1915-04-12-DE-001-V

DuA Dok. 025 (gk.)

Der Konsul in Aleppo (Rößler) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

K.Nr. 39/J.Nr. 764

Aleppo, den 12. April 1915.

Die Unruhen, welche in Zeitun ausgebrochen sind, haben die Frage nahegelegt, ob sie von auswärts angezettelt seien. Keinerlei derartige Spuren aber habe ich während meiner Dienstreise nach Marasch vom 28. März bis 10. April entdecken können. Der Vorsitzende des Kriegsgerichts hat allerdings behauptet, fremder Einfluß sei vorhanden, hat mir aber keine Angaben darüber gemacht. Die an Ort und Stelle vorhandenen, aus den inneren Leiden der Türkei stammenden Keime genügen vielmehr vollkommen, die Unruhen zu erklären.

In der Nähe von Zeitun hatte sich ein Räuberunwesen unter den Armeniern unter einem gewissen Nazareth Tschausch entwickelt. Im Oktober v. Js. ist der Mutessarrif Haidar Pascha von Marasch dagegen vorgegangen. Er versprach den Bewohnern von Zeitun auf sein Wort, daß er denen, die ihm die Räuber auslieferten, nichts tun würde und erreichte damit tatsächlich die Auslieferung. Anstatt aber ein Gerichtsverfahren zu eröffnen und die Schuldigen hinzurichten, ließ er Nazareth Tschausch im Gefängnis zu Tode prügeln (vgl. Bericht No. 2480 vom 16. Oktober v. Js), 30 der mit ihm Gefangenen ließ er nach Osmaniye ins Gefängnis bringen, wo sie noch heute ohne Urteil sitzen, andere hat er laufen lassen, um nicht gleichzeitig gefangene muhammedanische Räuber strafen zu müssen. Dagegen hat er entgegen seiner feierlichen Zusage diejenigen Leute verhaften lassen, die ihm zur Ergreifung der Räuber führende Angaben gemacht hatten.

Mit Kriegsausbruch wurde von General Fakhri Pascha entgegen dem Rat des Wali Djelal Bey von Aleppo die in Zeitun liegende Kompagnie Soldaten fortgenommen und durch Gendarmen ersetzt und zwar durch muhammedanische Gendarmen aus Marasch, die zum Teil die persönlichen Feinde der Bewohner von Zeitun waren. Ihnen waren die letzteren ausgeliefert.

Zeitun ist eine ausschließlich christliche Stadt. Mehrfach wurden die Männer mißhandelt und die Frauen belästigt unter stillschweigender Duldung und Begünstigung durch den Gendarmeriehauptmann und den Kaimakam. Die gedrückte Bevölkerung von Zeitun wandte sich an den Mutessarrif von Marasch mit der Bitte, die beiden Beamten abzurufen. Haidar Pascha war im November auf Vorschlag des Wali durch den Mutessarrif Mumtaz Bey ersetzt worden, der als unparteiisch und besonnen gilt und bestrebt war, sich ein richtiges Bild von der Lage zu machen. Er verlangte Beweise für die Schuld der beiden Beamten. Beweise aber können die Bewohner nicht wagen gegen einen Beamten vorzubringen. Jeder Zeuge müßte früher oder später unnachsichtlich dafür büßen. So haben denn die Gendarmen weiter gehaust und eine erbitterte Stimmung geschaffen.

