1916-12-04-DE-001-V

DuA Dok. 309 (re. gk.)

Der Verweser in Erzerum (Scheubner-Richter) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Tgb.Z. 243

z. Zt. München, den 4. Dezember 1916.

Unter ergebenster Bezugnahme auf meinen Bericht vom 5. August 1915 aus Erzerum und den daraufhin erfolgten, meine Stellungnahme zur Armenierfrage anerkennenden Erlaß Euerer Exzellenz, dessen Inhalt mir unter dem 28. Oktober 1915 durch die Kaiserliche Botschaft in Konstantinopel nach Mossul übermittelt wurde, erlaube ich mir ganz gehorsamst folgendes zu unterbreiten:

Bei meinem Bestreben, noch in letzter Stunde zu versuchen, die Anbahnung eines Modus vivendi zwischen den sich mit dieser Frage befassenden Vertretern des türkischen Komitees und den Armeniern herbeizuführen, ging ich von der Voraussetzung aus, daß ich in dem mit mir nach Aserbeidschan und dem Ostkaukasus gehenden Generalinspektor des türkischen Komitees für Einheit und Fortschritt, Omer Nadji, den ich persönlich gut kannte, Unterstützung finden würde, da ich wußte, daß er die rigorosen Maßnahmen der übrigen Komiteemitglieder nicht billigte. Mit Recht befürchtete er, daß dieses Vorgehen eine ungünstige Wirkung auch auf die Führer der kaukasischen Partei Fidai ausüben würde.

Ich hoffte ihn bei unserer gemeinschaftlichen Reise von der Unsinnigkeit der Maßnahmen gegen die Armenier noch weiter zu überzeugen. Außerdem rechnete ich darauf, daß meine Anwesenheit zum mindesten verhüten werde, daß die Omer Nadji zur Verfügung gestellten Truppen, unter dem Einfluß einiger anderer mit uns reisender Komiteemitglieder, unter denen mir Dr. Fuad [einer] als einer der Anstifter der Armeniermassakers im Wilajet Trapezunt bekannt war, dazu mißbraucht werden würden, ähnlich wie die Truppen Halils, in Nordpersien Christenmassakers zu inszenieren.

Diese meine Voraussetzungen haben mich, wie ich mit Befriedigung feststellen kann, nicht getäuscht.

Omer Nadji selbst war froh, in mir, als deutschem Offizier, eine Stütze für seine maßvolle Haltung gegenüber den anderen Komiteemitgliedern zu finden.

Der grauenvolle Anblick der erschlagenen Armenier in den verwüsteten Dörfern der von uns durchzogenen Gebiete bis [bei] Bitlis verfehlte auch auf die anderen Herren seine Wirkung nicht. Es war ihnen sichtbar unangenehm, daß ich und meine deutschen Begleiter Zeugen dieses Wirkens ihrer Gesinnungsgenossen wurden, und versuchten sie wiederholt durch Erklärungen, die alle Schuld den Kurden beimaßen, den von uns empfangenen üblen Eindruck abzuschwächen.

Über das von mir auf diesem Wege Gesehen habe ich, soweit es mir erforderlich schien, durch das Kais. Konsulat in Mossul Bericht erstattet. Ich konnte in einzelnen Fällen, so z.B. in Bitlis, den noch dort zurückgebliebenen armenischen Frauen und Kindern, deren sich amerikanische Missionarinnen angenommen hatten, Erleichterungen verschaffen und auch den letzteren Hilfe gewähren.

Nicht unerwähnt möchte ich folgenden charakteristischen Vorfall lassen:

Auf dem Wege nach Mossul, der uns in den neugeschaffenen Befehlsbereich der 6. Armee führte, erhielten Omer Nadjis und meine Abteilungen den Befehl, ein Armenierdorf bei Hesak, in dem sich angeblich aufständische Armenier verschanzt hatten, zu stürmen und zu bestrafen. Ich erfuhr rechtzeitig, daß die angeblich "Aufständischen" Leute waren, die sich aus Furcht vor einem Massaker verschanzt hatten und gern bereit wären, ihre Waffen auszuliefern, wenn ihnen nur ihr Leben zugesichert würde. Ein von dem Verweser des deutschen Konsulates in Mossul und von mir angebotener Vermittelungsversuch wurde seitens des Oberkommandos der 6. Armee, dem ich den Sachverhalt mitgeteilt hatte, abgelehnt.

Ich entzog mich dem mir drohenden Konflikt dadurch, daß ich die mir unterstellten Deutschen, Offiziere und Mannschaften, nach Mossul berief und den Befehl über die mir anvertrauten türkischen Truppe [Mannschaften] einem meiner türkischen Offiziere übergab, mit der Motivierung, daß es sich um eine "innertürkische" Angelegenheit handele und ich es daher nicht für angebracht halte, daß Deutsche hierbei den Befehl über "Gendarmeriedienst" tuende türkische Truppen führten. Mein Verhalten fand nachträglich die Billigung des Generalfeldmarschalls v. d. Goltz.

