1916-01-03-DE-001-V

DuA Dok. 182 (nur Anlage 4) (gk.)

Der Konsul in Aleppo (Rößler) an den Botschafter in Konstantinopel (Wolff-Metternich)

Nr. 10

Aleppo, den 3. Januar 1916

5 Anl.

Euer Exzellenz überreiche ich gehorsamst in der Anlage zur geneigten Kenntnisnahme und mit der Bitte, ein Exemplar dem Herrn Reichskanzler weitergeben zu wollen, einen erst jetzt in meine Hände gelangten Bericht vom 8. November v.J. des Kaiserlichen Vizekonsuls Hoffmann aus Alexandrette über die Armenierverschickung, mit dem ich in den wesentlichen Punkten übereinstimme.


Rößler
[Notiz Wolff-Metternich 28. 1. 1916]

No 41/6 Anlagen

Anlagen 1, 2, 5 sind nur einmal beigefügt.

Seiner Exzellenz dem Reichskanzler Herrn von Bethmann Hollweg nach Kenntnisnahme vorgelegt.


Anlage 1

Kaiserliches Konsulat

BN. 944


Alexandrette, den 8. Nov. 1915

Der Kaiserlichen Botschaft beehre ich mich im Folgenden über den Stand der Armenier-Verschickung während des Monats Oktober zu berichten, und zwar auf Grund der Beobachtungen, die ich während meiner Anwesenheit in Aleppo in Vertretung des Kaiserlichen Konsuls Rössler machen konnte.

Während des Monats Oktober ist die Verschickung der Armenier in ein Stadium gelangt, das den voraussichtlichen weiteren Verlauf zu überblicken gestattet.

Bei der Weite und Unübersichtlichkeit des Gebietes, über das sich die Massregelung der armenischen Bevölkerung erstreckt, ist die Beurteilung der tatsächlichen Vorgänge im Wesentlichen auf gewisse Endergebnisse angewiesen, die Rückschlüsse auf das zulassen, was hinter den Kulissen vorgegangen ist und vorgeht.

Dank seiner zentralen Lage ist Aleppo nach wie vor der Brennpunkt der Armenierverschickung, daher zur Gewinnung eines Überblicks besonders geeignet.

1. Ausdehnung der Verschickung.

Ende Oktober hatte die Verschickung die armenische Bevölkerung ganz Anatoliens bis vor die Thore Konstantinopels und Smyrnas ergriffen. Unberührt geblieben waren nur noch die Stadtbevölkerung Konstantinopels - von wo jedoch zahlreiche "verdächtige" Personen abgeschoben zu sein scheinen - von Smyrna und von Aleppo. Die Aleppiner Armenier scheinen ihr Verbleiben bisher hauptsächlich dem Widerstande solcher einheimischer Kreise zu verdanken, die bei ihrem Verschwinden grosse Geldverluste erleiden würden.

Zurückgeblieben sind zum Teil - anscheinend zum kleinsten Teile - vorläufig die Familien armenischer Soldaten, soweit sie ohne sonstigen männlichen Schutz sind. Wo ihre Verschickung erfolgt ist, wird als Entschuldigung angeführt, alle armenischen Soldaten seien desertiert, eine Behauptung, die in dieser Ausdehnung unmöglich und nachweisbar tatsächlich falsch ist.

Belassen wurden ferner die Angestellten der Bagdadbahn und des Bagdadbahnbaus; ob auch die der Anatolischen Bahn, ist mir nicht bekannt.

Die protestantischen und die katholischen Armenier - welch letztere nur zum Teil armenischer Rasse sind - sollen nur aus den Küstenstrichen entfernt werden, im übrigen aber im Innern ihren Wohnort wählen können. Dies ist Theorie geblieben. Die in Aleppo angelangten Protestanten und Katholiken werden genau wie die orthodoxen Armenier weiter verschickt, obwohl der Ausnahmebefehl nicht widerrufen ist.

Verschont von der Verschickung blieben bis heute auch Personal und Waisen der deutschen Anstalten in Marasch, anscheinend auch die in Harunie (Wilajet Adana) und Beirut. Die in Urfa sind nicht ausgenommen worden. Ueber das Schicksal der Anstalten in Nordostanatolien ist hier nichts Zuverlässiges bekannt. Nicht ausgenommen wurden trotz konsularischer Bemühungen armenische Lehrer an deutschen Schulen (Adana, zugereiste Hilfskräfte in Aleppo) und andere Personen, deren Belassung als in dringendem deutschen Interesse liegend von den Konsulaten beantragt war. Die Form, in der dabei türkischerseits vorgegangen wurde, liess übrigens in nichts erkennen, dass Deutschland zur Zeit in einem Sonderverhältnis zur Türkei steht.

Für amerikanische Anstalten wurde keine Ausnahme gewährt.

Soweit die Frage, wer verschickt wurde.

2. Massacker.

Es kann als feststehend angesehen werden, dass in den eigentlichen armenischen Wilajets - von dem Kriegsgebiet bei Wan ganz abgesehen - die Verschickung von Massenabschlachtungen der männlichen Armenier über dem Kindesalter, zum Teil auch der gesamten Bevölkerung armenischer Ortschaften begleitet gewesen ist.

Darin stimmen die Angaben der Ueberbleibsel solcher verschickten Trupps in einer Weise überein, die eine Verabredung ausschliesst. Am schlimmsten scheint es im Wilajet Diarbekir zugegangen zu sein, dessen Wali Reschid Bey nach mündlichen Angaben, die mir der K. Vizekonsul Holstein (Mossul) bei seinem kurzen Besuch in Aleppo im Oktober machte, öffentlich erklärt hat, er werde keinen Christen in seinem Wilajet dulden, eine Erklärung, die die Regierung (so in Mossul) vergeblich zu dementieren gesucht habe. Nach VK Holsteins persönlichen Feststellungen während seiner Reise von Mossul nach Aleppo ist die Bevölkerung durch Gendarmeriepatrouillen aus Diarbekir und Mardin zur "Erledigung" der Armenier aufgefordert worden.

VK Holstein hat auf der schwach bevölkerten Strecke zwischen Mossul und Rass-el-Ain fünf gänzlich zerstörte armenische Dörfer getroffen, darunter das von 2000 Armeniern bewohnt gewesene Tell-Ermen. Hier ist bis auf 15-20 Personen, die flüchten konnten, alles niedergemacht worden. Reste, wie abgeschnittene Köpfe und Glieder, hat VK Holstein in der Kirche noch vorgefunden. In den andern vier Dörfern ist das meiste niedergemacht worden. Zwischen Tell-Ermen und Rass-el-Ain traf VK Holstein fünf natürliche Zisternen voller Leichen; ob diese totgeschlagen oder abgeschlachtet waren, hat er nicht mehr feststellen können. An der ganzen Strecke südlich Nisibin sah er alle Muhamedaner mit krummen Schwertern herumlaufen. "Ermen" war ihr einziger Gedanke.

Die Glaubwürdigkeit der Schilderungen der Ueberlebenden wird durch die Tatsache gestützt, dass viele, ja die meisten der aus jenen Gegenden kommenden Trupps ohne Männer und ältere Knaben waren. Neuerdings wird dies von gewisser Seite mit der Behauptung zu erklären versucht, die Männer und Knaben fehlten nur deswegen, weil sie mit den Waffen in der Hand in die Berge geflüchtet seien. Dieser Annahme - nur um eine solche handelt es sich wohlgemerkt - widerspricht aber ohne weiteres die bekannte Stärke des Familiensinnes bei den Armeniern. Wo die Männer massenhaft in die Berge flüchteten, wie in der Gegend von Suedije an der Küste, nahmen sie Frauen und Kinder mit. Mir sind Fälle bekannt, wo armenische Soldaten desertierten und nicht etwa in die Berge gingen, sondern zu ihren Familien stiessen, um sich mit diesen verschicken zu lassen, obwohl sie schon wussten, was diese Verschickung bedeutete. Ebenso verbarrikadierten sich in den wenigen tatsächlichen Fällen bewaffneter Empörung gegen die Verschickung - Fundadschak und Urfa - die Empörer mitsamt ihren Frauen und Kindern.