Noch aus einer anderen Quelle wurde die Unruhe gespeist. Von den armenischen Soldaten in Marasch, die schlecht genährt und, soweit sie Zeitunlis waren, gequält und schlecht behandelt wurden, war ein Teil desertiert. Aus Gründen, die mit dem hiesigen Bezirk nichts zu tun haben, nahm die Regierung etwa Anfang März den christlichen Soldaten Uniform und Waffen. Da dies von den unwissenden Mannschaften als Vorspiel zu weiteren, schwereren Maßnahmen gegen die Christen betrachtet wurde, so desertierten weitere christliche Soldaten und vereinigten sich mit den in der Nahe von Zeitun hausenden Räubern. Als Gendarmen ausgesandt wurden, sie zu fangen, setzten sie sich zur Wehr und erschossen 6 von ihnen etwa am 9. März. Auch einen muhammedanischen Maultiertreiber, der nach Zeitun ging, haben sie ermordet. Die Bevölkerung von Zeitun, fürchtend, daß die Räuber auch Überfälle auf die Stadt ausführen könnten, baten um Schutz, der auch gewährt wurde. Als in den verschiedenen Stadtvierteln Gendarmeriepatrouillen gingen, wurde in dem Stadtviertel Yeni Dunya, in welchem Nazareth Tschausch seinerzeit seine Wohnung gehabt hatte, aus einem Hause heraus auf eine Patrouille geschossen. Anstatt aber dieses Haus zu umstellen und die Schuldigen zu fassen, zog es der Gendarmeriehauptmann, der vorher die Bevölkerung bedrückt hatte, vor, sich nicht mehr in die Stadt zu begeben, sondern in der Kaserne oberhalb der Stadt zu bleiben. Hierauf breitete sich die Bewegung aus. Die Räuber und Deserteure verschanzten sich in einem außerhalb der Stadt gelegenen als Wallfahrtsort dienenden ehemaligen Kloster (Tekke). Versuche, ihre Auslieferung durch die Stadtbewohner zu verlangen, scheiterten, weil die Leute kein Vertrauen mehr zu Regierungsversprechungen hatten. Hier rächte sich, daß Haidar Pascha im Oktober sein Wort gebrochen und die Ausliefernden bestraft hatte. Das Anerbieten des Missionars Blank vom Deutschen Hülfsbund in Marasch, sich nach Zeitun zu begeben und einen Versuch zur gütlichen Übergabe zu machen, wurde vom Mutessarrif Mumtaz Bey verständigerweise angenommen. Blank ging am 23. März nach Zeitun, doch scheiterten seine Bemühungen daran, daß die Verschanzten niemanden mehr an das Kloster heranließen, sondern den von Blank abgeschickten Eingeborenen mit der Waffe bedrohten, sobald von Auslieferung die Rede war. Sie erklärten, sterben müßten sie doch. Sie wollten es lieber mit der Waffe in der Hand, als sich der Regierung ausliefern. Daraufhin ließ der Platzkommandant von Zeitun das Kloster umstellen, aber mit ungenügender Truppenzahl. Wäre er militärisch richtig vorgegangen, so hätte er die ganze Räubergesellschaft gehabt. Er hätte nur Ankunft von Artillerie abzuwarten oder die Räuber auszuhungern brauchen. Statt dessen aber ließ er einen Angriff machen, wobei der Gendarmeriemajor aus Marasch auf das Haupttor des Klosters losritt und nebst einigen Soldaten erschossen wurde. Die Räuber, deren Zahl vielleicht 150 gewesen sein mag, brachen unter Verlust einer Anzahl Toter und Verwundeter, die den Truppen in die Hände fielen, durch, gewannen die Stadt und von dort aus die Berge. Erwähnenswert ist, daß sie zweien ihrer Toten die Köpfe abgeschnitten haben, offenbar um ihre Identifizierung durch die Türken unmöglich zu machen. Das Kloster wurde nachträglich mit Artillerie zusammengeschossen. Die Ergreifung der Räuber in den Bergen wird schwierig sein. Mumtaz Bey, der inzwischen nach Zeitun geeilt war, setzte nunmehr den Gendarmeriehauptmann ab, weil er nach Beschießung der Patrouille nicht die richtigen Maßregeln ergriffen hatte und den Kaimakam, weil er sich noch nach Ankunft des Mutessarrif weigerte, von der Kaserne herab zur Erfüllung seiner Pflichten in die Stadt zu gehen.

