1916-11-17-DE-001-V

DuA Dok. 307 (gk.)

Der Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Kühlmann) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Nr. 710

Pera, den 17. November 1916.

Euerer Exzellenz beehre ich mich in der Anlage Abschrift einer Aufzeichnung des Marschalls Liman von Sanders über die Armenierverschickungen in Smyrna vorzulegen. Wie daraus und auch aus dem nebenbezeichneten Bericht hervorgeht, sind die gegen die Armenier gerichteten Maßnahmen auf Anordnung aus Konstantinopel getroffen worden. Der Vorwand für die Verschickungen - das angebliche Auffinden von Bomben und Waffen auf einem armenischen Friedhof - gehört zu dem schon bekannten Inventar der türkischen Behörden an solchen Vorwänden. Das Eingreifen des Marschalls ist auch deshalb zu begrüßen, weil sich in Smyrna, wie dies auch an anderen Orten vorgekommen ist, das Gerücht verbreitet hatte, die deutschen militärischen Stellen hätten die Austreibung der Armenier verlangt. Ich werde nicht verfehlen, die türkische Regierung auf den Vorfall anzureden und ihr größte Vorsicht [Zurückhaltung] in der Behandlung der Armenierfrage zu empfehlen; von dem Vorschlag eines Abtransports nach Deutschland glaube ich aber Abstand nehmen zu sollen, um nicht das allzeit rege Mißtrauen der Türken wachzurufen.

Kühlmann.

Seiner Exzellenz dem Reichskanzler

Herrn von Bethmann Hollweg.


Anlage.

Militärmission.

Konstantinopel, den 17. November 1916.
Aufzeichnung für die Kaiserliche Botschaft.

Vom 4. bis 11. November war ich zur Besichtigung der neu formierten 56. Division und der nach dem europäischen Kriegsschauplatz abzutransportierenden 16. Division in Smyrna.

Am Donnerstag, den 9. November, gegen Abend, als ich von der Besichtigung der österreichischen Batterie bei Phokia zurückkehrte, wurde mir von Konsul Graf v. Spee mitgeteilt, daß am 8. und in der vergangenen Nacht zahlreiche Armenierverhaftungen in Smyrna stattgefunden hätten und daß diese Armenier mit der Eisenbahn in das Innere des Landes abtransportiert seien.

Ich zog an verschiedenen Stellen nähere Erkundigungen ein. Es wurde mir bestätigt, daß durch die Polizei - zum Teil in rohester Weise, indem alte Frauen und kranke Kinder in der Nacht aus den Betten geholt wurden - mehrere hundert Armenier verhaftet und direkt auf die Bahn gebracht worden seien. Zwei Eisenbahnzüge voll Armenier waren abtransportiert worden. - In der Stadt herrschte große Aufregung über diese Vorgänge.

Ich schickte am 10. November morgens den Chef des Stabes der V. Armee, Oberst Kiasim Bey, zum Wali und ließ ihm sagen, daß ich derartige Massenverhaftungen und Transporte, welche in einer vom Feinde bedrohten Stadt nach verschiedenen Richtungen in das militärische Gebiet eingriffen, nicht weiter dulden würde. Sollte die Polizei trotzdem mit diesen Maßnahmen fortfahren, so würde ich sie mit Waffengewalt durch die mir unterstehenden Truppen verhindern. Ich gab dem Wali bis zum Mittag dieses Tages Zeit, sich zu entscheiden.

Den Kommandierenden General in Smyrna, Königlich Preußischen Oberst Trommer, der die Vorgänge bereits kannte, verständigte ich durch Major Prigge von obiger Mitteilung und den eventuell zu treffenden Maßnahmen.

Gegen 1,30 Uhr nachmittags kam Major Kiasim Bey vom Wali, der in Burnabad war, zurück und meldete mir, daß die Verhaftungen und Transporte eingestellt worden seien und unterbleiben würden.

Am Nachmittag des Tages kam der erste Departementschef des Wali - Kara Biber Bey - zu mir, und hatte ich ausführliche Rücksprache über die Angelegenheit mit ihm.

Am selben Abend kamen 3 Griechen aus Urla bei Smyrna (ca. 25000 griechische Einwohner) zu mir und zeigten mir mit Bitte um Hilfe an, daß die 10 angesehensten und reichsten Notabeln in Urla durch 30 dorthin entsandte Gendarmen ohne Verhör verhaftet und in das Smyrnaer Gefängnis verbracht worden seien.

Am 11. November vormittags war ich zu Besichtigungen in Urla, fand die Tatsache bestätigt und erhielt vom Abschnittskommandeur nähere Meldung.

Am 11. November nachmittags suchte mich der Wali persönlich auf. In einer langen Rücksprache setzte mir der Wali die Gründe für die Massenverhaftungen der Armenier auseinander. Ich konnte diese Gründe, die auf ganz unzureichenden Grundlagen beruhten, nicht billigen und betonte, daß die militärische Lage die größte Ruhe in der zum größten Teil von Griechen bewohnten Stadt Smyrna unbedingt erfordere.

Der Vali teilte mir vertraulich mit, daß er die Maßregeln aus den vorher genannten Gründen in Übereinstimmung mit dem Minister Talaat Bey und anderen maßgebenden Persönlichkeiten (Komitee-Mitgliedern) getroffen habe.

Ich erklärte dem Wali, daß ich hier als Oberbefehlshaber in meinem Bezirk [Verschickungen] nicht dulden dürfe, ohne die Ruhe zu gefährden. Er könne sich auf mich berufen. Er sagte dies zu und versprach mir, schriftlich Nachricht zu geben.

Ebenso veranlaßte ich sofortige Untersuchung über die scheinbar unschuldig verhafteten Einwohner von Urla.

Am Abend reiste ich ab. Der Wali war an der Bahn.

Kurz nach meiner Rückkehr nach Panderma erhielt das Oberkommando Schreiben des Wali, worin mitgeteilt wurde, nach welchem Ort die Armenier verbracht worden seien, und in dem erklärt wurde, daß die unschuldig Befundenen nach Smyrna zurücktransportiert werden würden.


Liman von Sanders,

Königl. Preuß. General der Kavallerie.


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