3. Form der Verschickung.

Die Verschickung aus den eigentlich armenischen Wilajets ist zum grössten Teil in einer so brutalen Form vorgenommen worden, dass nur elende Ueberbleibsel einer als kräftig und gesund bekannten Gebirgsbevölkerung an den Sammelstellen (Aleppo, Mossul, Tell-Abiad, Rass-el-Ain u.a.) ankamen. Die Schilderungen der Ueberlebenden über die Qualen des wochen- und monatelangen Weges, über Ausplünderung, Schändung, Raub und Verkauf von Frauen, Mädchen und Knaben durch die Begleitmannschaft und die Anwohner werden glaubwürdig durch das, was man von den Resten in Aleppo zu Gesicht bekam. Schilderungen einwandfreier europäischer Augenzeugen über Beobachtungen auf der durchzogenen Strecke bestätigen sie. Dem früher durch das K. Konsulat Aleppo berichteten Material sei folgende aus glaubwürdiger Quelle stammende Aufzeichnung hinzugefügt, wobei man sich vor Augen halten muss, dass die eigentlichen Schauplätze der in Rede stehenden Vorgänge dem Europäer zur Zeit so gut wie unzugänglich sind.

... Zwischen Tell-Ebiad und Kültepe sah ich in der Nähe des Bahnstranges an sechs verschiedenen Stellen tote nackte Frauen, weiter eine tote nackte Frau mit verstümmelten Füssen, weiter zwei tote Kinder, weiter ein totes grösseres Mädchen, daneben ein totes Kind, weiterhin eine tote, noch bekleidete Frau und eine ebenfalls tote geknebelte Frau, weiter zweimal zwei tote Kinder, im ganzen 18 Leichen. Die Frauen waren bis auf die eine Ausnahme völlig nackt und trugen, soweit sich dieses vom Zuge aus feststellen lies, Spuren von Misshandlungen an sich. Sämtliche toten Kinder waren bekleidet.

Zwischen Kültepe und Harab-Nass sah ich neben einer Telegraphenstange ein sterbendes Kind, weiter sechs tote, völlig nackte Frauen und zwei tote Kinder. Eine völlig nackte Frau kam unter einer Brücke hervor und flehte mit ausgebreiteten Armen, dass man sie mitnehme. Sie wurde zurückgelassen.

In Tell-Abiad bleiben nach Aufbruch eines Transportes in der Nähe der Bahn 17 tote und sterbende Personen zurück; zwei Angestellte der Bahn liessen nachher alle 17 Personen beerdigen.

An andern Stellen kam dem Zuge starker Verwesungsgeruch entgegen, ohne dass vom Zuge aus zu erkennen war, woher.

In diese Gegenden werden seit einigen Tagen sämtliche Armeniertransporte geleitet.

Wie schon früher gemeldet, sind sich die Behörden des üblen Eindrucks, den diese Jammerzüge auf die Aleppiner Bevölkerung machten, schliesslich bewusst geworden und haben ihren Durchzug durch die Stadt eingestellt.

Ich selbst war Zeuge, wie der (muhamedanische) Führer eines Zuges von zehn Karren, der trotzdem den Weg durch einen belebten Teil der Stadt nahm von der Polizei unter Vorwürfen festgenommen wurde. Auf den zehn Karren kauerten ohne das geringste Gepäck, Stroh, Wasser, ohne Spur von Lebensmitteln, Decken usw. je 8-10 ausgemergelte Frauen und Kinder. Eine lag tot, eine sterbend. Männliche Personen über 10-11 Jahren waren nicht dabei.

Dass die hübscheren Mädchen und Frauen zum Teil von den Begleitgendarmen und -offizieren an die kurdischen Anwohner verkauft wurden, ist früher berichtet worden. Nach Feststellung des VK Holstein betrug in der von ihm durchreisten Gegend der Preis für eine Frau bis zu 5 Piastern (95 Pfennig).

Man kann annehmen, dass die Behörden mit dieser letzteren Form der Verschickung von Frauen und Mädchen nicht einverstanden sind. Indessen spricht manches auch gegen diese Annahme, so beispielsweise der Fall der beiden Anträge des Bagdadbahnbaus, die ich von mir photographiert, hier gehorsamst beifüge (Anlage 1 u. 2).

Anl. 1 ist ein Antrag der Bauabteilung Aleppo der Bagdadbahn auf Belassung des 53jährigen Karapanos, Aufsehers in Karababa, und seiner 10köpfigen Familie, darunter 4 Schwestern: Mariam (21 Jahre alt), Rosa (18 J.), Anna (10 J.) und Gülfedar (8 J.). Der Antrag hat die Verfügung erhalten "Mit Ausnahme der rot angestrichenen können sie in Aleppo bleiben. 22. Eilul 331. Der militärische Kommissar: Hairi."

Rot angestrichen sind die 21- und die 18-jährige Schwester.

Anl. 2 ist ein Antrag derselben Bauabteilung, den in Karababa als Bäcker angestellten Schükri Hampar und seine 6 köpfige Familie, darunter die Schwestern Mariam (21 Jahre) und Gürtschi (18 Jahre) auszunehmen. Der Antrag hat die Verfügung erhalten:

"Die beiden Schwestern können nicht ausgenommen werden. Die übrigen sind frei. 22. Eilul 331. Der militärische Kommissar: Hairi."

Ueber das Los der auf diese Verfügungen hin ohne männlichen Schutz von ihren Familien getrennten und verschickten vier Schwestern dürften Zweifel ausgeschlossen sein. Ich habe vergeblich nach einer entschuldigenden Erklärung dieser Verfügungen gesucht. Wer Familienleben und Sittlichkeit in der Türkei kennt, dürfte von dem Gefühl, vor einer Infamie zu stehen, nicht los kommen; ebensowenig von einem Staunen über die Unbekümmertheit, mit der die türkische Behörde einer deutschen Gesellschaft eine derartige Verfügung zur Antwort giebt.

4. Sammellager.

Das nächst Ziel der Verschickten waren bisher für die von Norden und Nordosten Kommenden die Stationen Tell-Abiad, Rass-el-Ain und (für Aintab und Marasch) Aktsche-Köjünli der Bagdadbahn, sodann Aleppo. In Aleppo waren Ende Oktober nach Angabe von Regierungsseite etwa 20000 Personen untergebracht, zum kleinen Teil in Einzelwohnungen (auf eigene Kosten), zum grössten Teil in Kassenquartieren ("Hâns") oder in offenen Feldlagern am Rande der Stadt. Die von Mittel-, Nord- und Westanatolien kommenden Züge strömen in das Sammellager bei Ma’mureh (an der Bagdadbahn im Wilajet Adana) und weiter in das von Katma (48 km nordwestlich von Aleppo an der Bagdadbahn). Dort lagerten Ende Oktober nach Angabe von Regierungsseite etwa 40000 Verschickte.

Für diese Sammellager liefert die Regierung keinerlei Obdach. Die wohlhabenderen der Verschickten führen eigene kleine Zelte mit sich, die Aermeren improvisieren Schutzdächer aus Matten, Bettzeug usw. Als Unterhalt liefert die Regierung für den Tag und Kopf 100 Dram Mehl (= 320 Gramm), jedoch unregelmässig. Feuermaterial wird nicht geliefert; da Wald bei den Sammellagern nicht vorhanden, dienen zumeist trockene Disteln als kümmerliches Brennmaterial. In gesundheitlicher Beziehung fehlt es an jeder Vorkehrung. Insbesondere fehlt jede, auch die primitivste, Latrinenvorrichtung; nicht einmal eine Grube ist dafür aufgeworfen. Für die 40000 Menschen bei Katma liefert eine Quelle Wasser, dessen Entnahme noch durch die Umwohner behindert wird.

