1916-08-29-DE-001-V

DuA Dok. 297 (gk.)

Der Verweser in Aleppo (Hoffmann) an die Botschaft in Konstantinopel

Nr. 2463

Aleppo, den 29. August 1916

Abschrift

Ueber den Stand der Armenier-Verschickung in der Euphratgegend berichtet ein deutscher Offizier, der soeben von dort zurückgekehrt ist und die Zustände von früheren Reisen auf derselben Strecke gut kennt, Folgendes:

Die Strasse Aleppo-Der-es-Sor (die die Verschicktenzüge seit langen Monaten benutzen) biete jetzt ein verändertes Bild: sie sei verhältnismässig leer geworden. Zwar seien bei den Aleppo zunächst gelegenen Stationen noch grössere Armenierlager vorhanden. Weiter nach Süden zu, von Meskene ab, seien die Lager bedeutend verkleinert. Von den grossen Stationen sei Sabcha ganz, Der-es-Sor bis auf einige hundert Handwerker, die für die Truppen arbeiteten, geleert, während an letzterem Orte noch vor 8 Wochen viele Tausende (von anderer Seite auf 20000 geschätzt) gelagert gewesen seien. Die geistigen Führer wie Lehrer, Anwälte, Geistliche habe man in der letzten Zeit aus den Lagern gesammelt und in die Regierungsgebäude (also wohl in Gefängnisse) gesperrt. Alle übrigen - auch diejenigen, die in den nördlicheren Stationen sich wirklich anzusiedeln begonnen hatten - seien verschwunden. Nach amtlicher Lesart seien sie nach Mussul weitergeführt (d.h. einen Weg, auf dem die Wenigsten Aussicht haben lebend ans Ziel zu gelangen), nach allgemeiner Volksmeinung aber in den kleinen Tälern südöstlich von Der-es-Sor, im Winkel zwischen Euphrat und Chaburfluss, umgebracht worden. Man habe die Armenier nach und nach in Trupps von einigen Hunderten abgeführt und von dazu bestellten Tscherkessenbanden abschlachten lassen. Diese Angaben wurden dem Offizier bestätigt von einem arabischen Augenzeugen, der gerade vom Schauplatz einer solchen Szene kam, wohin ihn die Neugier getrieben hatte. Der Mann machte auf den Offizier einen glaubwürdigen Eindruck. Er erwähnte bei seiner Schilderung, deren Einzelheiten ich übergehe, zurzeit harrten an der von ihm besuchten Stelle noch dreihundert Armenier der Abschlachtung; die Hälfte kämen noch am selben Nachmittag, der Rest in der Nacht an die Reihe. Der Mann führte anerkennend hinzu: Deutschland sei doch stark! Früher hätten die Türken eine solche Ausrottung nicht wagen können.

Manche Armenier haben Unterschlupf in Araberhäusern gefunden. Zu deren Aufsuchung ist Gendarmerie aufgeboten die förmliche Jagden veranstalten soll. Die Beute wird in Euphratkäne geladen und nach Der-es-Sor gebracht.

Die Nomaden haben nach meinem Gewährsmann jenen Winkel zwischen Euphrat und Chabur verlassen, angeblich wegen der geschilderten Vorgänge.

Verschickung von Aleppinern.

In Aleppo hat die Verschickung der nicht "eingesessenen" Armenier noch keinen grossen Umfang angenommen. Immerhin sind ihr bisher schon etwa 800 verfallen. Dabei wird rücksichtslos auf der Strasse aufgegriffen. Einen Aleppiner Bekannten traf jener deutsche Offizier beispielsweise unterwegs in einem Trupp von 50 Leuten in Pantoffeln und Hausrock ohne jedes Gepäck; er war beim Einkauf auf dem Markte aufgehoben, ins Sammellager geführt und verschickt worden.

Auflösung der Waisenhäuser.

Auch für die hiesigen Waisenhäuser, in denen man die Waisen Verschickter gesammelt, scheint die wiederholt angedrohte letzte Stunde nunmehr geschlagen zu haben. Diese Waisenhäuser werden bekanntlich von europäischen (Schweizer und deutschen) und amerikanischen Hilfsgeldern unterhalten und von armenischen Geistlichen und (eins mit über 800 Waisen) Schwestern des Deutschen Hilfsbunds für evang. Liebeswerk verwaltet. Jetzt hat die hiesige Regierung einen besonderen Kommissar für diese Waisenhäuser ernannt, der die Uebernahme in türkische Verwaltung ausführen soll. Nach unter der Hand eingezogenen Erkundigungen soll diese nach folgenden Grundsätzen vor sich gehen:

Die Knaben über 13 Jahre sollen verschickt, die Mädchen über 13 verheiratet werden (natürlich an Muhammedaner). Die Kinder zwischen 10 und 13 Jahren werden, weil sie schon unter dem Eindruck des Erlebten stehen, von den jüngeren getrennt in rein türkischen Waisenhäusern untergebracht, wo sie ein Handwerk lernen sollen. Die Kinder unter 10 werden in besonderen Waisenhäusern erzogen. Das heisst mit anderen Worten: Die Knaben über 13 Jahre werden umgebracht, die Mädchen dieses Alters in die Harems gesteckt - ein auffallend hübsches 12jähriges Mädchen wurde soeben unter Drohung von Repressalien gegen hier lebende Verwandte aus dem neben dem Konsulat belegenen Waisenhaus weggenommen und zwangsweise an einen stadtbekannten 70jährigen Pascha verheiratet - die kleineren Kinder dem Islam zugeführt, soweit sie die türkische Waisenhausverwaltung überstehen.

Massenbekehrungen zum Islam.

In Hama, Homs, Damaskus usw. sind übereinstimmenden Nachrichten zufolge in den letzten Wochen die Verschickten in Massen durch die Drohung weiterer Verschickung zum Uebertritt zum Islam gepresst worden. Dieser geht rein bürokratisch vor sich: Eingabe und darauf Namensveränderung.

Dass die Türkei durch diese Scheinbekehrung wirklich eine Vertürkung der Armenier erreichen könnte, muss als Illusion angesehen werden. Augenscheinlich schweben den Urhebern Beispiele aus der Erobererzeit des Osmanentums vor. Sie dürften aber ihre Rechnung ohne das heute ganz anders gestärkte Rassen- und Nationalgefühl gemacht haben und ohne den abgrundtiefen Hass, der ganz natürlicherweise auch in den neuen armenischen Muhammedanern gegen das eigentliche Türkentum - den Henker ihres Volkes - weiter leben wird. Werden die muhammedanischen Armenier somit nach allem Erlebten auch im Denken und Fühlen Armenier bleiben - und sicherlich nicht nur in der gegenwärtigen Generation - so macht sie ihre Vermummung im Islam dem türkischen Volkstum künftig nur noch gefährlicher, weil weniger kenntlich. Ebenso wird das Deutschtum in ihnen künftig doppelt gefährliche Feinde haben.


[i.V. Hoffmann]

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