Die Ereignisse von Zeitun gewinnen stets dadurch eine größere Bedeutung, daß sie eine Rückwirkung auf Marasch als die nächstgelegene größere Stadt ausüben. Diese zählt schätzungsweise 50 - 60000 Einwohner, von denen 36000 Moslims und 24000 Christen sein mögen. Sie leben zum Teil von Industrie und Handel, zum großen Teil aber von landwirtschaftlicher Tätigkeit, Weinbau (Gewinnung von Rosinen und Bereitung von Traubenhonig), Reisbau, Baumwolle, Seidenzucht u. a. Obwohl der Boden fruchtbar ist und reichlich Wasser vorhanden, so daß vielfach auch das Getreide bewässert werden kann, ist die Bevölkerung doch arm und gegenwärtig großenteils dem äußersten Elend nahe, teils infolge der dauernden politischen Unruhen, teils infolge der überaus mangelhaften Verkehrsverhältnisse. An der einzigen Marasch mit der übrigen Welt verbindenden Fahrstraße nach Aintab wird seit 18 Jahren gebaut, ohne daß auch nur die Hälfte fertig wäre. Der Aksu, der bei hohem Wasser den Verkehr abschneidet, ist erst seit einigen Jahren überbrückt, nachdem die Frau eines Mutesarrifs beinahe ertrunken wäre. Die aus Holz erbaute Brücke wurde dann von Leuten, die in der Verkehrsabgeschiedenheit ihren Einfluß besser aufrecht zu erhalten hofften und dem fortschrittlich gesinnten Mutesarrif einen Streich spielen wollten, zunächst abgebrannt, bis sie nach Verlauf eines Jahres wieder aufgebaut wurde. Die Bevölkerung ist friedlich und denkt nicht an Auflehnung gegen die Regierung. Die Wirkung der Mobilmachung, weitgehende Requisitionen haben stark auf sie gedrückt und u. a. die Beförderungsmittel äußerst knapp gemacht. Der Wagen, mit dem ich aus Aleppo ankam, war der einzige in der ganzen Stadt. Im ganzen sind bis Ende März 2000 Pferde und Maultiere requiriert worden. Am 5. April wurden 500 Esel verlangt. Christliche Maultiertreiber sind gezwungen worden, 4 Wochen lang hintereinander für militärische Zwecke unentgeltlich zu arbeiten, ohne Lohn und ohne Requisitionsschein (während man muhammedanische nach ein paar Tagen laufen ließ). Waren sie dann mit einem Schein entlassen, daß sie ihrer Pflicht genügt hätten, so wurden sie in manchen Fällen trotzdem an anderer Stelle wieder aufgegriffen. Die Lage war bereits sehr gedrückt, als die Zeitunereignisse kamen. Jetzt wurden auch der armenischen Zivilbevölkerung die Waffen weggenommen, und zwar mit Vorliebe durch nächtliche Haussuchungen. Soldaten schlugen die Christen, Frauen wurden unter dem Vorwande, daß sie nach Waffen durchsucht werden mußten, belästigt, Kinder wurden mit Steinen geworfen. Das Gerücht wurde ausgestreut, die christlichen Soldaten hätten ihren muhammedanischen Kameraden das Brot vergiftet; muhammedanische Frauen drohten offen, es würden wieder Metzeleien vorkommen: ein Muhammedaner bot einem christlichen Freunde sein Haus zum Schutz an. Einflußreiche Muslims beschlossen, ein Telegramm an die Zentralregierung zu schicken, daß die Armenier die Moscheen besetzt hätten. So töricht diese aufreizende Beschuldigung ist, so entspricht sie doch dem niedrigen Bildungsstande der dortigen Muhammedaner. Das Telegramm wurde erst dem Mutessarrif nach Zeitun mitgeteilt, der die Absendung verhinderte und dem Kriegsgericht Anzeige erstattete, das aber gegen die Urheber nichts getan hat. Der Vorsitzende des Kriegsgerichts Oberst Schükri Bey leugnete mir gegenüber ab, daß ein solches Telegramm geplant gewesen sei, gab aber zu, daß von muhammedanischer Seite die Absetzung des Mutesarrifs verlangt worden sei. Der Urheber dieses Verlangens Hamdi Bey ist dafür vom Kriegsgericht wegen Einmischung in die Regierungsangelegenheit in Haft genommen worden.