Welche Zustände sich in diesen Sammellagern entwickeln, zeigt der anliegende Bericht des Konsulatskanzlisten über einen Besuch, den er gelegentlich eines dienstlichen Auftrags im Sammellager von Tel-Abiad gemacht hat.[Anl. 3]

Wegen der Zustände, die sich in der Grossstadt Aleppo selbst und zwar in stark bevölkerten Stadtteilen entwickelt haben, darf ich gehorsamst auf die hier nochmals abschriftlich beigefügte Eingabe der Lehrer der Deutschen Realschule in Aleppo an den Herrn Reichskanzler verweisen.[Anl.4] Von der Richtigkeit der darin geschilderten Zustände habe ich mich persönlich überzeugt. Die anliegenden Photographieen[Anl.5] geben nur einen schwachen Begriff von dieser Schmutzhöhle, die die Behörden als Abladestelle für Kranke, aber auch zur Unterbringung Gesunder benutzen und die neben drei Schulen u. mehreren Kirchen und dicht bei einem stark besuchten Basar in einem eng bewohnten Stadtteil liegt, 10 Minuten vom Sitze der Regierung, ebensoweit von dem der Stadtverwaltung, 5 Minuten von der nächsten Polizeistation und 7 Minuten vom Sitze der Etappenverwaltung.

Die Zahl der Todesfälle unter den Verschickten in Aleppo stieg während des Monats Oktober von 120 auf 200 täglich. Seit Mitte des Monats griff der Flecktyphus schnell um sich. Drei der Lehrer, die jene Eingabe unterzeichneten, sind bereits daran erkrankt.

Die Insassen des Lagers bei Katma wurden bis Ende September mit der Bahn, seither auf der Landstrasse nach den Sammellagern am Rande der Stadt Aleppo überführt. Ebendorthin werden die in Aleppo selbst Installierten seither allmählich verbracht, während gleichzeitig der Abtransport von dort aus vor sich geht.

5. Weitertransport.

Von den Sammellagern Aleppos erfolgt seit mehreren Monaten die Weiterschaffung nach den Stätten der "Ansiedlung".

Zu Anfang der Verschickung, also vor 2-4 Monaten, dienten noch näher gelegene Punkte Syriens wie Hama, Homs, Bab, Damaskus, als Ziel der Verschickung. Seit Anfang Oktober kommen dafür - ausdrücklich festgelegt durch Maueranschlag in Aleppo - nur die Punkte Rakka und Der-es-Sor am Euphrat, sowie der westliche Hauran (Kerak), seit ganz kurzem endlich auch Ras-el-Ain (Endpunkt der Bagdadbahn nach Mossul zu) in Frage. Bis Mitte Oktober sollen nach Schätzung eines höheren Beamten des Wilajets Aleppo rund 300000 Personen zur "Ansiedlung" nach Süden und Südosten weitergeschickt worden sein.

Die Wegschaffung geschah anfangs nach Möglichkeit mit der Bahn, dann ohne deren Benutzung. Gegen Ende Oktober hat man angesichts der Gefahren, die sich aus der Verzögerung der Wegschaffung aus Aleppo für die Allgemeinheit ergeben, wieder zur Bahn gegriffen und befördert nunmehr vorzugsweise nach Rass-el-Ain. Daneben gehen beständig Karawanen Verschickter nach den andern genannten Zielpunkten. Zur Beförderung dienen ausser eigenem Fuhrwerk meist Kamele, je eins für eine bis zwei Familien. Daher muss meistens ein erheblicher Teil des Gepäcks zurückbleiben und der grösste Teil der Familie zu Fuss gehen. In den letzten Oktobertagen scheint die Regierung zwecks schnellerer Reinigung Aleppos auch nach näher gelegenen Orten zu verschicken, auch haben dem Vernehmen nach muhammedanische Grossgrundbesitzer eine Anzahl Verschickter zur Ansiedlung erhalten. Irgend welche Regeln und Grundsätze scheinen jedoch nicht aufgestellt worden zu sein, vielmehr die Einfälle und Launen der einzelnen massgebenden Beamten bestimmend zu sein.

Rücksicht auf den Beruf oder die Fertigkeit des einzelnen Verschickten wurde bisher nicht genommen. Neuerdings scheint besonders die Militärbehörde dadurch in Verlegenheit gekommen zu sein, da es an vielen Orten jetzt an ganzen Gattungen von Handwerkern fehlt. Dem Vernehmen nach sollen deshalb künftig Handwerker an Plätzen mit Bedarf angesiedelt werden. Dass diese Massregel folgerichtig durchgeführt wird, halte ich nach den bisherigen Erfahrungen in der Verschickungsfrage für ausgeschlossen. Es wird mit dieser Ausnahme wie mit allen andern Ausnahmen gehen.

Der zu Fuss oder mit Tieren zurückzulegende Weg ist derart, dass ein weiteres Wegsterben der Verschickten unausbleiblich ist. Dabei ist es garnicht einmal nötig, dass - wie von armenischer Seite behauptet wird - die Verschickten absichtlich nicht den üblichen, mit Wasserstellen versehenen Karawanenweg geführt werden.

Am Ziel der Ansiedlung - also in der Regel: Rakka, Der-es-Sor, Kerak, Mossul (von Rass-el-Ain aus) - angelangt, werden die Verschickten sich selbst überlassen (dies nach Angabe des oben erwähnten höheren Wilajetsbeamten). Für eine wirkliche Ansiedlung fehlt es nach dem erwähnten Gewährsmann an Mitteln und Beamten. Es sei daher nicht zu vermeiden, dass alle Verschickten umkämen. Mit den muhammedanischen Einwandrern, besonders nach dem letzten Kriege, sei es der Regierung trotz ihres unzweifelhaften guten Willens nicht viel besser ergangen.

Die Verschickung der Armenier unterscheidet sich danach nicht viel von ihrer Ausrottung. Ihre eigenen Führer schätzen die Toten auf Grund der Einzelberichte der angekommenen Truppe bis Ende Oktober auf mindestens 600000.

Ob die Ausrottung im Plane der Zentralbehörden liegt, sei dahingestellt. Von dem früheren Kommissar für die Verschickung in Aleppo (der dort auch heute noch eine massgebende Stellung inne hat), Ejub Bey, ist die Aeusserung bekannt, mit der er Verwendungen für Waisen abwies: Sie verstehen noch immer nicht, was wir wollen: wir wollen den armenischen Namen austilgen.

Dass dies die Meinung der ausführenden Organe ist, erkennt man unschwer an der Art der Ausführung. Allerdings hat man in Aleppo vor einigen Tagen eine armenische Verschickte wegen Kindesmordes unter Anklage gestellt. Sie hatte ihr Kind in den Euphrat geworfen. Einen andern Eindruck als den zynischen Hohns hat die Behörde damit jedoch nicht erzielt, jedenfalls nicht den, als sei sie ängstlich besorgt, den Verschickten das Leben zu erhalten.

Soweit das Tatsächliche der Armenierverschickung im Oktober.

Ich bitte mir einige Bemerkungen dazu gestatten zu wollen:

1. Die politischen und militärischen Gründe, die für die Verschickung der Armenier geltend gemacht werden, sind bekannt. Dass in und bei Wan, also in der Kriegszone, die Armenier sich landesverräterisch auf die Seite des Feindes schlugen, durfte nach allem Vorausgegangenen nicht überraschen und ist, nehme ich an, auch wohl von den türkischen Behörden vorausgesehen worden. Bekanntlich hat auch ein Teil der Kurden den Feind unterstützt. Die Bedeutung und Tragweite der in Konstantinopel aufgedeckten Fäden einer angeblichen Verschwörung vermag ich nicht zu beurteilen. Sie scheinen auch nicht unmittelbar die Armenier Anatoliens blosszustellen. Vielmehr wird deren Verschickung seitens der türkischen Regierung (Ausführliche Erklärung vom 4. Juni d.J. in der "Nordd. Allg. Ztg." vom 9. Juni) und gewisser deutscher Seite (so von dem Kaiserlichen Ministerresidenten Freiherrn Max von Oppenheim in seinem Bericht an das Auswärtige Amt vom 29. August d.J.) mit besonderer landesverräterischer Betätigung begründet.

Eine Nachprüfung dieser Anklagen ist aus naheliegenden Gründen sehr schwer. Immerhin ist der eine oder andere Punkt der Kontrolle zugänglich. Ich greife die auf Alexandrette bezügliche Anklage heraus.