Auch von türkischer Seite wurde dasselbe als "gewandt" anerkannt. Die dabei zutage tretende Enttäuschung legt die Vermutung nahe, daß es sich bei diesem mir erteilten Befehl um einen Versuch Halil Beys handelte, mich und die mich begleitenden Deutschen, in uns kompromittierender Weise in die Armenierangelegenheit hineinzuziehen.

Die später erfolgte Zuteilung meiner Abteilung zur neugeschaffenen Gruppe Mossul und meine dadurch bedingte militärische Unterstellung unter das Kommando des Wali von Mossul, Haidar Bey, legte mir naturgemäß große [größere] Zurückhaltung in bezug auf das Eingreifen in armenische Fragen auf.

Trotz der Schwierigkeit meiner Stellung konnte ich aber auch hier bewirken, daß während der ganzen Zeit meiner Anwesenheit bei den in Nordpersien operierenden türkischen Truppen Fälle von Massakern oder außergewöhnlichen Bedrückungen der dortigen orientalischen Christen nicht vorgekommen sind.

Besonders möchte ich hervorheben, daß es mir im Verein mit Omer Nadji gelungen ist, bei der Eroberung von Sautschbulag, die dortige nicht muhammedanische Bevölkerung, einschließlich der Parteigänger Rußlands, vor Niedermetzelung und Vergewaltigungen zu schützen, wie sie bei früheren Besetzungen der Stadt durch türkische Truppen bzw. Freischärler stattgefunden hatten.

Dieses ist auch von dem in Sautschbulag lebenden amerikanischen Missionar Fossum und der deutschen Missionarin Meta v. d. Schulenburg anerkannt worden.

Versuche zur Anbahnung einer Verständigung mit auf russischer Seite kämpfenden armenischen Führern, die ich mit Hilfe syrischer Christen zu gewinnen hoffte, wurden durch die russische Offensive und die damit verbundenen militärischen Operationen unterbrochen.

Aus Gefangenenaussagen und anderen an mich gelangten Nachrichten konnte ich aber feststellen, daß das diesmalige maßvolle Verhalten der türkischen Truppen auf gegnerischer Seite Erstaunen hervorgerufen und somit geeignet gewesen ist, den schlechten Eindruck früherer türkischer Offensiven in Nordpersien und Ostkaukasus wenigstens zum Teil zu verwischen.

Das Vordringen der russischen Truppen im Mai dieses Jahres, wodurch die schwachen türkischen Kräfte zurückgehen mußten, sowie meine anderweitige militärische Verwendung, setzten meinen diesbezüglichen Bestrebungen ein vorläufiges Ende.

Ich bitte gehorsamst, im Anschluß hieran noch auf folgendes hinweisen zu dürfen:

Die in meinem Bericht aus Erzerum ausgesprochene Befürchtung, daß die Aussiedelung der Armenier ihrer Vernichtung gleichkommen werde bzw. dieselbe bezwecken sollte, hat sich leider bewahrheitet. Was von den Ausgesiedelten dieses Volksstammes noch in Mesopotamien lebt, befindet sich in einem trostlosen Zustande. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man ausspricht, daß die türkischen Armenier mit Ausnahme einiger Hunderttausender in Konstantinopel und anderen größeren Städten Lebender so gut wie ausgerottet sind.

Es würde zu weit führen, wollte ich auf die Ursachen der Ausrottung der Armenier und die politischen und wirtschaftlichen Folgen dieser Maßnahme für die Türkei eingehen.

Dieses Kapitel ist fürs erste leider abgeschlossen, und kann sich unsere Fürsorge und unser Interesse nur noch auf die Erleichterung der Lage der sich in Mesopotamien befindenden Überlebenden erstrecken.

Ich halte mich aber andererseits für verpflichtet, die Aufmerksamkeit Euerer Exzellenz noch auf nachstehendes zu lenken: Eine Reihe von Gesprächen mit maßgebenden türkischen Persönlichkeiten hinterließ bei mir folgende Eindrücke:

Ein großer Teil des jungtürkischen Komitees steht auf dem Standpunkt, daß das türkische Reich nur auf rein muhammedanischer, pantürkistischer Grundlage aufgebaut werden muß. Die nichtmuhammedanischen und nichttürkischen Bewohner desselben müssen gewaltsam muhammedanisiert und türkisiert, wo das nicht angängig, vernichtet werden.

Zur Verwirklichung dieses Planes scheint diesen Herren die jetzige Zeit die geeignetste.

Als erster Punkt ihres Programms kam die Erledigung der Armenier.

Für die mit der Türkei im Bündnis stehenden Mächte wurde eine angeblich vorbereitete Revolution der Partei der Daschnakzagan vorgeschützt. Lokale Unruhen und Selbstschutzbestrebungen der Armenier wurden außerdem aufgebauscht und zum Vorwand genommen, die Aussiedelung der Armenier aus bedrohten Grenzgebieten zu motivieren. Unterwegs wurden die Armenier auf Anstiftung des Komitees von kurdischen und türkischen Banden, stellenweise auch von Gendarmen, ermordet.

