1914-02-09-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 14083
Zentraljournal: 1914-A-02968
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Praesentatsdatum: 02/13/1914 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 58
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Geschäftsträger der Botschaft Konstantinopel (Mutius) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Pera, den 9. Februar 1914

Gestern ist endlich durch Nachgeben der Petersburger Regierung eine Einigung zwischen Rußland und der Pforte über die in Ostanatolien einzuführenden Reformen erreicht worden. Der Großwesir wird nunmehr offiziös die Mächte bitten, ihm Generalinspekteure vorzuschlagen. Wenn die Pforte dann unter den vorgeschlagenen Männern ihre Wahl getroffen haben wird, so wird der Großwesir deren Ernennung durch die im Entwurf beigefügte Note, welche mir mein russischer Kollege übermittelt hat, zur Kenntnis der Mächte bringen.

Um den Text dieser Note, in der nun schließlich doch alle Punkte zusammengefaßt worden sind, ist in den letzten Wochen in wahrhaft orientalischem Geiste von beiden Seiten verhandelt werden. Rußland hatte ebensowenig ein klares Minimalprogramm wie die Pforte; die Verhandelnden wechselten immer wieder ihren Standpunkt und servierten sich tropfenweise gegenseitig ihre Wünsche und Bedenken. Es war das richtige bazarlik. Mit Herrn von Giers ständen wir gewiß noch lange nicht am Ende der Verhandlungen. Es ist meines Erachtens wesentlich der viel gewandteren und biegsameren Art des russischen Geschäftsträgers Gulkewitsch den Türken gegenüber und seiner viel bestimmteren Sprache nach Petersburg hin zu danken, wenn heute die Einigung erreicht ist.

Das Dokument, welches als die Frucht dieser Bemühungen erscheint, hat indessen meines Erachtens keine so große praktische Bedeutung, wie man nach den beiderseitigen Anstrengungen annehmen sollte.

Es enthält vielfach auch in der Form bloße Wünsche, nicht bindende Verpflichtungen. Ob alles, was darin steht, ausführbar sein wird, kann man zudem bezweifeln. Das praktisch Wesentliche war erreicht, als die Pforte sich zur Bestellung zweier europäischer Generalinspekteure mit ernsthaften Kontroll- und Verwaltungsbefugnissen entschlossen hatte. Rußlands Bestreben nach allerhand Detailbestimmungen erklärt sich einerseits wohl daraus, daß man den Armeniern eine möglichst große Liste erreichter Vorteile präsentieren, andererseits Stoff zu Armenierkonversationen mit der Pforte auch nach der Bestellung der Generalinspekteure sich vorbehalten wollte. Es ist den türkischen Unterhändlern indessen doch gelungen, die schärfsten Widerhaken zu entfernen oder wenigstens abzuschleifen.

Der Großwesir legt, wie er mir neulich aussprach, mit Recht nunmehr den größten Wert auf die Wahl der Personen, welche Generalinspekteure werden sollen. Er hoffe, daß ihm fähige und charakterfeste Männer vorgeschlagen würden, welche sich zu keinerlei politischen Intrigen hergeben würden.

Wenn man die Stärke des fordernden Rußland mit der gegenwärtigen Schwäche der Türkei und andererseits das Mandelstamsche Projekt mit dem erreichten Resultat vergleicht, so muß man sagen, daß die Pforte einen bemerkenswerten diplomatischen Erfolg davongetragen hat, der geeignet ist, dem gegenwärtigen Regime überall in Europa Kredit zu verschaffen. Fast noch höher als die feste Haltung Rußland gegenüber ist die Selbstüberwindung zu bewerten, die die Pforte in dieser Frage an den Tag gelegt hat. Bei dem unausrottbaren Mißtrauen Rußland gegenüber und bei der bedrohten Stellung der Regierung im Innern muß es als eine wirkliche Tat angesehen werden, daß es gelungen ist, einen so versöhnlichen Abschluß der Verhandlungen zu erzielen.

Alles dies wäre nicht erfolgt ohne die Vermittelung Deutschlands. Die Vertrauensstellung, welche sich Freiherr von Wangenheim bei der Pforte, speziell bei dem Großwesir, erworben hat, hat es ihm ermöglicht, die türkische Politik in dieser Frage in eine Richtung zu lenken, welche gleichzeitig dem wohlverstandenen Interesse der Türkei, Deutschlands und den deutsch-russischen Beziehungen förderlich sein muß. Die Türkei ist mit einem gewissen politisch-moralischen Erfolg aus ihrer Bedrängnis hervorgegangen. Andererseits ist auch für die in unserer Arbeitszone so wichtigen Armenier eine Besserung ihrer Existenzbedingungen erreicht. Schließlich kann es mit Rücksicht auf die ungewisse Zukunft der Türkei doch nur als ein erfreuliches Symptom und als erwünschter Präzedenzfall angesehen werden, daß ein deutsch-russisches Zusammenarbeiten in einer wichtigen Frage der Orientpolitik zu einem positiven Resultat geführt hat.

Ob man von russischer Seite unserer Mitarbeit den verdienten Dank entgegenbringen wird, erscheint mir allerdings zweifelhaft. Aber immerhin läßt sich auch vom russischen Standpunkt die Einigung mit der Türkei als ein Erfolg buchen. Bei guten Geschäften können eben alle Teile ihren Vorteil finden.


Mutius


Wortlaut des Originals in: Les Réformes en Arménie; A. Mandelstam, Le Sort de l'Empire Ottoman; deutsche Übersetzung in Djemal Pascha: Erinnerungen eines türkischen Staatsmannes



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