In der angezogenen ausführlichen Regierungs-Darstellung vom 4. Juni heisst es: "Andere Armenier wurden von den englischen Behörden von Cypern in die Umgebung von Alexandrette gebracht. Unter ihnen befinden sich Toros, Oglu, Agop, bei denen Papiere gefunden wurden, die unzweifelhaft den angestrebten verbrecherischen Zweck beweisen. Diese Leute haben unter anderm einige Züge zum Entgleisen gebracht. Andrerseits traten die Kommandanten der englisch-französischen Streitkräfte in Verbindung mit Armeniern der Gegend von Adana, Dörtjol, Jumurtalik, Alexandrette und andern Küstenorten und stachelten sie zum Aufruhr auf."

Der Kern von Wahrheit, der in dieser amtlichen Verlautbarung steckt - die mir erst jetzt zu Gesicht gekommen ist - ist der, dass ein Armenier (Torosoglu Agop), angeblich von dem englischen Kreuzer "Doris" bei Dörtjol an Land gesetzt, dort aufgegriffen und im Besitz von 40 angeblich englischen Pfunden befunden wurde. Alles Uebrige ist Zutat. Weder waren mehrere Armenier beteiligt, noch wurden bei dem Genannten blosstellende Papiere gefunden, noch haben Armenier Eisenbahnzüge zum Entgleisen gebracht; die einzige Entgleisung, die stattgefunden hat, ist vom Kreuzer "Doris" selbst besorgt worden. Endlich ist es unrichtig, dass irgend welche sonstige Verbindungen zwischen Kommandanten feindlicher Kriegsschiffe (Landtruppen kommen nicht in Frage) und Armeniern an den genannten Orten der Bucht von Alexandrette bestanden haben. Was den erwähnten Spion Torosoglu Agop betrifft, so soll dieser vor dem Kriegsgericht Adana gestanden haben; worauf er gehängt wurde. Welchen Beweiswert indessen diese kriegsgerichtliche Feststellung hat, dafür diene die Tatsache, dass in demselben Verfahren der ehemalige Dragoman dieses Kaiserlichen Konsulats, Balit, als Mitschuldiger des Agop, angeblich von diesem beschuldigt, verhaftet, ohne weitere Beweise und ohne Gegenüberstellung zum Tode verurteilt und dem Gehängtwerden nur durch das Eingreifen der Kaiserlichen Vertretungen entgangen ist, bis er schliesslich in Konstantinopel freigesprochen worden ist. Obwohl mir selbst in der Türkei kein frivoleres Gerichtsverfahren bekannt geworden ist, ist nach gewissen Anzeichen Fachri Pascha, der stellvertretende Kommandant der IV. Armee, der mit als die Seele des scharfen Vorgehens gegen die Armenier gilt, noch heute von der Schuld Balits überzeugt.

In seinem oben angezogenen Berichte sagt Freiherr Max von Oppenheim: "Bei einer vorübergehenden feindlichen Landung, die zur Zerstörung der Bahnlinie von Alexandrette führte, waren zweifellos Spionen- und andere Dienste geleistet worden."

Ich habe diese Anklage noch nie, auch nicht von türkisch-muhammedanischer Seite gehört, obwohl mir der Fall in allen Einzelheiten bekannt ist. Auf Tatsachen kann sie jedenfalls trotz der angeblichen Zweifellosigkeit nicht gestützt werden, und die Wahrscheinlichkeit spricht gegen sie. Wenn ein englisches Kriegsschiff auf einer Reede, auf der englische Kriegsschiffe vor Kriegsausbruch Monate lang gelegen haben, nachts landet und 30 m vom Ufer ein paar Schienen losschraubt, sodass ein Nachtzug entgleist, so bedarf das Schiff dazu keiner armenischen Spione und Schlossergesellen. Die "reichen Geldmittel", von denen der Bericht als bei dem Spion (dem Torosoglu Agop) gefunden spricht, belaufen sich selbst nach türkischer Angabe auf 40 Pfund - wie schon gesagt angeblich englische - d.h. eine Summe, die in dem reichen Orte Dörtjol und der Landesgewohnheit, sein Vermögen im Gürtel zu tragen, nichts Auffälliges sein konnte. "Fäden einer militärisch gegliederten Verschwörung", von denen der Bericht weiter spricht, sind weder in Alexandrette noch in Dörtjol aufgedeckt worden. In Alexandrette hat eine sehr gründliche Massenhaussuchung weder Waffen noch belastende Schriftstücke ergeben. In Dörtjol sind dem Vernehmen nach allerdings Waffen gefunden worden. Dies hat jedoch nichts Ueberraschendes, seitdem die Bewohner dieses Fleckens sich während des sogenannten Adana-Massackers im Jahre 1909 nur mit den Waffen der Abschlachtung durch die muhammedanischen Umwohner haben erwehren können.

Dies zur tatsächlichen Richtigstellung der gegen die Armenier erhobenen Anklagen, soweit sie den Umkreis meines Amtssitzes berühren und demnach von mir kontrolliert werden können. Daraus Schlüsse auf den Wert der übrigen Anklagen zu ziehen, wird Auffassungssache bleiben müssen.

Besondere Vorsicht dürfte sich jedenfalls, von Wan und seiner Zone abgesehen, gegenüber der Anklage "militärisch gegliederter Verschwörung" empfehlen. Gewisse örtliche Aufruhrbewegungen können zum Beweise einer solchen nicht verwertet werden. Dass beispielsweise der Aufruhr von Seitun nicht einer solchen Verschwörung auf die Rechnung gesetzt werden kann, ergiebt sich unzweifellhaft aus der Berichterstattung des Kaiserlichen Konsulats Aleppo. Auch die Empörung der Bewohner von Fundadschak im August und der von Urfa im Oktober war wohl, wenn man will, "militärisch gegliedert", aber örtlich beschränkt und nicht als Ausfluss einer weiter angelegten Verschwörung, sondern an Ort und Stelle durch die Drohung der Verschickung gereift. Die Erhebung der Armenier in der Gegend von Suedije (südlich Alexandrette) war selbst nach Schilderung von militärisch-türkischer Seite keine Verschwörung, sondern eine vom Augenblick geborene Erhebung, die nach türkischem Geständnis in erster Linie dem Ungeschick des Kaimakams von Ladakije bei Bekanntgabe des Verschickungsbefehls zu verdanken ist. Auch die Aufnahme der Aufrührer von Suedije durch französische Kriegsschiffe war keine von langer Hand vorbereitete Handlung. Dafür sprechen die Umstände und die Ansichten gut unterrichteter Türken.

Wie leicht derartige Tatbestände durch "unzweifelhafte Tatsachen" entstellt werden können, zeigt der Fall der Maschinengewehre von Urfa. Freiherr Max von Oppenheim behandelte nämlich mir gegenüber auf Grund eines Zeugnisses, das er als über jeden Zweifel erhaben ansah, die Benutzung von Maschinengewehren (russischen?) durch die aufständischen Armenier Urfas als erwiesen und folgerte daraus Fäden nach Wan und Russland. Graf Wolfskeel dagegen, der bei der Unterdrückung des Aufstands mitwirkte, verwies diese Maschinengewehre in das Reich der Fabel.

2. Etwas anderes ist es, wenn die Verschickung der Armenier mit der Befürchtung begründet wird, die Armenier könnten im Falle feindlicher Landung wie in Wan mit dem Feinde gemeinsame Sache machen. Diese Befürchtung ist zweifellos begründet, wenn sie auch nicht die Armenier allein trifft, sondern auch die andern christlichen Bevölkerungsteile der Türkei und selbst viele Muhammedaner, wie die Kurden der Bederhanpartei und gewisse bedeutende arabische Stämme des Iraks und Arabiens beweisen. Jedenfalls liegt aber auf der Hand, dass damit nur die Ausräumung der gefährdeten Striche, also vor allem der Gebiete an der Küste und längs der Etappenstrassen, nicht aber die Gesamtaustreibung der Armenier gerechtfertigt werden kann.

