1913-05-15-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R14079
Zentraljournal: 1913-A-10616
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 05/26/1913 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Bericht Nr. 25/J.Nr. Geh. 4
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/27/2012


Der Konsul in Trapezunt (Bergfeld) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



Bericht Nr. 25 / J.Nr. Geh. 4

Trapezunt, den 15. Mai 1913

Das wichtigste Ergebnis des Krieges der Türkei mit den Balkanstaaten für das Osmanenreich wird voraussichtlich der Verlust von Albanien und Mazedonien sein. Damit wird die Hohe Pforte der Sorge um diese beiden Landesteile, die ihr dauernd zu schaffen machten, enthoben sein, und sie wird ihre Aufmerksamkeit mehr als bisher ihren andern Provinzen zuwenden können. Dabei wird neben der syrischen Frage die Regelung der Verhältnisse in Ostanatolien die schwierigste Aufgabe bilden. Denn die Zwistigkeiten der Armenier und der Kurden haben während des Krieges, welcher die Aufmerksamkeit der türkischen Regierung ausschliesslich in Anspruch nahm, zugenommen. Andrerseits ist die für die Bevölkerung von Mazedonien und Albanien infolge des Wechsels der politischen Verhältnisse nach dem Friedensschluss erhoffte Besserung der Lage auf die Armenier nicht ohne Einfluss geblieben. Schon jetzt macht sich unter ihnen eine gewisse Missstimmung darüber geltend, dass die eventuelle Einführung von Reformen in den von ihnen bewohnten Provinzen nicht in das Programm der Botschafterbesprechungen in London aufgenommen worden ist. Unter diesen Umständen könnte eine weitere Behandlung des kurdischarmenischen Gegensatzes und seiner Begleiterscheinungen nach dem bisher beliebten dilatorischen Prinzip verhängnisvoll werden.

Es dürfte daher nicht uninteressant sein, die Lage in den Gebieten des östlichen Anatolien unter besonderer Berücksichtigung des armenischkurdischen Gegensatzes, ohne Rücksichtnahme auf die frühere Berichterstattung, zum Gegenstande einer zusammenfassenden Darlegung zu machen.

Der Begriff des östlichen Anatoliens in diesem Sinne fällt zusammen mit den von den Armeniern und Kurden bewohnten Provinzen Bitlis, Wan, Mamuret ul Aziz/Charput/ und Diabekir, wobei ihre Ansiedelungsgebiete mehrfach über die Grenzen der genannten Villayets herausgreifen und der Gegensatz zwischen den beiden Völkern auch auf die Nachbargebiete seinen Einfluss geltend macht.

Die Armenier zeichnen sich durch Verschlagenheit aus; auch ist ihnen eine gewisse Intelligenz nicht abzusprechen. Die Stadtbewohner haben fast alle eine für die obwaltenden Verhältnisse gute Schulbildung aufzuweisen. Dagegen bildet persönlicher Mut nicht ihre starke Seite. Im Gegensatz zu ihnen besitzen die armenischen Bergbewohner nur geringe Schulbildung, haben sich aber in den Kämpfen mit den Nachbarn einen gewissen Grad von Tapferkeit angeeignet. Stammeshauptmannschaften gibt es unter den Armeniern nicht. In den Dörfern werden sie in der Regel von den Geistlichen geführt, in den Städten haben einzelne Notabeln die Leitung ihrer Glaubensgenossen. Als politische Gesammtvereinigungen besitzen sie die beiden Klubs Daschnakzoutioun und Hinschaghian, die unter dem alten Regime als geheime Vereinigungen gegründet worden sind. Unter ihnen nimmt der Erstere eine vorherrschende Stellung ein. Sein Zentralsitz war ursprünglich im Kaukasus. Vor einigen Jahren ist er wegen der Verfolgungen, denen die Armenier in Russland ausgesetzt sind, nach Genf verlegt worden. In den Städten und Dörfern bestehen Unterkomitees.

