig gewordene "schwarze Peter" unserer Kartenspiele. Außer der erwähnten Rede des Präsidenten wurden keine Ansprachen gehalten. Ein Teil der Abgeordneten verlangte dringend, daß am nächsten Tage sofort eine Sitzung abgehalten werde, da die furchtbare Notlage Armeniens sofortige Arbeit erheische.

Anschließend an die Eröffnungssitzung fand eine Parade aller Waffengattungen statt, zu der der größte Teil der Truppen morgens von der nahen türkischen Front gekommen war. Sie waren wild und schlecht adjustiert, aber bemerkenswert große und kräftige Leute, die stramm marschierten. Das zahlreiche bunte Publikum - größtenteils Bauern - von Polizisten mit Napajkas in Ordnung gehalten, verhielt sich ruhig.


Der k. u. k. Vertreter1
Anlage

Liste der armenischen Minister


1.) Ministerpräsident: Katschasnuni.

2.) Minister des Innern: Aram Manukian.

3.) Minister des Äußern: Chatissian (derzeit in Konstantinopel).

4.) Kriegsminister: General Achverdian.

5.) Finanzminister: Kartschigian.

6.) Justizminister: Petrosian.

Präsident des Parlaments: Saaksian.

ad 1.) Er war Ingenieur in Baku.

ad 2.) War ursprünglich Lehrer in Van, das er mit großem Heldenmut gegen die Türken verteidigt haben soll.

ad 3.) Dr medizinäe früher Bürgermeister von Tiflis.

ad 4.) Von den Russen als sehr tüchtig geschätzter Offizier.

ad 5 u. 6) Dr. juris.

Der Präsident des Parlaments ist von Beruf Agronom.

[2.] Gespräch mit dem Armenischen Minister des Innern über die inneren Verhältnisse der Republik und die Armenische Frage.

Um mich über die inneren Verhältnisse Armeniens einigermaßen zu informieren, erbat ich von dem Armenischen Minister des Innern eine Unterredung, bei welcher er mir auf meine Fragen beiläufig Folgendes sagte.

Da es in Armenien fast gar keinen Adel und Großgrundbesitz gibt, kommt eine Landverteilung auf ihre Kosten nicht in Frage. Vom russischen Staate habe die armenische Republik als dessen Erbe den Besitz der Waldungen und Almenweiden übernommen. Die bäuerliche Wirtschaft sei in Armenien von zweierlei Art, entweder wie die des russischen Mir, also periodische neue Landesaufteilung oder gemeinsame Bewirtschaftung einer gewissen Bodenfläche mit Aufteilung der Ernte nach Köpfen. Die Bauernschaft sei mit dieser Art der Bewirtschaftung zufrieden. Großen Grundbesitz habe nur die armenische Kirche, die ihn pachtweise an die Bauern vergebe. Ob eine Nationalisierung dieses Besitzes bei Entschädigung der Kirche erfolgen soll, stehe noch dahin. (Von anderer Seite hörte ich, daß dies kaum geschehen werde, da die Kirche den größten Teil ihrer Einkünfte dem Schulwesen zuwendet, und bei der Bevölkerung in hoher Verehrung steht. Meine Fragen an verschiedene Herren, ob das Fehlen des Katholikos bei der Eröffnung des Parlaments auf politische Gründe zurückzuführen sei, wurden verneint. Die Minister hätten bei ihrem Amtsantritte sofort bei Sr. Heiligkeit einen Antrittsbesuch gemacht. Der Katholikos sei offenbar wegen Unwohlseins nicht erschienen).

Auf meine Frage sagte mir der Minister des Innern, daß Armenien von den 80 Millionen Rubel, die es durch die in meinem heutigen Berichte lit. besprochene, mit Georgien gemeinsam veranlaßte Emission von transkaukasischen Bons erhalten wird, 30 Millionen für Kriegsliquidierungszwecke verwenden und mit den übrigen 50 für 4 Monate sein Auslangen finden werde. Wenn Armenien die Brest-Litowsker Grenzen erhielte, und wieder Ordnung und Ruhe einträten, könnte es sein finanzielles Auskommen finden. Die Bauern wären bereit, die rückständigen Steuern zu zahlen. Um die in das ressourcenarme kleine gegenwärtige Armenien zusammengepreßte Menschenmenge ernähren zu können, wäre der Import von 1 Million Pud Getreide notwendig. Es sei gelungen, in das durch die Revolution aufgewühlte Heer und Volk in den letzten 3 Monaten wieder einigermaßen Ordnung und Disziplin zu bringen, wenn auch die durch die Türken planmäßig verursachten Zustände in Armenien die Verwaltung fast unmöglich machen. Eine rote Garde oder Nationalgarde, wie in Georgien, gebe es nicht, es bestehe nur die Armee, derzeit beiläufig 34000 Mann und in den Ortschaften eine Miliz.