3. Man kommt der Wahrheit danach wohl am nächsten, wenn man, ohne den gegen die Armenier erhobenen Anklagen zu grosses Gewicht beizulegen, annimmt, die türkische Regierung habe in dem Landesverrat der Armenier Wans einen willkommenen Anlass erblickt, um das ihr politisch und - vom muhammedanisch-türkischen Standpunt aus - wirtschaftlich gleich lästige armenische Bevölkerungselement während der unwiederbringlich günstigen Gelegenheit des gegenwärtigen Krieges ein für alle Mal zur Bedeutungslosigkeit zu zerdrücken. (Ich bin mir bei dieser Bemerkung natürlich bewusst, der Kaiserlichen Botschaft nichts Neues zu sagen; ich setze sie hierher der Vollständigkeit halber).

4. Ebenso springt in die Augen, dass die Frage in der Hauptsache eine eigene Angelegenheit der Türkei ist, es sei denn, dass man sich den Standpunkt echter oder geheuchelter englischer und amerikanischer Sentimentalität zu eigen machen will.

Es kann daher auch in erster Linie Sorge der türkischen Regierung sein, wie sie sich mit den wirtschaftlichen Bedenken gegen die Armenierverschickung abfinden will.

Ich meine damit nicht die Bedenken wegen der einmaligen, wenn auch schweren Verluste, die die Gläubiger der Verschickten erleiden und deren Vergütung von dem famosen Liquidationsgesetz vom 13. Eilul 331 im Ernst kein Kenner der Verhältnisse erwartet, sondern die dauernden Schäden, die das bevölkerungsarme Reich durch den plötzlichen Wegfall mehrerer Hunterttausender erwerbstüchtiger Arbeitskräfte erleidet.

Wäre jeder Armenier, wie man gelegentlich von deutscher Seite zu hören und zu lesen bekommt, im wesentlichen ein Wucherer und nichts weiter, so könnte natürlich von einem solchen Verluste für das Reich nicht die Rede sein. In Wirklichkeit sind Hunderttausende der erwerbsfähigen Armenier - deren Gesamtzahl auf türkischem Boden bekanntlich auf 2 Millionen geschätzt wird - fleissige und geschickte Handwerker und rührige, strebsame und unternehmende Ackerbauer. Letzteres wird von Beurteilern häufig übersehen. Dabei sind gerade die Gebirgsarmenier, die überwiegend von Landwirtschaft leben, ohne gewisse hässliche Züge der armenischen Rasse wie Selbstsucht, Undankbarkeit und Skrupellosigkeit ganz zu verleugnen, ein sehr viel sympathischerer Menschenschlag als die der Welt bekannteren handeltreibenden Armenier der Grossstädte. Körperlich gesund, fruchtbar, geistig regsam und strebsam sind sie für die wirtschaftliche Entwicklung des zurückgebliebenen Landes ein zu wertvoller Bestandteil, als dass ihr Verschwinden inmitten einer muhammedanischen Bevölkerung, die schwach gesäet, geistig unbeholfen, wirtschaftlich stumpfsinnig und durch Syphilis und andere Krankheit vielfach schon entartet ist, nicht eine lange fühlbare Lücke hinterlassen sollte. Haben doch schon geringere Ausfälle an landwirtschaftlichen Arbeitskräften - so das Ausbleiben der Erntearbeiter von den griechischen Inseln während des türkisch-italienischen Krieges im Wilajet Aidin - in den besser angebauten Gebieten der Türkei sehr unliebsame Folgen gehabt, da dort die Leutenot schon seit Jahren chronisch ist.

Wird die muhammedanisch-türkische Bevölkerung, zu deren wirtschaftlichen Stärkung die Armenierverschickung eingestandenermassen mit dienen soll, bei ihrer geistigen und wirtschaftlichen Rückständigkeit in der Lage sein, eine so grosse, ihr unverhofft und unvorbereitet zugefallene Erbschaft anzutreten?

Nach dem was ich von türkischen Freunden höre, verkennt man auf türkischer Seite nicht den grossen wirtschaftlichen Verlust durch Ausmerzung der Armenier und die Schwierigkeit ihrer Ersetzung durch Muhammedaner, hält aber einen allmählicheren und friedlicheren Weg für ungangbar, weil bei jedem friedlichen Wettbewerbe der wirtschaftlich schwach begabte und unausgebildete türkische Muhammedaner sehr bald wieder unter die Räder geriete. Meine türkischen Freunde hoffen daher, dass diese schwere Operation am Körper der türkischen Volkswirtschaft zu guter Letzt doch eine Gesundung des Reichs in muhammedanisch-türkischem Sinne herbeiführen werde.

Um diese Hoffnung zu teilen, bedarf es einer optimistischen Auffassung von der Entwicklungsfähigkeit der muhammedanischen Türken in wirtschaftlicher Beziehung und von der Tatkraft und Geschicklichkeit der Regierung auf dem Gebiete wirtschaftlicher Erziehung, eine Auffassung, die mir bisher noch ohne Stützen in der Luft zu schweben scheint. Immerhin, vielleicht erlebt die Türkei auch auf wirtschaftlichem Gebiet einen Enver Pascha. Einstweilen bemühen sich dem Vernehmen nach die Aleppiner Juden, in von den Armeniern gelassene Lücken einzudringen. Die christlichen Syrer dürften ihnen folgen.

5. Zu der Frage des Verhältnisses Deutschlands zu der Verschickung möchte ich auf Grund meiner Aleppiner und hiesigen Beobachtungen gehorsamst bemerken:

Hinsichtlich der Schädigung deutscher Gläubiger und deutscher Ausfuhrindustrien (wie Farbstoffe) nimmt Deutschland vor den andern fremden Staaten keine wesentliche Sonderstellung ein. Dass auf solche deutsche Interessen türkischerseits auch nicht die geringste Rücksicht genommen worden ist, habe ich oben gestreift.

Dagegen weisen bekanntlich feindliche und neutrale Auslandsstimmen in Parlament und Presse Deutschland eine besondere Rolle als Mitschuldiger, wenn nicht gar als Anstifter, zu. Es wird nicht leicht zu sagen sein, welche Schädigungen deutscher Interessen sich daraus ergeben.

Im hiesigen Lande selbst ist, darüber kann kein Zweifel bestehen, die nichtarmenische christliche - fremde wie einheimische - Bevölkerung, die Zeuge der Verschickung geworden ist, von Deutschlands Mitschuld an dieser und seiner gänzlichen Gleichgiltigkeit gegen ihre Greuel überzeugt, Greuel, die man bei aller Abneigung gegen die Armenier denn doch mit wenigen Ausnahmen verabscheut. Nach verbürgten Aeusserungen zu urteilen, sieht man darin den Ausfluss desselben Geistes, der sich in den "belgischen Greueln" betätigt habe. Mit andern Worten: die Armeniergreuel und die "belgischen Greuel" werden in Wechselbeziehung gesetzt; weil wir die armenischen nicht verhindert haben, glaubt man uns die belgischen und umgekehrt. Es ist zu erwarten, dass nach Friedensschluss der Chor der zurückkehrenden feindlichen Wettbewerber diese Auffassung nach Kräften verstärken wird. Ich kann mir keinen wirksameren Agitationsstoff in dieser Frage denken als das Bild: auf der einen Seite Deutschland, der mächtige Verbündete der Türken, das ungerührt hunderttausende von Frauen und Kindern zum Verkommen in die Wüste schicken lässt, und auf der andern Seite die französischen Kriegsschiffe, die (bei Suedije) 6000 dieser Unglücklichen, die sich schon dem Tode verfallen wähnten und wenigstens mit den Waffen in der Hand sterben wollten, aufnehmen und in Sicherheit bringen. Die Folgen für den Ruf des deutschen Namens in den christlichen Kreisen der Türkei sind klar.

Dieselbe Zustimmung Deutschlands nehmen auch die Muhammedaner an. Nur scheint die grosse Mehrheit, soweit sie überhaupt denkt, uns für die Duldung dieser radikalen "Operation" dankbar zu sein.

Andrerseits werden aber auch nach Berichten von vertrauenswürdiger Seite allerlei muhammedanische Stimmen laut, die die vorgekommenen Greuel, besonders die an Weibern und Kindern, als Sünde gegen die Gebote des Islams verdammen. Diese Stimmen sind besonders unter den arabischen Muhammedanern zu finden, denen bekanntlich die eigentlichen Türken und was sie tun von vorn herein unsympathisch und minderwertig erscheinen.

