1913-07-22-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R 14080
Zentraljournal: 1913-A-15416
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Praesentatsdatum: 07/29/1913 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Botschafter in Konstantinopel (Wangenheim) an den Staatssekretär im Auswärtigen Amt (Jagow)

Privatschreiben


Therapia, den 22. Juli 1913.

Abchrift

Lieber Herr von Jagow.

Zwischen unserer türkischen Politik und derjenigen der hiesigen russischen Botschaft gibt es keine Brücke. Der Gegensatz existiert, seitdem wir angefangen haben, uns eine "Arbeitszone" in Kleinasien zu begründen. Er war schon unter Marschall so prononciert, daß kaum ein gesellschaftlicher Verkehr zwischen den beiden Botschaften möglich war. Bei Übernahme des Postens riet mir Marschall, meine Beziehungen zu Giers auf das äußerst Notwendige zu beschränken. Ich habe diesen Rat nicht befolgt, sondern versucht, mich wenigstens sozial Herrn von Giers zu nähern. Dieser wollte daraus sofort eine politische Annäherung machen mit dem erkennbaren Zwecke, mich von Pallavicini zu trennen. Der Balkankrieg hat dann einen Graben zwischen Giers und mir gezogen, der durch die Armenierfrage noch verbreitert worden ist. Giers schreibt sich ein Verdienst an der Begründung des Balkanbundes zu und an dem Zusammenbruch der europäischen Türkei. Jetzt benützt er die Armenierfrage, um den Untergang auch der kleinasiatischen Türkei vorzubereiten. Da wir letztere erhalten wollen, besteht zwischen mir und der russischen Botschaft ein Kriegszustand. Unterstützt vom Bompard bemüht sich Giers, mir die Erfüllung meiner Aufgaben zu erschweren. Dafür bekämpfe ich ihn jetzt in der Armenierfrage. Die Türken wissen, dass ich in dieser Sache auf ihrer Seite stehe; dass sie dies bisweilen dem Russen gegenüber verwerten, ist selbstverständlich und unvermeidbar. Meine Dreibundkollegen suche ich fest an der Strippe zu halten. Die Italiener unterhalten hier immer einen geheimen Flirt mit den Russen. Ich bezweifle nicht, dass sie ihre Stellung zum Projekt Mandelstam mit dem Hinweis auf den deutschen "auch Italien verpflichtenden" Widerstand zu entschuldigen versuchen. Den direkten Anlass zur Giers'schen Beschwerde scheint mir aber die Haltung der Armenier selbst gegeben zu haben. In den letzten Wochen erhielt ich wiederholt Besuche von Führern der armenischen Bewegung, die mich dazu bewegen wollten, für das Mandelstamsche Projekt zu stimmen. Von einigen dieser Herren weiss ich sicher, dass sie vom russischen Botschafter zu mir geschickt waren. Ich habe die Abgesandten nicht darüber im Zweifel gelassen, dass ich das russische Projekt als eine Gefahr für die Türkei und deshalb als unannehmbar für eine an dem Fortbestande der Türkei interessierte Macht ansehe. Ich habe den Armeniern ferner gesagt, sie handelten töricht, wenn sie sich für eine wahrscheinlich unrealisierbare lex ferenda einsetzten, anstatt darauf zu dringen, dass die lex lata, das heisst die türkischen Reformen unter der Kontrolle der Mächte, so rasch wie möglich verwirklicht würden. Ein Sperling in der Hand sei besser als eine Taube auf dem Dache. Genau ebenso sind die Armenier von Pallavicini beschieden worden. Die Folge ist, dass jetzt im Lager der Armenier Zweifel entstanden sind, ob man durch Russland in der Sache richtig geführt werde. Alles dies ist Herrn von Giers bekannt geworden.

Quoad Armenier, werden wir demnächst vor die Frage gestellt werden, was geschehen soll, wenn das Projekt Mandelstam fällt, und falls Russland dann boudiert. Pallavicini und ich sind der Meinung (Garroni wird uns ohne weiteres folgen), daß dann unsererseits etwas geschehen muss, damit keine Massakres stattfinden, und damit wir nicht die Verantwortung für das Scheitern der Reformen den Armeniern gegenüber zu tragen haben. Halten Sie es für opportun, daß dann der Dreibund die Sache in die Hand nimmt und dafür eintritt, daß die Pforte zur Durchführung der Reformen angehalten wird und daß der Türkei die unerläßliche Unterstützung durch fremde Instrukteure gewährt wird? England könnte sich der Anregung wohl anschliessen, nachdem es bisher so bundestreu für Mandelstam eingetreten ist. Die Aussicht, dass der Dreibund die Reformer stellen könnte, würde die Entente vielleicht dazu bringen, sich auf den Boden des türkischen Projekts zu stellen.


Wangenheim



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