Während den Armeniern die Waffen abgenommen wurden, hatten die Muslims Gelegenheit, sich Pulver und Schrot zu kaufen. Die Bewohner des Dorfes Tekerek in der Nähe von Marasch schickten Nachricht dorthin, entweder sie müßten zum Islam übertreten, oder sie würden ihr Leben verlieren. Kurzum die ganze Sachlage erschien der deutschen Mission in Marasch derart, daß bei einer weiteren Zuspitzung der Verhältnisse, insbesondere wenn die Kämpfe in Zeitun angedauert hätten und noch weiteres Blut muhammedanischer Soldaten geflossen wäre, zweifelhaft war, ob es der Regierung gelingen würde, das Volk in Marasch im Zaum zu halten, auch zweifelhaft, welche Strömung bei den Ortsbehörden die Oberhand behalten würde, die besonnene des Mutessarrifs oder eine schärfere, der einige Notable vor allem der Vorsitzende des bürgerlichen Strafgerichts Muhammed-i-Djemal, der Apotheker Lufti Effendi, der muhammedanische Abgeordnete Kadir Bey und einer der Offiziere in leitender Stellung zugehören.

Da brieflicher Verkehr starker Zensur unterworfen war, nicht nur auf der Post, sondern auch der durch Boten vermittelte, und ein vor 4 - 5 Wochen an mich abgeschickter Brief der Mission nicht angekommen war, so entschloß sich der Hülfsbund, eine der Schwestern von Marasch nach Aleppo abzusenden, um mich um einen Besuch zu bitten. Diese überbrachte auch einen Brief der Schulleiterin Helene Stockmann, den ich im Auszug gehorsamst hier beifüge und aus dem hervorgehoben zu werden verdient, in welcher unmenschlichen Weise die Prügelstrafe gehandhabt wird. Die amerikanische Mission sprach ihrem Konsul in Aleppo gleichfalls die Bitte um einen Besuch aus. Einen Brief des Dr. Shepard in Aintab darüber beehre ich mich in Abschrift beizufügen. Allgemein wurde von dem Besuch eines Konsuls sehr viel erwartet, von der Bevölkerung wie von der Mission. In den abgelegenen Gegenden des Innern, zu denen auch Marasch gezählt werden muß, macht ein solcher noch besonderen Eindruck, auch auf die Behörden. Bereits seine Ankündigung, die ich in einem alsbald bekannt gewordenen türkischen Telegramm vom 27. März an den Mutessarrif vorgenommen hatte, hatte beruhigend und mäßigend gewirkt. Offenbar hat er auch weiter zur Beruhigung der Bevölkerung beigetragen und wohl auch Eindruck auf das Militär gemacht. Seit meiner Ankunft sind nicht mehr Leute auf der Straße geschlagen worden. Ich beehre mich, über seine Wirkung einen Brief der amerikanischen Mission vom 31. v. Mts. beizulegen. Die gesamte armenische Bevölkerung von Marasch ist für den Besuch sehr dankbar gewesen und hat ihn allgemein als Erleichterung der Lage empfunden. Es ist anzunehmen, daß er zur Hebung des deutschen Ansehens in jener Gegend erheblich beigetragen hat. Erst am 31. März wurde der in der Anlage gehorsamst beigefügte Befehl von Djemal Pascha, der die Bevölkerung zur Ruhe ermahnt, bekannt gegeben. Er hat übrigens nicht zu verhindern vermocht, daß noch am 3. April ein vereinzelt in einem muhammedanischen Stadtviertel lebender Armenier zwangsweise zum Islam bekehrt worden ist, nachdem ihm eine Patrouille mit dem Kolben die Tür eingeschlagen hatte.