Damit stimmt die wiederholt gemachte Beobachtung überein, dass die verschickten Weiber und Kinder bei den muhammedanischen Fuhrleuten und Treibern die für ihren Transport requiriert waren, Schutz gegen die Roheiten der begleitenden Gendarmen fanden. Vizekonsul Holstein teilte mir u.a. mit, zwischen Tell-Abiad und Dscherabluss habe ein Scheich der Anese-Beduinen einen Armenierzug getroffen und ihm in sehr anständiger Weise bis Tell-Abiad Schutzgeleit gegeben. Von dem dortigen Etappenkommandanten sei er dafür mit Vorwürfen überhäuft worden. Uebrigens sei der Kommandant zwei Tage darauf spurlos verschwunden gewesen.

Leider scheint nach Aeusserungen, die mir von VK Holstein und andrer zuverlässiger Seite berichtet wurden, auch bei den Muhammedanern unsere Duldung zum Teil deswegen natürlich gefunden zu werden, weil wir "es in Belgien ja auch nicht anders gemacht" hätten.

Die Armenier selbst endlich sind natürlich allgemein von unsrer Mitschuld, wenn nicht gar von unsrer Anstiftung überzeugt. Auch wo ausnahmsweise klar gesehen und erkannt wird, dass unser Gehenlassen nicht Billigung sondern das bedauerliche Ergebnis empfindlicher politischer Verhältnisse ist, wird den Deutschen eine Mitschuld beigemessen, weil sie das armenische Volk in Sicherheit gewiegt hätten. So sagte mir ein ruhig denkender armenischer (protestantischer) Geistlicher: "Wir waren willens, loyal zu bleiben. Bis dann die Verschickung begann. Hätten wir uns damals allgemein der beginnenden Ausrottung unseres Volks widersetzt, so wären wir Herren der Lage geworden und wären heut nicht dem Untergange geweiht. Aber alle unsere deutschen Freunde in Marasch, Harunije, Urfa, Malatia und Ma’muret-ul-Asis haben uns dringend geraten, uns zu unterwerfen; dann werde uns nichts geschehen. Das haben wir geglaubt, und dass wir auf den deutschen Einfluss gebaut haben, ist unser Verhängnis geworden."

Würde die Verschickung der Armenier wirklich zu ihrer Ausrottung führen, so wären diese armenischen Stimmungen belanglos. Es wird aber, selbst wenn die Verschickung noch Monate fortdauert, immer noch ein nennenswerter Bruchteil der Armenier übrig bleiben, sei es, dass eine Anzahl bei der Zähigkeit der Rasse durch alle Lebensgefahren durchhalten oder bei der Vielgewandtheit der armenischen Intelligenz Mittel und Wege zur Rettung finden, sei es, dass sie von der Verschickung überhaupt verschont bleiben, wie jetzt noch die obenerwähnten Bahnangestellten, die Bevölkerung der oben genannten Grossstädte und einzelne reiche Einwohner andrer Städte (z.B. Adanas). Gerade die einflussreichsten Elemente werden also die Verschickung voraussichtlich überdauern. Ebenso die rund 25000 Armenier, die nach armenischer Angabe in den nordöstlichen Wilajets den Islam angenommen haben, um sich zu retten, ferner Dienstboten, aufgelesene Kinder u.a..

Alle diese werden natürlich gegen Deutschland aufs Tiefste erbittert sein, selbst die, welche unserm Eingreifen ihr Leben verdanken (Bahnangestellte), da Dankbarkeit bekanntlich eine dem armenischen Charakter unbekannte Eigenschaft ist.

Ihnen werden sich die zahlreichen Nichtarmenier zugesellen, die durch die Armenierverschickung Verluste gehabt haben oder gar zu Grunde gerichtet worden sind.

Beide werden den Chor unsrer Gegner in der Türkei nach dem Friedensschluss verstärken und dabei einen günstigen Boden bei allen Teilen der Bevölkerung finden, die in dem Kriege wirtschaftlich gelitten - und wer hätte das nicht - oder Angehörige verloren haben. Denn dass diesen Leiden bei der übergrossen Mehrheit der Bevölkerung, auch der muhammedanischen, kein Ideal das Gegengewicht hält, bedarf wohl keiner Hervorhebung.

6. So unerquicklich die Beschmutzung des guten deutschen Namens aus Anlass der Armenierverschickung auch ist, so käme es, praktisch genommen, im wesentlichen doch darauf an, ob sie zu wirtschaftlichen oder politischen Nachteilen führen muss.

Was zunächst die künftige wirtschaftliche Arbeit Deutschlands in der Türkei angeht, so wird es nach wie vor mit den nichtmuhammedanischen Elementen arbeiten müssen und zwar vorzugsweise. Dass es sich z.B. im Handel auf die Muhammedaner stützen könne, wie ich es noch kürzlich in Aleppo von gewisser deutscher Seite predigen hörte, ist sicherlich für lange Zeit Utopie, auch wenn die Konsulate mit allen Kräften an der Heranziehung des muhammedanischen Elements zum Handelsstande mitarbeiteten. Deutschland wird weiter mit fremden und einheimischen Juden und Christen, einschliesslich der übriggebliebenen Armenier, Handel und Schiffahrt zu treiben haben.

Zum Glück kann es aber als ausgeschlossen angesehen werden, dass diese handeltreibenden Elemente der Türkei, von seltenen Ausnahmen (Fremde) vielleicht abgesehen, sich durch ihre persönlichen Gefühle den Deutschen gegenüber davon abhalten lassen werden, ihren Vorteil im Handelsverkehr mit Deutschland zu suchen. Selbst die Armenier werden greifbare geldliche Vorteile ihren Gefühlen voranstellen.

Politische Nachteile werden natürlicherweise um so weniger entstehen, je mehr die Vertürkung der Türkei über blosse Aeusserlichkeiten hinaus wirkliche Fortschritte macht und damit der Einfluss der feindlichen Fremden und Rajas zurückgeht. In dieser Beziehung ist wohl vorläufig einige Hoffnung vorhanden.

Für die werbende Mitarbeit der in der Türkei lebenden Deutschen, die daneben unerlässlich ist, wird die Armenierverschickung allerdings ein peinliches Beschwernis bleiben, zumal ihrer Rückwirkungen auf die sonstigen Beschuldigungen des deutschen Heers und Volks wegen; peinlich umso mehr, als sie es sich aus politischer Rücksichtnahme häufig werden versagen müssen, ehrlich die Wahrheit und ihre Meinung über die Angelegenheit zu sagen. Und sie werden den Eindruck dieser peinlichen Angelegenheit besonders störend dann empfinden, wenn sie - was sie zur Verbreitung des deutschen Einflusses endlich ernstlich tun müssen - ihre Kegelklub-Abgeschlossenheit aufgeben und den Verkehr mit andern einflussreichen Kreisen der Bevölkerung zu pflegen beginnen.


Hoffmann
Anlage 2

[Fotografien von Anträgen der Bauabteilung der Bagdadbahn, einen Aufseher und einen Bäcker samt ihrer Familienangehörigen von der Deportation auszunehmen sowie Antworten des militärischen Kommissars, daß die Mädchen im heiratsfähigen Alter nicht ausgenommen würden]

Anlage 3
Aleppo, den 20. Oktober 1915

Ueber meine allgemeinen Beobachtungen im armenischen Sammellager Tell Abiad bemerke ich folgendes:

Das Armenierlager umfasst ungefaehr tausend Peronen; es soll frueher bis zu 5000 Personen gezaehlt haben. 600 lagern in dem von nackten Lehmwaenden umgebenen etwa 80 x 100 Meter grossen Hof eines Hans, dessen Raeume nach aussen gehen. Diese 600 sind also ohne Dach und Herd. 400 haben sich aussen um den Han gelagert.