Da der Minister durch langjährigen Aufenthalt in Türkisch-Armenien die dortigen Verhältnisse genau kennt, lenkte ich das Gespräch auf diese. Er sagte, daß vor dem Kriege in dem genannten Gebiete und überhaupt in der Türkei 2 Millionen Armenier gelebt hätten, während jetzt nur noch ½ Million in Konstantinopel, Aleppo etc. wohne, eine halbe Million sei nach Armenien geflohen, beiläufig eine halbe Million sei hingemetzelt worden, was er zum Teil selbst miterlebt habe, beiläufig eine halbe Million sei nach Mesopotamien getrieben worden, wo sie fast alle zugrunde gingen. Er selbst – der Minister – sei mit den Jungtürken, bevor sie ans Ruder gelangten, befreundet gewesen, er habe jahrelang gegen Rußland konspiriert, in dem Gedanken, daß von diesem mächtigen Reiche niemals eine Autonomie zu erwarten gewesen sei, während die Armenier alle Hoffnungen in dieser Beziehung auf die Jungtürken gesetzt hätten. Aber diese hätten, zur Macht gelangt, das System Abdul Hamid's noch furchtbarer fortgesetzt. Die Reformen, zu welchen die Großmächte die Türkei im Februar 1914 veranlaßt hätten, seien die Hauptursache des vernichtenden Vorgehens der Türken gegen Armenien, sobald sie freie Hand durch den Krieg hätten. Türkisch Armenien sei jetzt ganz menschenleer, selbst die Türken seien fort. Flecktyphus und andere Seuchen hätten ihren Anteil daran. Der wirtschaftliche Schaden für die Türkei sei ein sehr großer, aber auch der Rückgang der Zahl der Osmanen – es sind nur 7 Millionen unter 22 der türkischen Bevölkerung im allgemeinen – sei für die türkischen Machthaber erschreckend, daher der Drang, sich mit den Tartaren in Aserbeidjan, die zum Teil ein sehr starkes, reiches Element bilden zu vereinigen und eine größere Anzahl zur Uebersiedlung nach der Türkei zu veranlassen.

15000 Tartaren seien im letzten Monat auf Grund türkischer Propaganda dorthin gezogen, daher auch das Bestreben der Türkei, Armenien, dessen tragisches Los es ist, diese stamm- und religionsverwandten Völkerschaften geographisch zu trennen, als selbständigen Staat aus der Welt zu schaffen.

Bei den jüngsten Verhandlungen in Alexandropol hätten die Türken den Wunsch vorgebracht, daß die in den von ihnen besetzten Gebieten Grundbesitz habenden Armenier, mit den Tartaren tauschen, die Landbesitzer in Armenien seien. Die armenische Regierung habe dies abgelehnt, weil der ersterwähnte Grundbesitz viel wertvoller sei.

Das Dichterwort von dem Fluch der bösen Tat, die fortzeugend Böses muß gebären, bewahrheitet sich in tragischer Weise in dem türkisch-armenischen Hasse. Wie mir ein kürzlich aus Baku eingetroffener k.u.k.Offizier berichtet, haben die dortigen armenischen Bolschewiki in der näheren und weiteren Umgebung der Stadt, bis sie von den türkischen Truppen aufgehalten wurden, alle tartarischen Dörfer und den nicht geflüchteten Teil der Bevölkerung vernichtet, als Rache für die Greueltaten, welche die Tartaren 1905 in dem armenischen Stadtviertel Baku's verübt haben.


Der k.u.k.Vertreter:


1 Georg Freiherr von und zu Franckenstein.



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