1916-03-03-DE-001-V

DuA Dok. 246 (gk.)

Matthias Erzberger an den Legationsrat im Auswärtigen Amt Rosenberg


Berlin, den 3. März 1916.

Seiner Hochwohlgeboren Herrn Baron von Rosenberg, Auswärtiges Amt

Sehr geehrter Herr Baron!

In der Anlage überreiche ich Ihnen

1.) Die Abschrift des Briefes, den ich gestern an den Herrn Reichskanzler ins Große Hauptquartier gesandt habe, betreffend den Vorschlag über den Erwerb des Coenaculums,

2.) den Entwurf zu der Denkschrift wie ich sie mir gedacht habe, um sie Enver Pascha und Talaat zu überreichen, dem letzteren in französischer Übersetzung. Ich werde diese Denkschrift am kommenden Montag in Köln mit Herrn Kardinal von Hartmann durchsprechen.

Sollten Sie irgendwelche Wünsche haben, betreffend Änderung, so wäre es mir angenehm, wenn Sie mir diese noch heute mitteilen ließen.

Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener


M. Erzberger, Mitglied des Reichstags.

Anlage.

Denkschrift über die Maßnahmen zugunsten der Christen in der Türkei.

Die Lage der katholischen Armenier.


1. Die katholischen Armenier, deren Zahl von einigen auf annähernd 100000, von anderen höher geschätzt wird, sind scharf zu unterscheiden von den sogenannten gregorianischen oder orthodoxen, wie von den protestantischen Armeniern. Sie stehen unter einem eigenen Patriarchen, sind von der türkischen Regierung als Millet anerkannt und haben in nationaler Hinsicht nie Anlaß zur Beschwerde gegeben. Gerade ihre Abneigung gegen die nationalistischen Betrebungen, die allgemein anerkannt ist, hat ihnen den besonderen Haß ihrer Volksgenossen zugezogen und namentlich ihrem Patriarchen,der die nationalistischen Umtriebe verbot, große Anfeindung eingetragen. Träger der national-armenischen Unabhängigkeitsidee waren die an Rußland sich anlehnenden orthodoxen Armenier, die die russischen Sendlinge unter sich duldeten und andererseits die in den amerikanischen Schulen großgezogenen Armenier, die mit der Religion der protestantisch-amerikanischen Missionare gewöhnlich auch deren demokratische Gesinnung annahmen, vielfach Reisen nach Amerika unternahmen und dann als "Aufklärer" zurückkehrten.

2. Trotz der loyalen Gesinnung der katholischen Armenier und trotz der Zusicherungen, die man ihnen gab, widerfuhr ihnen dasselbe Schicksal wie ihren Volksgenossen. Die Verluste an Menschenleben und Gütern sind bei ihnen relativ ebenso groß wie bei den anderen, nur der Unterschied wurde gewöhnlich gemacht, daß bei ihnen Exekution und Deportation um einige Tage oder Wochen aufgeschoben wurden. Die Berichte, welche nichtarmenische Zeugen aus dem Innern bringen, sind so entsetzlich, daß man sie nicht niederschreiben kann. Nur der gegenwärtige Stand der armenisch-katholischen Kirche sei im folgenden angegeben.

3. Von 15 Diözesen haben 11 aufgehört zu existieren: Adana, Angora, Kaissarieh, Diarbekir, Erzerum, Kharput, Malatia, Mardin, Musch, Siwas, Trapezunt. Zwei Diözesen sind zum Teil vernichtet: Marasch und Aleppo. Intakt sind nur noch die Diözesen Konstantinopel und Brussa, obwohl auch diese teilweise Verluste zu erleiden hatten. So wurden z.B. in Ismidt die katholischen Armenier gleich den gregorianischen vertrieben, ihr Stadtteil niedergebrannt, ihre Güter veräußert, angeblich zu Gunsten der Vertriebenen, tatsächlich zur Bereicherung türkischer Beamter. Was die vernichteten Diözesen im besonderen angeht, so haben Diarbekir, Kharput, Malatia, Mardin, Musch und zum Teil auch Erzerum ihre Bewohner durch Metzeleien, die übrigen durch Deportation verloren.