Inzwischen nimmt die Entwicklung der Zeitunangelegenheit ihren weiteren Verlauf, ohne bisher beendet zu sein. Mit dem Kommando der Truppen ist der Major Churchid Bey beauftragt worden, der energisch und in der Verfolgung von Räubern Erfahrung haben soll. - Die Regierung hat verlangt, daß sich alle Deserteure stellen. - 450 aus Marasch und 125 aus Zeitun hatten sich bis Ende März gestellt und werden zum Teil in Strafkompagnien zu Arbeiten verwendet, zum Teil sehen sie noch ihrer Aburteilung durch das Kriegsgericht entgegen. - Übrigens richtet sich die Untersuchung durch das Kriegsgericht gegen alle angesehenen und wohlhabenden Armenier von Marasch, von denen viele ganz offenbar mit der Zeitunangelegenheit nicht das geringste zu tun gehabt haben, und obwohl diese nichts sehnlicher wünschen, als daß mit den Räubern ein Ende gemacht werde, damit Marasch endlich einmal Ruhe habe. Man hat den Sohn des armenischen Abgeordneten für Marasch, Hosep Effendi Kirlakian in Haft genommen, erst unter der Beschuldigung, er habe Waffen geschmuggelt, dann, als dafür keinerlei Beweise vorhanden waren, unter der Beschuldigung, er habe einen Mann bestochen, eine Waffe auf der Straße abzufeuern, um auf diese Weise Unruhen hervorzurufen. Schließlich hat man ihn freilassen müssen. Man hat Haussuchungen vorgenommen bei den armenisch-protestantischen Pfarrern, den katholisch-armenischen Geistlichen, dem armenischen Direktor der deutschen Knabenschule, dem armenischen Arzt des deutschen Krankenhauses. Alles dies angeblich auf die Tatsache hin, daß die bezeichneten Mitglieder des armenischen Wohltätigkeitsvereins (türkisch ermeni djemiyet kheriye umumiyesi, armenisch: parekorzagan) seien, deren Liste man in Zeitun gefunden habe. Der Verein, der in Ägypten seinen Sitz hat, besteht und ist von der Regierung anerkannt, erst von Abdulhamid, 1910 auch von der konstitutionellen Regierung. Er beschäftigt sich mit der Unterstützung armenischer Schulen und Einrichtung von landwirtschaftlichen Musteranstalten. Um seine Mitglieder festzustellen, hätte man nicht erst eine Liste in Zeitun zu finden brauchen, sondern hätte sich den Vorsitzenden aus Marasch kommen lassen können. Wird die Tatsache als verdächtig angesehen, daß der Verein seinen Sitz in Ägypten hat, und wird geargwöhnt, daß seine Organisation jetzt im Kriege vom Auslande her zu politischem Zweck mißbraucht wird, so wäre das ein Grund, der sich hören ließe. Gegen eine unparteiische Untersuchung auf dieser Grundlage wäre nichts einzuwenden. Die Aussicht aber, daß die Untersuchung durch das Kriegsgericht unparteiisch geführt wird, halte ich für gering. Sein ganzes Vorgehen erweckt den Eindruck, als ob es mangels einer zweckmäßigen Tätigkeit nur eine Scheintätigkeit ausübt und als ob es, weil es die wirklich Schuldigen nicht erreichen kann, die ganze armenische Bevölkerung als verdächtig ansieht und sich aus ihr zu Bereicherungszwecken die führenden aussucht.

Als Episode erwähne ich, daß gegen den Direktor der deutschen Knabenschule, der im Schulgebäude selbst wohnt, die Haussuchung rücksichtslos und ohne vorherige Anmeldung bei mir oder bei dem Missionsvorstand durchgeführt worden ist. Ich habe mich darüber beim Vorsitzenden des Kriegsgerichts beschwert, indem ich darauf hinwies, daß die Deutschen als Angehörige einer verbündeten Nation eine bessere Behandlung erwartet hätten und fragte, ob es glaubhaft erschiene, daß die Deutschen von ihren Häusern aus eine regierungsfeindliche Tätigkeit dulden würden. Er behauptete, er habe nicht gewußt, daß der Direktor in der Schule selbst wohne und entschuldigte sich. Einen Sack mit beschlagnahmten Drucksachen und Briefen, den ich, zu der Haussuchung hinzugeeilt, nur hatte versiegeln, aber nicht der Polizei übergeben lassen, bat er mich, auszuliefern, was geschah - und in Gegenwart eines Konsulatsbeamten öffnen zu lassen. Von der Verhaftung des Direktors sah er daraufhin ab; auch die beschlagnahmten Papiere des Hospitalarztes sind in Gegenwart eines Konsulatsbeamten geöffnet worden.

