1915-11-20-DE-001-V

DuA Dok. 204 (re. gk.)

Der Botschaftsrat in Konstantinopel (Neurath) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

B.Nr. 10102

Pera, den 20. November 1915

Auf Erlaß vom 3. d.M. No. 822

Über die Vorgänge in Urfa liegt seitens des Kaiserlichen Konsuls in Aleppo bisher nur ein kurzes Telegramm vom 9. Oktober vor. Danach hat die Armenische Bevölkerung, als sie Ende September von ihrer bevorstehenden Verschickung benachrichtigt wurde, beschlossen, sich zur Wehr zu setzen und sich in ihren Häusern verschanzt. Fahri Pascha, der Militärkommandant von Aleppo, begab sich an Ort und Stelle, aber erst nach hartnäckigen Strassenkämpfen, bei denen die Türken auch Artillerie verwendeten, konnte der Aufruhr niedergeschlagen werden.

Aus einer vom Ministerresidenten a.D. von Oppenheim zur Verfügung gestellten Aufzeichnung, die auf Mitteilung des Grafen Wolfskehl beruht, ist folgendes zu entnehmen:

Das auf einem Hügel belegene Armenierviertel und die einzelnen, teilweise sehr starken, Häuser waren für die Verteidigung mit unleugbarem militärischen Geschick hergerichtet; Hauptsstützpunkte bildeten die von den Armeniern mit Gewalt besetzte Amerikanische Mission, die Armenische Kirche und Schule und einige Gruppen besonders fester Häuser. Die Verteidiger betrugen etwa 2000 wehrfähige Männer, die mit Gewehren, darunter viele kleinkalibrige, und Munition reichlich versehen waren; daneben verwendeten sie auch selbstgefertigte Handgranaten.

Anfänglich verfügten die Türken nur über wenige Gendarmen; nachdem zwei Bataillone mit zwei Feldgeschützen eingetroffen waren, begann der Kampf am 6. Oktober, in dessen Verlauf (am 12.) noch ein drittes Bataillon mit zwei 12 cm-Haubitzen eintraf. Aber erst am 14. konnte die Armenische Kirche mit den umliegenden Häusern und am 15. die amerikanische Mission erstürmt werden; die Einzelkämpfe dauerten noch einige 14 Tage. Die Armenier verloren im Kampfe 3-400 Mann, der Rest wurde gefangen genommen. Die Türkischen Verluste beliefen sich auf rund 50 Tote und 120 - 130 Verwundete. Eine grössere Anzahl Häuser wurden durch das Geschützfeuer und Brände zerstört; die amerikanische Mission hatte einen Treffer in der Werkstatt und einen andern in der Kuppel der Kirche.

Das Besitztum der Deutschen Orientmission ist nach einem Telegramm des Konsuls Rössler vom 17. d.M. gänzlich unbeschädigt geblieben.

Ausser diesem Kampfe ist bereits vor einigen Monaten - am 19. August - eine grössere Ausschreitung in Urfa vorgekommen, bei der 200 Armenier und syrische Christen den Tod fanden. Hierüber enthält die dem Berichte des Herrn Roessler an Euere Exzellenz vom 3. September beigefügte Aufzeichnung des Diakon Künzler in Urfa nähere Einzelheiten; dagegen ist über das von Herrn Lepsius erwähnte Massaker, das Mitte September stattgefunden haben soll, hier Nichts bekannt geworden, und, wenn Herr Lepsius eine Bestätigung dafür in der Mitteilung der dortigen Türkischen Botschaft vom 27. Oktober findet, so ist zu bemerken, dass die in dieser Mitteilung angeführten beiden Daten - 16. September und 3. Oktober - nach altem Stile zu verstehen sind und vielmehr, in Übereinstimmung mit den vom Konsul Roessler und dem Grafen Wolfskehl gemachten Angaben, dem 29. September und 16. Oktober neuen Stils entsprechen.

Leider ist es trotz der dringenden Verwendung der Kaiserlichen Botschaft und des Konsuls Roessler nicht gelungen das Verbleiben der armenischen Angestellten und Pfleglinge der deutschen Anstalten in Urfa zu erlangen. Der Minister des Auswärtigen, Halil bey, hatte zunächst die Berücksichtigung unserer diesbezüglichen Wünsche zugesagt, aber Fahri Pascha erklärte nur militärischen Rücksichten gehorchen zu können und wollte höchstens solche Armenier in deutschen Diensten ausnehmen, die nicht mit Familien von Aufständischen verwandt sind und keine soziale Stellung einnehmen. Mit Rücksicht auf die zu Anfang geschilderten Vorgänge, durch die die Armenier von Urfa besonders belastet erscheinen, habe ich zu meinem Bedauern von weiteren Schritten bei Enver Pacha Abstand nehmen zu müssen geglaubt.


In Vertretung

Neurath


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