4. Man könnte vermuten, daß Deportation eine mildere Strafform ist als Tötung. Tatsächlich unterscheidet sich aber erstere nicht viel von letzterer. Während nämlich bei den allgemeinen Massakres immer einige entkommen, sich verborgen halten, oder auf die Berge flüchtet, ist bei den Deportationen die Aussicht auf Lebenserhaltung sehr gering. Man treibt die Menschen wie Viehherden wochen- und monatelang ihrem Bestimmungsort entgegen, für die notwendige Nahrung ist nur in den seltensten Fällen gesorgt. So erliegen die Armen massenhaft dem Hunger und den Seuchen. Sind sie am Bestimmungsort angelangt, so ist auch dort ihres Bleibens nicht, man treibt sie an einen neuen Bestimmungsort und von diesem wieder an einen anderen, so daß sie nie zur Ruhe kommen. In anderen Fällen werden die Familien in türkischen Ortschaften zerstreut und, da die Männer gewöhnlich von den Frauen getrennt werden, sind letztere vollständig im Erwerb des Lebensunterhalts auf sich selbst angewiesen. Hunger und Drohungen treiben sie in die Hände der Türken. Die Kinder werden dann von selbst türkisch oder als sogenannten "Kriegswaisen" auf staatlichem Wege vertürkt.

5. [3.] Man hatte nach den Versprechungen, die die türkische Regierung dem apostolischen Delegaten gegenüber abgab, gehofft, daß der Rest der katholischen Armenier zurückkehren dürfe. Tatsächlich ist keiner von ihnen zurückgekehrt. Im Gegenteil. Nach zuverlässigen Nachrichten, die in diesen Tagen eingingen, geht man jetzt auch gegen die zurückgebliebenen Armenier in Marasch, Aintab und Aleppo vor.

Die Interessen der türkischen Regierung erfordern es, daß noch während des Krieges eine Reihe von Maßnahmen durchgeführt werden, welche gegenüber den Anklagen und Behauptungen der Ententepresse beruhigend wirken. Als solche Maßregeln zur sofortigen Durchführung werden vorgeschlagen:

1. Möglichkeit der direkten Annäherung an die Deportierten, und zwar nicht durch Privatpersonen, sondern durch eine Mission des Malteser-Ritterordens, die in Deutschland ausgerüstet wird und kostenlos arbeitet. Brot und andere nötige Subsistenzmittel werden durch diese Mission verteilt, aber von der deutschen oder türkischen Regierung geliefert.

2. Allmählicher Rücktransport der Deportierten und Neuansiedlung derselben, womöglich in der Nähe der Bahnlinien. damit sie einerseits besser überwacht, andererseits leichter versorgt werden können. Jedenfalls scheiden diejenigen Gegenden aus, die als zum Kriegsgebiet gehörend betrachtet werden. Die Ansiedlung darf sich indes nur auf Kleinasien und nicht auf Syrien und Arabien erstrecken. Die Ansiedlung erfolgt in geschlossenen Ortschaften. Die Regierung stellt den heimkehrenden Armeniern soviel und so gutes Land zur Verfügung, als sie vorher besessen haben. Für den Verlust der Wohnungen und Inventars sollen sie dadurch entschädigt werden, daß ihnen Baumaterial [Brennmaterial], Ackergeräte und Saatfrüchte gratis zur Verfügung gestellt wird. Der Rücktransport und die Ansiedlung erfolgen durch die Delegation des Malteser-Ritterordens.

3. Befriedigung der religiösen Bedürfnisse der Armenier. Es sind z. B. in Angora immer noch 2000 katholische Armenier ohne Bischof und Priester, obwohl schon vielfach Schritte unternommen wurden, ihnen einen Priester zu schicken. Die geschlossenen Kirchen müssen wieder geöffnet werden, das Kirchengut zurückgegeben und den Armeniern, die aus Angst zum Islam übergetreten sind, die Rückkehr zu ihrer Kirche nicht zur Unmöglichkeit gemacht werden.

4. Die städtischen Armenier dürfen in ihre Städte, soweit sie nicht Kriegsgebiet sind, zurückkehren.

5. Das Liquidationsgesetz wird suspendiert oder [findet] wenigstens auf diejenigen Armenier keine Anwendung, die zurückkehren.

6. Da die katholischen Armenier sich anerkanntermaßen von revolutionären Umtrieben fernhielten, sollen sie beim Rücktransport zuerst berücksichtigt werden.

7. Die türkische Regierung wird gebeten, den Patriarchen der katholischen Armenier, Msgr. Terzian, nach kirchlich-katholischen Prinzipien anzuerkennen.

Durch die Ausführung dieser Maßnahmen würde erreicht werden, daß die auch unter den Christen der Mittelmächte vorhandene Erregung abflauen [nachlassen] würde. Gerade der Malteserorden eignet sich sehr für die Durchführung dieser Maßnahmen. Die hierfür notwendigen Gelder müßten von der deutschen Regierung zu Lasten der türkischen zur Verfügung gestellt werden.

Diese Vorschläge sind von dem Bestreben diktiert, die Hindernisse, die der Erreichung der türkischen Kriegsziele im Wege liegen, zu beseitigen. Wir glauben auch allen berechtigten Ansprüchen der türkischen Regierung weitgehendst Rechnung zu tragen. Diese Vorschläge geben auf der anderen Seite den ausländischen und einheimischen Katholiken in der Türkei die Garantie für völlige Glaubensfreiheit.