2. Etwa zu gleicher Zeit wurden die Nestorianer im östlichen Kurdistan durch den Wali [durch türkische Truppen] von Mossul, Haidar Bej, nach tapferer Gegenwehr aus ihren Wohnsitzen vertrieben und zum Teil vernichtet. Ihre Felder und Wohnstätten wurden verwüstet. Die Überlebenden flüchteten zu den Russen und kämpfen jetzt in deren Reihen gegen die Türkei.

3. Der Feldzug Halil Beys nach Nordpersien hatte Massakrierung seiner armenischen und syrischen Bataillone und Vertreibung der armenischen, syrischen und persischen Bevölkerung aus Nordpersien zur Folge und hinterließ eine große Erbitterung gegen die Türken.

4. An eine Abrechnung mit den Arabern wird ebenfalls gedacht, doch die im Augenblick ungünstige militärische Lage ließ den Zeitpunkt dafür noch nicht für gekommen erscheinen. Inzwischen versuchte man durch starke Rekrutierung der Araber und Entsendung arabischer Truppen in mangelhaftester Ausrüstung in klimatisch ungünstige Gegenden (Winterfeldzug 1914 Erzerum, 1915 Nordpersien) einen geeigneten Ersatz zu finden.

5. In lächerlicher Überschätzung der Kraft und der Fernwirkung pantürkischer Ideen, und in Unterschätzung des Einflusses der kaukasischen Armenier, glaubt man die Muhammedaner des Kaukasus für einen Anschluß an die Türkei und zu einem Aufstand gegen Rußland gewinnen zu können, und nur langsam dämmert die Erkenntnis, daß durch das Vorgehen gegen die Armenier und das Verhalten türkisch-kurdischer Freischärler in den kaukasischen Grenzgebieten dieser Plan stark an Wahrscheinlichkeit eingebüßt hat. Die deutsche Propaganda-Arbeit unter [Verständigung mit] den Kaukasiern wird ungern gesehen und vielfach gehindert.

Meine Eindrücke in bezug auf die Frage des Verhältnisses der Türken zu den anderen dort lebenden Nationen zusammenfassend (die ich bis Ende August 1916 gewonnen habe), möchte ich, im Hinblick auf die Zukunft, folgendes ausführen:

Es erscheint mir nicht ausgeschlossen, daß im Bereich der 6. Armee der Versuch gemacht werden wird, zur Hebung der Stimmung der auf türkischer Seite kämpfenden Kurden, ihren Fanatismus erneut anzufachen und ihnen freie Hand gegen die dortige christliche Bevölkerung zu geben.

Ein ähnliches Ausspielen der sunnitischen Kurden gegen die schiitischen Perser könnte unter Umständen in Nord- und Mittelpersien stattfinden und dadurch, abgesehen von den wirtschaftlichen Folgen, einen dauernden Gegensatz zwischen den Beteiligten hervorrufen, der auch unsere Interessen aufs Schwerste schädigen würde.

Ich habe schließlich den Eindruck gewonnen, daß unsere Zurückhaltung in der Armenierfrage unserem Ansehen in der Türkei und in Persien sichtlich geschadet hat, da sie von Vielen als Schwäche ausgelegt worden ist. Ein [ein] schärferes Auftreten gegen die rigorosen Bestrebungen des jungtürkischen Komitees, dürfte unserem Ansehen dienlich sein [wo wir die Macht dazu haben, unserem Ansehen dienen dürfte] und uns die Sympathien, nicht nur der Nichtmuhammedaner und Araber, sondern auch der Alttürken und der derzeitigen Minderheit der Jungtürken eintragen [würde].

Bei der Unsicherheit der türkischen politischen Verhältnisse erscheint es mir nicht unangebracht, auch die Stimmung dieser in der Provinz Einfluß habenden Kreise in Rechnung zu ziehen.

"Wenn wir, die Türken, in diesem Kampf um die Existenz des osmanischen Reiches verbluten, so soll es auch keine anderen Nationen in demselben mehr geben": dieser Ausspruch eines jungtürkischen Politikers kennzeichnet am besten den Standpunkt der jungtürkischen Komiteekreise. Und die [Die], meist aus Mangel an Organisation und Voraussicht immer mehr auftretende Schwächung des reinen Türkentums (der Anatolier) zieht in logischer Konsequenz auch die gewaltsame Vernichtung der anderen in der Türkei lebenden Nationen nach sich.

Diesem Vernichtungsprozeß unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden und ihm, wo es möglich, [auch] entgegenzuwirken, scheint mir in unserem politischen und wirtschaftlichen Interesse geboten.


v. Scheubner-Richter.

An Seine Exzellenz den Reichskanzler

Herrn von Bethmann Hollweg, Berlin.


[Antwort Zimmermann 18.12.]

Ew. pp. darf ich den Empfang der interessanten Ausführungen über Ihre Tätigkeit und Wahrnehmungen in der Türkei mit verbindlichem Dank bestätigen.

[Zimmermann an Botschaft Konstantinopel (No. 1367)]

zur gfl. Kenntnisnahme erg. übersandt.

Die Auffassung, dass allzu grosse Zurückhaltung in der Armenierfrage unserem Ansehen auch bei den jungtürkischen Machthabern abträglich sein würde, dürfte nicht von der Hand zu weisen sein.


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