Diese Verschickten sind die Ueberbleibsel verschiedener Transporte von Norden. Es sind fast nur aeltere Frauen und Kinder. Nach meinen Erkundigungen sind die Maenner und Knaben ueber 11 Jahre unterwegs zusammen abgefuehrt, wahrscheinlich ermordet, die jungen Frauen und Maedchen ueber 13, 14 Jahren entweder geschaendet und ermordet oder von den Begleitsoldaten oder Kurden verkauft oder verschenkt worden.

Alle diese Verschickten liegen auf blosser Erde, unbedeckt; ihre Habe habe man ihnen unterwegs geraubt. Viele sind halbnackt, da sie ihre Kleider fuer etwas Brot verkauft haben; die Mehrzahl stecken nur noch in Lumpen und sind baarfuss.

Alle sind voller Ungeziefer und haben ganz verfilztes Haar, da sie sich seit Monaten nicht haben waschen und kaemmen koennen.

Die Draußen Lagernden scheinen noch etwas Lebenskraft zu haben. Die im Hofe Lagernden sind zum groessten Teil so erschoepft, dass sie ueberhaupt nicht mehr aufstehen koennen, sondern voellig stumpf den Tot erwarten. Ein erschoepftes Wimmern nach Wasser und Brot ist ihre einzige Aeusserung. Ihre Notdurft verrichten sie entweder direkt in ihren Kleidern oder neben sich, da sie offensichtlich nicht mehr die Kraft haben den Platz zu verlassen. Der Hof ist daher eine einzige Schmutzflaeche, die einen pestialischen Gestank aushaucht.

Die meisten der im Hof liegenden sind zu Skeletts abgemagert; auch die draussen liegenden sehen nicht viel besser aus. Angeblich erhalten die Leute taeglich von der Behoerde je 100 Dram (316 Gramm) Brot, natuerlich minderwertigster Sorte manchmal auch etwas Fleisch (nach Angaben der Behoerden). Der Zustand der Leute beweist zur Genuege, dass diese Lieferung zum mindesten sehr unregelmaessig gehandhabt wird. Wahrscheinlich erhalten Brot - das uebrigens nach Angabe eines dort lebenden sehr zuverlaessigen Europaers gemischt gewesen sein soll, nur diejenigen, die sich das Brot selbst abholen und bezahlen koennen. Wer erst vor Entkraeftung zu schwach ist, um sich selbst Brot zu holen, ist eben dem Hungertote verfallen. Der Totengraeber behauptete, dass seit 2 Tagen kein Brot verteilt worden sei; seine Beschwerde sei von dem Aufsicht fuehrenden Gendarmerie-Wachtmeister mit Peitschenschlaegen abgetan worden. Der Gendarmerie-Wachtmeister gab mir die Peitschenschlaege zu, entschuldigte sich aber damit er haette kein Mehl mehr. Als ich ihm die gefuellten Saecke Mehl vor seiner Tuer zeigte, verschanzte er sich hinter dem Mangel an Feuerungsmaterial, schliesslich schob er die Schuld an den ueblen Zustaenden auf den Kaimakam.

Epidemien herrschen in dem Lager nicht. An Entkraeftung, also Hungertot, an Dysentrie u.s.w. sterben nach Angaben des Totengraebers taeglich bis zu 40, im Durchschnitt 25 bis 30 Personen.

Als Beerdigungsstaette dienen Massengraeber, die etwa 100 Meter von der Mitte des Lagers gerechnet, geoeffnet werden. Bei meinem ersten Besuche sah ich zwei offene Gruben; die eine enthielt 16 bis 20 nackte Leichen durcheinander geworfen (z.B. ragten von einer weiblichen Leiche beide Beine in die Hoehe, waehrend der unsichtbare Oberkoerper zwischen andren Leichen eingekeilt steckte), in der zweiten erst halb voll 8 ebenfalls nackte Leichen, saemtliche so abgemagert, dass man kaum noch das Geschlecht erkennen konnte. Sobald eine Grube bis zum Rand voll ist, was manchmal 24 Stunden dauert, wird sie mit einer schwachen Schicht Erde gedeckt, in folgedessen steigt aus diesen Gruben ein pestartiger Geruch auf. Die Leichen wurden anfangs einfach mit einem Strick zu den Gruben geschleift, spaeter liess ein Beamter des Bagdadbaus eine Tragbahre anfertigen. Die Leichen werden von den Gendarmen aus dem Haufen der Lagerinsassen festgestellt und dem Totengraeber uebergeben. Einer solchen "Leiche" begegneten wir auf unserem Rueckwege von den Gruben, die noch unverkennbare Lebenszeichen von sich gab. Herr B. bezeichnete dies als einen alltaeglichen Vorgang.

Das Massenlager untersteht dem Kaimakam Ghareb Bey von Ein El Aruz eine halbe Stunde vom Lager entfernt. Es war mir interessant seine Ansicht ueber diese Zustaende zu hoeren.

Er stellte sich mir als Gegner dieser Armenierverschickungen hin, wenn die Armenier, sagte er, uns verraten haben, so sollen die Schuldigen allein erschossen oder gehaengt werden. Die Weiber und Kinder aber soll man schonen. Er tue sein Bestes um das Los der Verbannten in Tell Abiad zu verbessern. Wenn er aber nicht regelmaessig dabei stehe so bekaemen die Armenier nichts zu beissen. Er sei ein Mensch mit Gefuehlen und koenne derartige Grausamkeiten nicht mit ansehen. Der Schuldige ist nach dem Kaimakam der Gendarmerie-Wachtmeister Nedschib Ahmed, das heisst derselbe, der wie oben erwaehnt die Schuld dem Kaimakam in die Schuhe schiebt. Herr B. der als absolut zuverlaessig gelten kann, erzaehlte mir dagegen der Kaimakam habe in seiner Gegenwart gesagt er koenne Stunden lang dem "krepieren" der Armenier zusehen.

Was das weitere Schicksal der in Tell Abiad gesammelten Transporte anbelangt, so werden sie in der Regel von Tell Abiad nach Sueden, nach Rakka am Euphrat, weiter gesandt, um dort "angesiedelt" zu werden. Fuer den oben geschilderten Transportrest war dies nach Angabe des Kaimakams vorlaeufig unmoeglich, weil die Schamarbeduinen sich wieder einmal gegen die Regierung erhoben und die Wege dorthin besetzt hielten. Unnoetig zu sagen, dass das Ergebnis fuer die Verschickten so oder so Vernichtung bedeutet.

Was den Eindruck anbelangt, den diese Zustaende auf die arabischen Mohamedaner machen, so bemerke ich: Sowohl meine als auch des dort lebenden Herrn B.s Ueberzeugung ist, dass die arabischen Mohamedaner zu mindestens zum grossen Teil mit dem tuerkischen Verfahren nicht einverstanden sind. Als Beispiel greife ich folgende Aeusserungen heraus: Als ich mit dem Kawassen Mahmud, arabischer Mohamedaner, den Platz verliess, war er vollstaendig niedergeschlagen und sagte mir diese gemeine Suende (haram nedjim) koennen nur Kurden und Tuerken begehen, ein arabischer Mohamedaner wuerde solche Gemeinheiten nie begehen. Der Magazinsarbeiter Abdel-Rany der mir von Herrn S. als zuverlaessig bezeichnet wurde sagte mir, als ich die verschickte Familie Gottlob aus dem Lager herausgeholt hatte: "Gott moege Dir diese edle Tat vergelten, denn Du hast 10 armen Geschoepfen das Leben wiedergeschenkt. Die Leute die Frauen und Kinder so behandeln wie der Tschauisch (Wachtmeister), haben keine Religion. Als ich den Magazinsvorsteher in Tell Abiad bat, warmes Wasser fuer die Familie Gottlob zu bereiten, damit sie sich baden konnte, waren die mohamedanischen Magazinsarbeiter bemueht schnellstens Holz zu hacken und Feuer zu machen, um der Familie zu helfen. Ein anderer offenbar ehrlicher Arbeiter (arabischer Mohamedaner) sagte mir dass er regelmaessig von seiner Brotration den Armeniern gebe, aber es waeren leider zu viele um sie alle saettigen zu koennen. Bekannt duerfte sein, dass die arabischen Mohamedaner die tuerkischen so wie so nicht als gleichwertige Glaeubige ansehen.