Es wäre eher verständlich gewesen, wenn das Kriegsgericht gegen die Partei der Daschnakzutiun, welche sich vor gelegentlichem Waffenschmuggel nicht scheut und gegen die Hintschakisten vorgegangen wäre. Das ist aber nicht der Fall. Erwähnenswert ist, daß der Wohltätigkeitsverein von jeher den Waffenschmuggel abgelehnt und sich politisch nicht betätigt hat, auch keine Mitglieder der Daschnakzutiun aufnimmt.

Der Zustand der Dinge drückt gegenwärtig weiter auf die wirtschaftliche Lage. Belagerungszustand ist verhängt. Mit Dunkelwerden darf sich niemand mehr auf der Straße blicken lassen. Einige Tage hindurch war es den Bewohnern von Marasch verboten, die Stadt zu verlassen. Dieser Befehl ist zwar aufgehoben, aber die christlichen Bewohner wagen aus Furcht vor den Soldaten nicht, in ihre außerhalb gelegenen Weinberge zu gehen, die in den allernächsten Tagen die Bearbeitung dringend nötig hätten, wenn sie in diesem Jahr noch Frucht tragen sollen. Damit versiegt eine wesentliche Ernährungsquelle der Bevölkerung.

Die Gefahr von Metzeleien ist vorläufig vorübergegangen, wenn auch die muslimischen Anstifter ihre Hand noch nicht vom Werke lassen. Sie haben am 31. März ein Telegramm an die Zentralregierung aufgesetzt, die Bewohner Zeituns (etwa 10000 Seelen) sollten verpflanzt und die Stadt dem Erdboden gleich gemacht werden. Es ist klar, daß die Ausführung eines solchen Planes auf lange Zeit hinaus Unruhe schaffen würde. Die Urheber haben auf die wohlhabenden Armenier in Marasch einen Druck ausgeübt, um sie zur Unterzeichnung dieses Schriftstückes zu veranlassen. Diese haben es damit abgewehrt, daß sie verlangten, es solle zunächst dem Mutessarrif vorgelegt werden. Letzterer hat es mißbilligt, wie übrigens auch der Mufti von Marasch. Bei den gleichen Armeniern wurden dann am 3. April die Haussuchungen vorgenommen.

Seit dem 5. April scheint eine Spaltung unter den leitenden muhammedanischen Kreisen in Marasch eingetreten zu sein. Die einen raten zum Frieden, so der Notable Kadir Pascha (nicht zu verwechseln mit dem Abgeordneten Kadir Bey) und Schükri Bey, früherer Abgeordneter (nicht zu verwechseln mit dem Vorsitzenden des Kriegsgerichts). Die anderen wollen weiter hetzen.

Da eine unmittelbare Gefahr für die Deutschen in Marasch nicht bestand und da ich die weitere Entwicklung nicht mehr an Ort und Stelle abwarten konnte, habe ich nach einem Aufenthalt von neun Tagen Marasch wieder verlassen. Es ist mir gelungen, mit den Behörden in freundschaftlicher Weise auszukommen. Der Mutessarrif befindet sich noch in Zeitun. In innere türkische Angelegenheiten habe ich mich nicht eingemischt. Nur in einem Falle, als Soldaten einer armenischen Frau, die ihrem Sohn im Gefängnis Essen bringen wollte - die Gefangenen müssen sich von ihren Verwandten ernähren lassen -, glühende Kohlen in die Kleider legten, die sie am Leibe trug, habe ich nichtamtliche Vorstellungen erhoben und zwar ohne dem Einwand zu begegnen, daß ich kein Recht zur Einmischung habe.