Die Kurden sind intelligent, tapfer und gelten für vorzügliche Schützen. Der ausserordentlich gebirgige Charakter der von ihnen bewohnten Gebiete und der Mangel an fahrbaren Strassen hat sie bisher von der Aussenwelt fast vollkommen abgeschlossen. Sie leben daher heute noch unter denselben Verhältnissen und in denselben Anschauungen, wie vor Jahrhunderten. Das Feudalsystem steht bei ihnen in voller Blüte und ihre Fürsten herrschen mit unumschränkter Gewalt. Die grössten Tribus werden von den Kurden von Dersim und den Milli Kurden, in der Gegend von Diabekir, gebildet. Sultan Abdul Hamid errichtete die unregelmässigen kurdischen, sog. HamidieRegimenter, wobei die Offiziersstellen den Kurdenchefs übertragen wurden. Durch diese Verleihung von Kommandogewalt wurde das Ansehen der Kurdenfürsten bei ihren Vasallen erheblich verstärkt. Eine gemeinsame Organisation aller Kurden fehlt. Es dürfte auch schwer fallen, eine solche zu schaffen. Denn Stammesfehden der verschiedenen Kurdenstämme unter einander waren und sind seit jeher an der Tagesordnung.

Der Regierung Abdul Hamids gelang es nicht, diesen Kämpfen ein Ende zu machen. Es fehlte ihr hierzu an der erforderlichen Kraft, vielleicht auch dem guten Willen. So herrschten dauernde Fehden unter den Kurdenstämmen, die Plünderungen und Grausamkeiten auch gegenüber den im kurdischen Gebiet wohnenden Armeniern im Gefolge hatten. Diese suchten sich und ihr Eigentum dadurch zu schützen, dass sie sich als Vasallen unter den Schutz eines Kurdenfürsten stellten. Aber ihre Lage wurde hierdurch kaum gebessert. Ihre Lehnherren erhoben von ihnen drückende Abgaben, und in den kurdischen Stammesfehden bildeten sie wegen ihrer verhältnismässigen Wohlhabenheit die Hauptopfer der Beutelust der feindlichen Stämme. Die Landesbehörden schlossen diesem Treiben gegenüber beide Augen. Sie wussten, dass ein Wandel der Verhältnisse in Konstantinopel kaum gewünscht wurde. Sie nutzten daher die Lage in ihrer Weise aus und liessen sich ihr Schweigen von den Kurden bezahlen. Daraus entwickelte ein System der Ermutigung der Kurden zu Übergriffen gegen die Armenier und der Teilung der Beute zwischen ihren Führern und den Beamten. Selbst das Palais von Yyldyz Kiosk erwartete und erhielt regelmässig nicht unbedeutende Geschenke der Kurdenfürsten. Um den dadurch geschaffenen und fast unerträglich gewordenen Verhältnissen zu entgehen, wanderten zahlreiche armenische Familien aus, wobei sie ihre Ländereien im Stiche liessen, oder weit unter dem Werte an die Kurden verkauften.

Das neue Regime in der Türkei bemühte sich zunächst den Räubereien der Kurden ein Ziel zu setzen. Eine ihrer Hauptfesten, Viran Schehir, wurde eingeäschert, wobei der Führer der genannten Milli-Kurden, Ibrahim Pascha, welcher wegen seiner zahlreichen Raubzüge zu einer traurigen Berühmtheit gelangt ist, fiel. Seine Söhne wurden mit Ausnahme des Jüngsten verhaftet. Dasselbe Schicksal ereilte die übrigen Hauptführer. Die Kurdenstämmme verhielten sich diesen Massnahmen gegenüber zunächst ruhig. Aber bereits im Sommer des Jahres 1910 machte sich unter ihnen eine neue Bewegung bemerkbar. Von interessierter Seite, sei es von russischen Emissären, sei es von den türkischen Gegnern des Komitees "Einheit und Fortschritt", wurden sie darauf hingewiesen, dass das Vorgehen der neuen Regierung eine Ungerechtigkeit bedeute, da ihre Führer nur den Weisungen der früheren Beamten gefolgt seien und mit ihnen die Beute ihrer Streifzüge hätten teilen müssen. Die dadurch geschaffene Lage wurde durch die leidige Grundstücksangelegenheit für die türkische Regierung schwieriger gestaltet. Denn nach der Wiedereinführung der Verfassung sind viele der seinerzeit ausgewanderten armenischen Familien in ihre alte Heimat zurückgekehrt und verlangen wieder in den Besitz ihrer inzwischen in kurdische Hände übergegangenen Grundstücke gesetzt zu werden. Sie berufen sich bei ihren Ansprüchen darauf, dass sie infolge der oben geschilderten Verhältnisse, für welche die Verantwortung der früheren Regierung zugeschrieben werden müsse, ihre Ländereien verloren hätten. Sie werden in ihren Forderungen von dem armenischen Patriarchat in Konstantinopel und von den armenischen Abgeordneten unterstützt. Andrerseits berufen sich die Kurden darauf, dass sie die strittigen Ländereien im Wege des regelmässigen Kaufs erworben, oder aber entsprechend den Bestimmungen der türkischen Grundgesetzgebung durch dreijährige Bebauung ersessen hätten. Den Behauptungen beider Parteien ist eine Berechtigung nicht abzusprechen, und es dürfte der Regierung nicht leicht werden, hier einen den Wünschen der beiden sich gegenüber stehenden Interessengruppen und der Billigkeit entsprechenden Ausgleich zu finden.