W. Lechnig

Konsulats-Hilfskanzlist.

Alexandrette

Anlage 4
Aleppo, den 15. Oktober 1915

Als Lehrer der deutschen Realschule, der sich gerade jetzt ein ungeahnt weites Feld der Tätigkeit eröffnet hat, halten wir Unterzeichneten es für unsere Pflicht, das hohe Auswärtige Amt auf die traurige Wirkung hinzuweisen, die diese hoffnungsvolle Arbeit durch die Grässlichkeiten erleidet, die sich in der Austreibung der Armenier tagtäglich vor unseren Augen abspielen.

Wir wollen nicht bei den blutigen Greueln verweilen, mit denen die Wegführung der Armenier aus ihrem Gebirgslande zu beginnen pflegt; den tausenden von Männern, die abgesondert oder manchmal vor den Augen der ihrigen abgeschlachtet wurden; nicht bei den zahllosen Mädchen, Frauen und Kindern, die der Schändung oder der Verstümmelung durch ihre Wächter und deren Spiessgesellen anheimfielen und deren nackte Leichen an den Wegen liegen, die die immer neuen Scharen der Verbannten wandern müssen; nicht bei den unsäglichen Roheiten, der Verdurstung, dem Hunger, die die übrig gebliebenen, meist bis aufs Letzte ausgeplünderten Witwen und Waisen dezimierten, ehe sie, oft zu Gerippen geworden, hier anlangen, um dann vielleicht eine von sechs, die auszogen -, auf einem ähnlichen Leidenswege ohne Existenzmöglichkeit wieder in die Wüste geschickt zu werden -, auf dass der armenische Name verschwinde.

Das Alles, nehmen wir an, wird dem hohen Auswärtigen Amt durch seine Vertreter hier im Lande bekannt sein.

Dagegen sei uns erlaubt, einen kleinen Ausschnitt aus dem Massenelend dieser Volksvertilgung zu beleuchten, einen Ausschnitt, der uns dicht unmittelbar neben unserer Schule, nur durch eine schmale Gasse getrennt, entgegentritt.

Es ist da ein alter grosser Chan, den die türkischen Behörden den Armeniern für ihre Vertriebenen, besonders die schwer Kranken, zur Verfügung gestellt haben. Also eine Art Krankenhaus, sollte man meinen. Treten wir durch den engen schmalen Gang ein!

Einige Gewölbe, mit elenden ausgemergelten Gestalten in Lumpen gehüllt, auf der nackten Erde, bestenfalls auf einigen ärmlichen Resten ihrer fahrenden Habe gelagert. Frauen und Kinder. Hin und wieder ein Greis. Das Mannesalter fehlt.

Wir treten auf den Hof. Er ist ein einziger Abort geworden. Am Rande vor jenen Gewölben, Haufen von Kranken, Sterbenden, Toten, durcheinander in ihrem Unrat liegend. Millionen Fliegen auf den erschöpften Kranken und auf den Leichen. Stöhnen, Wimmern, hier und da ein Schrei nach dem Arzt, eine Klage wegen der von tausenden von Fliegen gepeinigten Augenhöhlen. Neben der nackten Leiche eines Greises zwei Kinder, die ihre Notdurft verrichten.

Wir steigen über den mit Exkrementen bedeckten Hof in ein jenseitiges Gewölbe. Ein Dutzend Kinder, halb verhungert, stumpf; einige sterbende - oder tote? - darunter. Keiner nimmt sich ihrer an. Wurde doch aus einer finsteren Nische eine halbverweste Knabenleiche hervorgezogen, auf die man erst durch den Verwesungsgeruch aufmerksam geworden war. Da sind Waisen, deren Mütter in diesen letzten Tagen in diesen Raeumen starben. Kein Arzt erscheint hier. Keine Arznei bringt Linderung. Auch sie sind einem schrecklichen Tode geweiht. Sie werden verhungern. Die Regierung liefert diesem "Krankenhause" Linsen oder Burgul (eine Art Weizenschrot), oder schwarzes Soldatenbrot. Der geschwächte Magen dieser elenden, oft Wochen, ja Monate durch wasserlose Hitze getriebener Geschöpfe verträgt solche Nahrung nicht mehr, die ohnehin nicht entfernt hinreichen würde. Disenterie, Entkräftung, Typhus folgen...

Inzwischen sind Lastträger mit Särgen erschienen. Ein Teil der in den letzten Tagen Gestorbenen wird, wie sie sind, hineingelegt, zum nächsten Kirchhof getragen, in das Massengrab entleert. Der Transport mit Särgen (die blosse Tragegelegenheit sind) genügt nicht; sterben doch täglich 100 bis 150 der hierhergelangten Ueberlebenden; auf Lastwagen werden die Leichen ladungsweise abgefahren; eine Plane deckt das Schlimmste. Beine, ein Kopf hier und da, baumeln herunter, wie der Karren über die Strasse rattert.

Und unmittelbar neben dem Schauplatz dieser Szenen sind wir deutschen Lehrer gezwungen, unsere Schüler einzuführen in deutsche Kultur. Sie haben vielleicht auf dem Gange zur Schule einen solchen Wagen voll Leichen gekreuzt; oder das Stöhnen der elenden Opfer, ihr Husten aus dem offenen Fenster der Gewölbe gehört oder sind von den Jammergestalten angebettelt worden, die um Luft zu schöpfen auf die enge Strasse hinausgekrochen sind, aber in ihrer Schwäche sich nicht wieder haben zurückschleppen können, und die nun fliegenbedeckt und sterbend auf der Strasse liegen.

In welcher Stimmung sollen die Schüler, wenn sie Armenier sind, sich von uns, ihren Lehrern, in Geschichte und Heimatkunde, in Religion und anderem unterweisen lassen, wenn in den der Schule benachbarten Höfen ihre Volksgenossen verhungern.

Ja, glaubt man, dass die mohammedanischen Kinder nicht irre werden, wenn sie angesichts solcher Bilder unsere Lehren hören? Gibt es doch zahllose, anständige Mohammedaner, die dieses Massenmorden an unschuldigen Frauen und Kindern voll Abscheu als Sünde wider die Gebote Gottes des Barmherzigen verurteilen und, nicht fassend, dass ihre eigene Regierung die Urheberin solcher sündhaften Greuel sein koenne, in den Deutschen die Urheber sucht. Grässliche Flecken drohen hier dem Ehrenschilde Deutschlands in der zukünftigen geschichtlichen Erinnerung der morgenländischen Völker!

Es ist nicht unsere Sache, die politische Berechtigung der Vertreibung der Armenier aus ihrem Gebirgslande zu erörtern. Darauf aber wollen und müssen wir mit lauter Stimme hinweisen: dass die deutsche Schularbeit bei der Fortdauer dieser grässlichen Art der Vertreibung in Form eines Massenmordens an Frauen und Kindern, eines Massenmordens, wie es die Geschichte wohl noch nicht erlebt hat, in diesem Lande einen nicht wieder gut zu machenden Schaden erleidet.

Wir haben die Zuversicht zu einem hohen Auswärtigen Amte, dass es seinem Einfluss gelingt, diesem schmählichen Morden noch in letzter Stunde ein Halt zu gebieten und uns deutsche Lehrer von der Scham zu befreien, die uns der Verdacht der Mittäterschaft schon jetzt hier - bei Christen und Mohammedanern - wie aber später erst in der ganzen Welt - täglich mehr auf der Seele lasten lässt.


Oberlehrer Dr. Niepage

Marie Spieker


Die Darstellung des Kollegen Dr. Niepage übertreibt in keiner Weise. Wir atmen hier seit Monaten Leichengeruch und leben unter Sterbenden. Nur die Hoffnung auf ein baldiges Ende des himmelschreienden Zustandes erlaubt uns noch, an der Schule weiter zu arbeiten, und der Wille, der hiesigen nichttürkischen Bevölkerung nach schwachen Kräften zu beweisen, daß wir Deutsche persönlich nichts mit den entsetzlichen Methoden dieses Landes zu tun haben.

Schuldirektor Huber

Dr. Eduard Graeter

Anlage 5

(Fotografien der Lagerstätten in der Nähe der deutschen Schule)


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