Berlin, den 3. März 1916


Sehr geehrter Herr Baron,

in der Anlage überreiche ich Ihnen

1.) Die Abschrift des Briefes, den ich gestern an den Herrn Reichskanzler in Große Hauptquartier gesandt habe, betreffend den Vorschlag über den Erwerb des Coenaculums,

2.) den Entwurf zu der Denkschrift wie ich sie mir gedacht habe, um sie Enver Pascha und Talaat zu überreichen, dem letzteren in französischer Übersetzung. Ich werde diese Denkschrift am kommenden Montag in Köln mit Herrn Kardinal von Hartmann durchsprechen.

Sollten Sie irgendwelche Wünsche haben, betreffend Änderung, so wäre es mir angenehm, wenn Sie mir diese noch heute mitteilen ließen.

Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener


[M. Erzberger]
Anlage

Denkschrift über die Maßnahmen zugunsten der Christen in der Türkei.

III. Die Lage der katholischen Armenier.


1. Die katholischen Armenier, deren Zahl von einigen auf annähernd 100000 von anderen höher geschätzt wird, sind scharf zu unterscheiden von den sogenannten gregorianischen oder orthodoxen, wie von den protestantischen Armeniern. Sie stehen unter einem eignen Patriarchen, sind von der türkischen Regierung als Millet anerkannt und haben in nationaler Hinsicht nie Anlaß zur Beschwerde gegeben. Gerade ihre Abneigung gegen die nationalistischen Bestrebungen, die allgemein anerkannt ist, hat ihnen den besonderen Haß ihrer Volksgenossen zugezogen und namentlich ihrem Patriarchen, der die nationalistischen Umtriebe verbot, große Anfeindung eingetragen. Träger der national-armenischen Unabhängigkeitsidee waren die an Rußland sich anlehnenden orthodoxen Armenier, die die russischen Sendlinge unter sich duldeten und andererseits die in den amerikanischen Schulen großgezogenen Armenier, die mit der Religion der protestantisch-amerikanischen Missionare gewöhnlich auch deren demokratische Gesinnung annahmen, vielfach Reisen nach Amerika unternahmen und dann als "Aufklärer" zurückkehrten.

2. Trotz der loyalen Gesinnung der katholischen Armenier und trotz der Zusicherungen, die man ihnen gab, widerfuhr ihnen dasselbe Schicksal wie ihren Volksgenossen. Die Verluste an Menschenleben und Gütern sind bei ihnen relativ ebenso groß wie bei den anderen, nur der Unterschied wurde gewöhnlich gemacht, daß bei ihnen Exekution und Deportation um einige Tage oder Wochen aufgeschoben wurden. Die Berichte, welche nichtarmenische Zeugen aus dem Innern bringen, sind so entsetzlich, daß man sie nicht niederschreiben kann. Nur der gegenwärtige Stand der armenisch-katholischen Kirche sei im folgenden angegeben.

3. Von 15 Diözesen haben 11 aufgehört zu existieren: Adana, Angora, Kaissarieh, Diarbekir, Erzerum, Kharput, Malatia, Mardin, Musch, Siwas, Trapezunt. Zwei Diözesen sind zum Teil vernichtet: Marasch und Aleppo. Intakt sind nur noch die Diözesen Konstantinopel und Brussa, obwohl auch diese teilweise Verluste zu erleiden hatten. So wurden z.B. in Ismidt die katholischen Armenier gleich den gregorianischen vertrieben, ihr Stadtteil niedergebrannt, ihre Güter veräußert, angeblich zu Gunsten der Vertriebenen, tatsächlich zur Bereicherung türkischer Beamter. Was die vernichteten Diözesen im besonderen angeht, so haben Diarbekir, Kharput, Malatia, Mardin, Musch und zum Teil auch Erzerum ihre Bewohner durch Metzeleien, die übrigen durch Deportation verloren.

4. Man könnte vermuten, daß Deportation eine mildere Strafform ist als Tötung. Tatsächlich unterscheidet sich aber erstere nicht viel von letzterer. Während nämlich bei den allgemeinen Massakres immer einige entkommen, sich verborgen halten, oder auf die Berge flüchten, ist bei den Deportationen die Aussicht auf Lebenserhaltung sehr gering. Man treibt die Menschen wie Viehherden wochen- und monatelang ihrem Bestimmungsort entgegen, für die notwendige Nahrung ist nur in den seltensten Fällen gesorgt. So erliegen die Armen massenhaft dem Hunger und den Seuchen. Sind sie am Bestimmungsort angelangt, so ist auch dort ihres Bleibens nicht, man treibt sie an einen neuen Bestimmungsort und von diesem wieder an einen anderen, so daß sie nie zur Ruhe kommen. In anderen Fällen werden die Familien in türkischen Ortschaften zerstreut und, da die Männer gewöhnlich von den Frauen getrennt werden, sind letztere vollständig im Erwerb des Lebensunterhalts auf sich selbst angewiesen. Hunger und Drohungen treiben sie in die Hände der Türken. Die Kinder werden dann von selbst türkisch oder als sogenannte "Kriegswaisen" auf staatlichem Wege vertürkt.