Die türkische Regierung scheint sich der Schwierigkeit der Lage bewusst zu sein. Aber sie hat bisher nie den Versuch gemacht, an die Regelung der Frage ernstlich heranzutreten. Sie hat sich vielmehr darauf beschränkt, durch Versprechungen und Verheissungen von Reformen Zeit zu gewinnen. In der Kammersitzung vom 8. Dezember 1910 erkannte der Grossvezir Hakki Pascha ausdrücklich an, dass die bisherigen Massregeln sich als nicht ausreichend erwiesen hätten, um den Streit zu schlichten, der zwischen den aus der Verbannung heimkehrenden Armeniern und den jetzigen Inhabern der Ländereien ausgebrochen sei. Gleichzeitig hat Hakki Pascha die Vorlegung eines besonderen Gesetzes über die Einwanderung, durch welches die Frage ihrer Lösung entgegen geführt werden sollte, in Aussicht gestellt. Etwa um dieselbe Zeit verlautete, dass der Minister des Innern eine Informationsreise nach Ostanatolien unternehmen werde, um sich aus eigner Anschauung ein Urteil über die dortige Lage zu bilden. Aber sie unterblieb, und der in Aussicht gestellte Gesetzentwurf zur Regelung der Grundbesitzfrage ist der Kammer nie vorgelegt worden.

Ebenso schwankend war das Verhalten der türkischen Regierung gegenüber den gefangen gesetzten Kurdenfürsten. Sie wurden zunächst von dem Gericht in Diabekir zum Tode verurteilt. Danach wurden sie zur nochmaligen Aburteilung nach Trapezunt transportiert und schliesslich nach längerer Gefangenhaltung in dem hiesigen Gefängnis nach Konstantinopel überführt, wo sie heute noch zurück gehalten werden. Bei dieser unentschlossenen Haltung der Zentralregierung nimmt es Wunder, dass auch die Lokalbehörden ihre Stellung gegenüber den Armeniern und Kurden kaum einer Revision unterzogen haben. Wohl versuchte die Hohe Pforte einige Valiposten mit energischen und rechtschaffen denkenden Personen zu besetzen. Aber gerade hier machte sich der Hauptfehler der jungtürkischen Regierung, die Beeinflussung der Verwaltungsmassregeln durch die Rücksichten der Parteipolitik in verhängnisvoller Weise bemerkbar. Aus Furcht, bei den Wahlen zum Parlament die Stimmen der Massen zu verlieren und dadurch Parteisitze einzubüssen, konnte sich das neue Regime nie zu energischen Massregeln gegenüber den untersten Schichten der Bevölkerung entschliessen, deren Köpfe durch die vollkommen missverstandenen Begriffe von Freiheit usw. arg in Verwirrung geraten sind. Wenn diese Schwäche in andern Teilen der Türkei zu einer von dem Rest der Bevölkerung übel empfundenen Willkürherrschaft der in Zünften organisierten Lastträger, Mahonen und Barkenführer, Kutscher usw. führte, so musste sie im östlichen Anatolien notgedrungen eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen der allgemeinen Unsicherheit zur Folge haben. So ist es der türkischen Regierung bisher nicht gelungen, ihren Willen in Ostanatolien ausnahmslos zur Geltung zu bringen.