Ich habe von Anfang an nicht die Absicht gehabt, nach Zeitun zu gehen, weil dort keine deutschen Interessen zu schützen sind, die Militärbehörden haben aber offenbar vermutet, daß ich zu gehen wünschte und haben alles mögliche in Bewegung gesetzt, um es zu verhindern. Nach Ansicht des Missionars Blank würden sich die in die Berge geflüchteten Räuber und Deserteure noch heut ergeben, wenn eine Amtsperson zu ihnen käme, zu der sie das Zutrauen hätten, daß die Bedingungen der Übergabe auch gehalten würden. Die Behörden wünschen aber nicht, daß einem Fremden gelinge, was ihnen nicht gelingt, abgesehen von der verständlichen allgemeinen Abneigung gegen fremde Einmischung in innere türkische Verhältnisse.

Die Unschädlichmachung der Räuber ist bisher nicht geglückt. Anfang April war der etwa halbwegs zwischen Marasch und Zeitun gelegene Bergkegel Ala Kaia, der wie überhaupt die ganze Gegend wild zerrissen und schwer zugänglich ist, die Zufluchtsstätte der Räuber geworden. Hier sollte wieder gegen sie vorgegangen werden. In Marasch verlautete, daß die Bewohner eines Dorfes beim Anrücken der Truppen aus Furcht vor ihnen ihr Dorf verlassen und zu den Räubern übergegangen wären. Sollte diese Nachricht wahr sein, so würde sie ein bedenkliches Zeichen dafür sein, daß die Bewegung auf diese Weise sich doch noch ausbreiten könnte.

Am achten April abends ist Fakhri Pascha in Aintab angekommen, um sich am 10. d. M. auf den Weg nach Marasch und Zeitun zu begeben. Ob seine Inspektion gute oder schlechte Früchte tragen wird, darüber wird Graf Wolffskeel unterrichtet sein, der sich in seiner Begleitung befindet.

Nach meiner Rückkehr hat mir Djelal Bey, Wali von Aleppo, mitgeteilt, daß an der russischen Grenze auf türkischem Gebiet einige von den Russen besetzte armenische Ortschaften russische Sympathien bekundet hätten, daß die Einwohner einiger armenischer Dörfer auf türkischem Gebiet von Muhammedanern niedergemacht worden seien und daß bei der türkischen Regierung eine Strömung die Oberhand gewonnen zu haben scheine, welche die Armenier im ganzen als verdächtig oder gar als feindlich anzusehen geneigt sei. Er betrachtet diese Wendung als ein Unglück für sein Vaterland und hat mich gebeten, Seiner Exzellenz dem Kaiserlichen Botschafter anheimzustellen, dieser Richtung entgegenzuarbeiten.

Gleichen Bericht lasse ich dem Kaiserlichen Botschafter zugehen.


Rößler.

Seiner Exzellenz dem Herrn Reichskanzler.

Gelesen.

Pera, 24. April 1915.

Wangenheim.

Anlage 1


Brief-Auszüge

Marasch, den 21. März 1915.

... Wir sind natürlich darin eins mit der Regierung, dass Widersetzlichkeit bestraft werden muss und ich weiß auch dass unsere deutsche Regierung solche Sachen streng bestrafen würde, aber hier wird die Strafe nicht sachlich durchgeführt, Unschuldige leiden mit, und es kommen Grausamkeiten vor über die man sich bis in innerste empört. Es ist ja wahr, daß die Bewohner von Zeitun einen schwierigen Charakter haben, und es hat zu allen Zeiten unter ihnen Elemente gegeben, die sich allem schroff entgegenstellten, aber durch unweise Behandlung von Seiten der Regierung sind sie auch immer mehr auf eine schiefe Bahn gedrängt worden. Als vor mehreren Monaten die Verwickelungen anfingen ging Haidar Pascha hin, und es gelang ihm auch mit Hilfe der Bewohner die schlimmsten Leute, die Räuber gefangen zu nehmen. Aber unter welchen Mitteln! Diese Grausamkeiten waren unsagbar, selbst Frauen wurden geschlagen. Nun waren die Räuber gefangen, aber statt den Haupträdelsführer der ein sehr schlechter Mann war und sehr viele Leute auf dem Gewissen hatte, offen zu hängen, als abschreckendes Beispiel für die ganze Bevölkerung, haben sie ihn im Gefängnis im verborgenen zu Tode gemartert, so daß er jetzt in den Augen des Volkes ein Märtyrer ist, und die anderen gefangenen Raeuber? Ja die sind alle aus dem Gefängnis ausgerissen, und jetzt sollen die Bewohner sie wieder ausliefern. Aber sie haben es doch einmal getan, warum hat die Regierung sie nicht besser gehütet? ...