5. Man hatte nach den Versprechungen, die die türkische Regierung dem apostolischen Delegaten gegenüber abgab, gehofft, daß der Rest der katholischen Armenier zurückkehren dürfe. Tatsächlich ist keiner von ihnen zurückgekehrt. Im Gegenteil. Nach zuverlässigen Nachrichten, die in diesen Tagen eingingen, geht man jetzt auch gegen die zurückgebliebenen Armenier in Marasch, Aintab und Aleppo vor.

Die Interessen der türkischen Regierung erfordern es, daß noch während des Krieges eine Reihe von Maßnahmen durchgeführt werden, welche gegenüber den Anklagen und Behauptungen der Ententepresse beruhigend wirken. Als solche Maßregeln zur sofortigen Durchführung werden vorgeschlagen:

1.) Möglichkeit der direkten Annäherung an die Deportierten und zwar nicht durch Privatpersonen, sondern durch eine Mission des Malteser-Ritterordens, die in Deutschland ausgerüstet wird und kostenlos arbeitet. Brot und andere nötige Subsistenzmittel werden durch diese Mission verteilt, aber von der deutschen oder türkischen Regierung geliefert.

2.) Allmählicher Rücktransport der Deportierten und Neuansiedlung derselben, womöglich in der Nähe der Bahnlinien, damit sie einerseits besser überwacht, andererseits leichter versorgt werden können. Jedenfalls scheiden diejenigen Gegenden aus, die als zum Kriegsgebiet gehörend betrachtet werden. Die Ansiedlung darf sich indes nur auf Kleinasien und nicht auf Syrien und Arabien erstrecken. Die Ansiedlung erfolgt in geschlossenen Ortschaften. Die Regierung stellt den heimkehrenden Armeniern soviel und so gutes Land zur Verfügung, als sie vorher besessen haben. Für den Verlust der Wohnungen und Inventars sollen sie dadurch entschädigt werden, daß ihnen Baumaterial, Ackergeräte und Saatfrüchte gratis zur Verfügung gestellt wird. Der Rücktransport und die Ansiedlung erfolgen durch die Delegation des Malteser-Ritterordens.

3.) Befriedigung der religiösen Bedürfnisse der Armenier. Es sind z.B. in Angora immer noch 2000 katholische Armenier ohne Bischof und Priester, obwohl schon vielfach Schritte unternommen wurden, ihnen einen Priester zu schicken. Die geschlossenen Kirchen müssen wieder geöffnet werden, das Kirchengut zurückgegeben und den Armeniern, die aus Angst zum Islam übergetreten sind, die Rückkehr zu ihrer Kirche nicht zur Unmöglichkeit gemacht werden.

4.) Die städtischen Armenier dürfen in ihre Städte, soweit sie nicht Kriegsgebiet sind, zurückkehren.

5.) Das Liquidationsgesetz wird suspendiert oder wenigstens für diejenigen Armenier keine Anwendung, die zurückkehren.

6.) Da die katholischen Armenier sich anerkanntermaßen von revolutionären Umtrieben fernhielten, sollen sie beim Rücktransport zuerst berücksichtigt werden.

7.) Die türkische Regierung wird gebeten, den Patriarchen der katholischen Armenier Mgr. Terzian nach kirchlich-katholischen Prinzipien anzuerkennen.

Durch die Ausführung dieser Maßnahmen würde erreicht werden, daß die auch unter den Christen der Mittelmächte vorhandene Erregung abflauen würde. Gerade der Malteser-Orden eignet sich sehr für die Durchführung dieser Maßnahmen. Die hierfür notwendigen Gelder müßten von der deutschen Regierung zu Lasten der türkischen zur Verfügung gestellt werden.

Diese Vorschläge sind von dem Bestreben diktiert, die Hindernisse, die der Erreichung der türkischen Kriegsziele im Wege liegen, zu beseitigen. Wir glauben auch allen berechtigten Ansprüchen der türkischen Regierung weitgehendst Rechnung zu tragen. Diese Vorschläge geben auf der anderen Seite den ausländischen und einheimischen Katholiken in der Türkei die Garantie für völlige Glaubensfreiheit.


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