Den Kurden fehlt jede Vorstellung von der Bedeutung des Begriffs der Verfassung. Für sie war nur der Umstand, dass ihre Wiedereinführung den Sturz ihres Schutzherrn Abdul Hamid herbeiführte, unter dessen Regierung sie eine Strafe für ihre Freveltaten nicht zu gewärtigen hatten und der ihren Fürsten Ordensauszeichnungen und militärische Sinekuren in den HamidieRegimentern verlieh, in die Augen springend. Sie schlossen daraus zunächst, dass das neue Regime die Kraft besässe, ihren Gewalttaten ein Ziel zu setzen, und verhielten sich daher ruhig. Doch liess sie die Schwäche der Regierung in Konstantinopel und Ostanatolien in ihnen bald den Glauben aufkommen, dass sie sich in der Ansicht über das neue Regime getäuscht hätten und dass sie ihr bisheriges Leben der Unbotmässigkeit und der Räubereien ungestraft fortsetzen könnten. Der Gegensatz zwischen den Armeniern und Kurden, welcher durch die erwähnte Grundstücksfrage noch vertieft worden ist, fand in neuen Übergriffen und Morden neuen Ausdruck, und die Lage verschärfte sich immer mehr. Im April 1911 musste schliesslich Militär mit Artillerie gegen die Kurden von Dersim entsandt werden. Aber auch diesmal wurde die Expedition abgebrochen, ohne dass es zu einer tatkräftigen Aktion gekommen wäre.

Die Armenier empfinden die Haltung der Regierung als Gleichgültigkeit gegenüber ihren Leiden. Einige gehen sogar so weit, zu behaupten, dem jungtürkischen Komitee sei bei seinem übertriebenen osmanischen Nationalismus und mohamedanischem Fanatismus eine Vertreibung oder Ausrottung der Armenier durch die Kurden nicht unwillkommen. Gleichwohl sind sie einer Selbsthilfe abgeneigt. Wenn ihre geheime Ausrüstung mit Waffen im Laufe der letzten Monate unverkennbar Fortschritte gemacht hat, so ist das meines gehorsamen Erachtens mehr als ein Akt erhöhter Vorsicht aufzufassen, um im Falle der Not besser gerüstet zu sein, als es bisher der Fall war. Nach der Behandlung der Glaubensgenossen in Russland erhoffen die Armenier von einem Anschluss an den östlichen Nachbarn keine Besserung und erstreben diesen daher nicht an. Ebensowenig wünschen sie die Bildung eines selbständigen Staates. Denn sie befürchten, dass dieser doch schliesslich eine Beute Russlands werde, wie es dessen Gewohnheit sei, schwächere Nachbarn zu unterwerfen. Sie erhoffen vielmehr eine Besserung ihrer Lage von der Einführung von Reformen und rechnen dabei auf eine Einwirkung der europäischen Mächte bei der Hohen Pforte zu ihren Gunsten, wobei behauptet wird, dass Deutschland ihnen ein besonderes Interesse entgegen bringt. Allerdings verstehen sie unter Reformen eine ausgedehnte Selbstverwaltung unter der Oberhoheit der türkischen Regierung. Sie verlangen Wahl und Ernennung aller Verwaltungsbeamten durch die Vertretungen der Bevölkerung, wobei auch Ausländer berücksichtigt werden können. Desgleichen sollen die armenischen Provinzen in finanzieller Hinsicht unabhängig sein. Nur die Einnahmen aus den Zöllen, Posten und Telegraphen sollen in die türkische Staatskasse fliessen. Alle übrigen Einkünfte sollen der Befriedigung der lokalen Bedürfnisse vorbehalten bleiben. Als Verwaltungssprache wird das Türkische beibehalten. Indessen wird von den Beamten verlangt, dass sie auch des Armenischen mächtig sind.

Die türkische Regierung hat in den letzten Tagen einige Hundert modern ausgebildeter Gendarmen, welche nach der Besetzung von Mazedonien durch die Heere der Balkanstaaten frei geworden sind, nach Ostanatolien geschickt. Eine Kommission von Offizieren, denen der in den Diensten der türkischen Gendarmerie stehende französische Hauptmann Ancheri beigegeben worden ist, wird in den nächsten Tagen folgen. Ob damit ein nennenswerter Erfolg erzielt werden wird, bleibt abzuwarten. Die Hauptsache ist, dass die türkische Regierung unter Ausschaltung jeglichen Parteiinteresses endlich den Kurden gegenüber die notwendige Energie zeigt, die Posten der Vali in den fraglichen Provinzen mit energischen und gerechten Beamten besetzt, und ihnen die erforderlichen Vollmachten gibt, um von den ihnen untergeordneten Verwaltungsorganen Gehorsam zu erzwingen. Solange jeder Beamter vor der Durchführung einer Massregel, welche er zur Aufrechthaltung der Ordnung für notwendig erachtet, sich fragen muss, ob dadurch auch ein einflussreiches Mitglied der Vereinigung "Einheit und Fortschritt" geschädigt werden könnte, und solange jeder Beamter seinem Vorgesetzten den Gehorsam verweigern kann, sofern er nur bessere Verbindung mit dem Komitee zu unterhalten versteht, als jener, ist an eine nennenswerte Besserung der Verhältnisse im östlichen Anatolien noch viel weniger zu denken, als in den übrigen Teilen der Türkei.