... Je tiefer man hier in das Innere des Landes kommt, desto schlimmer gestaltet sich alles, und ich denke mir dass die Regierung in Konstantinopel meistens keine Ahnung hat, wie es im Innern bestellt ist. Da ist zum Beispiel ein Mord geschehen, einige Tagereisen von hier entfernt. Ein Mann kommt unter dem Verdachte der Moerder zu sein, ins Gefaengnis. Ein Zeuge wird vernommen und da er nichts weiss wird er mit eingesteckt und solange furchtbar geschlagen, bis er aus Angst zu allem "ja" sagt. Nun kann der erste hingerichtet werden und der andere, wird halb wahnsinnig in dem Gefuehl einen Unschuldigen in den Tod gebracht zu haben. Wissen Sie was es heisst, geschlagen zu werden? Vor einigen Monaten waren Leute im Haus denen Zehen abgenommen werden mussten, da sie bei den Untersuchungen durch Haidar Pascha so geschlagen worden waren. Sie bekommen nämlich Stockhiebe, manchmal sollen es bis über hundert sein, auf die blanken Fußsohlen.


gez Schwester Helene Stockmann

Anlage 2 [1]

Aintab, March 24. 1915.

Dear Mr. Jackson,

I was in Marash for 48 hours from noon of Tuesday till noon of Thursday 18. March last week.

There had no doubt been a plan to stir up a massacre at Marash over the Zeitoon disturbances. It had gone so far as to send out messengers to call in the Koords from the mountains; but the Government had frowned upon it and it seemed to me to be definitely defeated, especially as I understood that the attitude of the leaders and a large majority of the people in Zeitoon was correct. Now Miss Rohner comes with the statement, that hostilities are imminent as between that place and the Govt. In which case it will be somewhat difficult to control the Moslim mob at Marash. I sincerely wish that a representative from the German or American Consulate or better still from each might be sent to Marash (not to middle in the least with the Zeitoon matters, but to look after the large German and American interests in Marash).

Miss Rohner will be able to tell about the state of feeling among the Germans and Americans of that place.

Everything is very quiet here in Aintab.


Dr. Shepard.

Jesse B. Jackson, American Consul, Aleppo.


Anlage 3 [2]

March, 31st 1915.

Let me congratulate your Consul through you on the success thus far since coming to Marash. There is a distinct improvement in the general condition which are very ready to attribute to his influence. We hope he will be able to remain here long enough to secure that any pledges given to him will be faithfully carried out. Kindly express our gratitude to him.

With kind regards


Yours cordially
E. C. Woodley.

Blank, Marash.


Anlage 4 [3]

Contenu de l'avis

Circulaire

1. Il est arrivé à Zeitoun une révolte à la suite de laquelle il a fallu une action militaire qui se poursuit jusqu'à maintenant.

2. Il est le devoir du gouvernement ottoman de défendre la prospérité, la vie et l'honneur de la population docile, soit arménienne, soit muselmane. Par conséquent celle-ci doit être sûre qu'elle ne sera pas l'objet d'une attaque et qu'elle pourra s'occuper tranquillement du travail.

3. Celui qui des muselmans, pour n'importe quelle raison, attaque un arménien sera regardé comme un émeutier et sera remis sur-le-champ a la cour martiale. Personne donc ne doit se mêler ni directement ni indirectement des affaires du gouvernement même pour la moindre petite chose.

4. Je recommandé a la population docile et innocente de se conformer très vite aux instructions de l'autorité militaire, pour qu'aucun de ses membres ne soit pas victime d'un soupçon, ou d'une punition imméritée parsuite de la poursuite acharnée des brigands.


Le commandant du IV. corps d'armée

Djemal Pascha.

16. mart 1330 = 29 mars 1915.

[veröffentlicht am 18. mart 1330 = 31 mars 1915]


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