Vielfach wird behauptet, dass Russland bei der neuerlichen Entwicklung im östlichen Anatolien seine Hände stark im Spiele hat. Es lässt sich nicht bestreiten, dass manche Umstände für diese Behauptung sprechen. Bereits im Vertrage von St. Stefano hatte Russland sich die Abtretung der Bezirke von Alaschgerd und Bajezid ausbedungen. Dadurch würde es den Transitverkehr nach Persien über Trapezunt und damit den gesammten europäischen Handelsverkehr mit dem westlichen Persien unter seine Kontrolle bekommen haben. Aus diesem Grunde wurde die Bestimmung auf Betreiben des damals an dem persischen Durchgangsverkehr in erster Linie beteiligten England im Berliner Vertrag wieder aufgehoben, und das Gebiet von AlaschgerdBajezid verblieb der Türkei. Äusserungen von Beamten des russischen Konsulardienstes in der Türkei und Persien bestätigen mir, dass man in amtlichen russischen Kreisen den Plan einer Berichtigung der türkisch russischen Grenze im Sinne des Vertrages von St. Stefano nicht aus dem Auge verloren hat. Ob Russland daneben noch Absichten auf weiteres türkisches Gebiet hegt, mag dahin gestellt bleiben. Indessen dürften die tatsächliche Regelung der persischen Frage und das Bedürfnis nach einer Konsolidierung der innerpolitischen Lage in den russischen Kaukasusprovinzen die Regierung in Petersburg zwingen ihre etwaigen Pläne auf das östliche Anatolien zunächst zurückzustellen. Meines gehorsamen Erachtens steht daher ein militärisches Vorgehen Russlands vor Ablauf von etwa 10 15 Jahren nicht zu erwarten, sofern nicht ausserordentliche Ereignisse einen Wechsel der gesamten Lage herbeiführen. Die Tatsachen beweisen, dass die im Frühling des Jahres 1911 an der russische türkischen Grenze getroffenen militärischen Massnahmen Russlands nicht auf ein unmittelbares Vorgehen gegen den Nachbarn abzielten, sondern nur dem Zweck dienten, die Hohe Pforte durch Ausübung eines militärischen Druckes zur Räumung des von ihr besetzten persischen Gebiets zu veranlassen.

Andrerseits kann die Herstellung geordneter Verhältnisse im östlichen Anatolien, die ein späteres Vorgehen Russlands erschweren würde, nicht in seinem Interesse liegen, und fraglos machen sich bei der jetzt eingetretenen Verschlechterung der Lage russische Einflüsse geltend. Ihre Bedeutung wird indessen vielfach übertrieben. Bestimmte Tatsachen in dieser Beziehung haben sich bisher nicht feststellen lassen. Stets wenn einer ähnlichen Behauptung nachgegangen wurde, stellte sich heraus, dass es sich um russische Einwirkung auf die in Persien wohnenden Kurden handelte. Dass diese Beziehungen auf die türkischen Kurden nicht ohne Rückwirkung bleiben, liegt auf der Hand. Auch stehen den russischen Konsuln in Ostanatolien erhebliche geheime Fonds zur Verfügung. Die Summen belaufen sich für den Konsul in Trapezunt und für den gleichfalls dauernd in Trapezunt wohnenden Vizekonsul Rize auf je 40000 Franken jährlich. So werden von russischer Seite an regelmässigen Geldern in Trapezunt jährlich 80000 Franken zu Informations und Propagandazwecken verausgabt, ungerechnet die aus besonderen Anlässen gezahlten Summen. Die darin liegende Bedeutung für den russischen Informationsdienst und für die Ausbreitung des russischen Einfl ist nicht zu unterschätzen.

Einen gleichlautenden Bericht habe ich der Kaiserlichen Botschaft in Konstantinopel erstattet.


Bergfeld


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