1914-04-04-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R 14084
Zentraljournal: 1914-A-07148
Erste Internetveröffentlichung: 2017 November
Edition: Armenische Reformen
Praesentatsdatum: 04/11/1914 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Bericht Nr 47/J.Nr.Geh. 17
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Konsul in Trapezunt (Bergfeld) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



Bericht Nr. 49.

J.Nr. Geh. 47


Trapezunt, den 4. April 1914

Seit einigen Wochen verlautet, dass sich unter den Kurden des Bezirks von Bitlis eine vermehrte Bewegung bemerkbar macht. Indessen lagen bestimmte Tatsachen nicht vor. Es scheint sich vielmehr nur um eine verstärkte Erregung gehandelt zu haben, wie sie in jedem Jahr mit Beginn des Frühlings sich unter den Kurden zeigt. Die Erfahrung der letzten Jahre hat erwiesen, dass die Kurden um diese Jahreszeit , wenn mit der Schneeschmelze der Verkehr der Dörfer unter einander sich wieder einfacher gestaltet, zu besonderer Unbotsmässigkeit neigen. Die Regierung hätte auf diesen Umstand Rücksicht nehmen sollen. Bedauerlicherweise ist dies nicht geschehen.

Am 1. d.M. wurden einige Gernsdarmen von Bitlis ausgesandt, um einen Kurdenfürsten, namens Selim, zu verhaften und zur Stadt zu führen. Der erste Teil ihrer Aufgabe gelang ihnen. Aber während der Rückkehr nach Bitlis wurden sie überfallen und Selim befreit. Fünfzig am folgenden Tag unter Führung eines Offiziers gegen ihn aufgebotene Gensdarmen wurden geschlagen und in die Stadt zurückgeworfen. Es kam hier zu einem erbitterten Strassenkampf. Schliesslich wurden die Angreifer wieder aus der Stadt herausgedrängt. Während des Kampfes soll sich Selim, anscheinend von den Türken hart bedrängt, auf das russische Konsulat geflüchtet haben. Die Kurden sind durch den Ausgang des Strassenkampfes keineswegs entmutigt. Sie halten vielmehr die Stadt eingeschlossen. In Bitlis befinden sich an Militär und Gensdarmerie etwa 500 Mann. Die Anzahl der beteiligten Kurden wird von türkischer Seit auf 1000, von privater Seite auf 5000 Mann angegeben. Nach meinen Informationen dürfte die Bewegung bislang etwa 3000 Kurden erfasst haben, wovon einige Hundert im Kampf geblieben oder momentan aktionsunfähig gemacht worden sind.

Türkisches Militär ist von Erzerum, Wan und Musch nach Bitlis unterwegs.

Hier wird behauptet, dass der jetzige Aufstand ein Werk Russlands sei, welches einen Grund zur Intervention und Okkupation Ostanatoliens suche. Diese Auffassung ist meines gehorsamen Erachtens irrig. Ich möchte vielmehr annehmen, dass die Regierung in Petersburg durch die innere Lage , durch die persische Frage u.a. vollkommen in Anspruch genommen, zurzeit ein unmittelbares Vorgehen in Kurdistan nicht beabsichtigt. Andererseits hat das Petersburger Kabinett alles Interesse, ein Besserung der Verhältnisse und eine praktische Durchführung der Reformen nach Möglichkeit zu hintertreiben, damit ihm Ostanatolien später bei der Verwirklichung seiner uferlosen Ausdehnungspläne als reife Frucht in den Schoss fällt. Russland ist daher unter den Kurden stark agitatorisch tätig. Liberale und Reaktionäre wirken in demselben Sinne, um der jungtürkischen Regierung Schwierigkeiten zu bereiten. Die Verhandlungen über die Reformen, durch deren Einführung die Stellung der Kurden eine erhebliche Einbusse erleiden wird, gab einen erwünschten Agitationsstoff. Er verfehlte seine Wirkung nicht und brachte die Kurden in eine stärkere Erregung, welche durch das türkische Vorgehen gegen Selim mit völlig unzureichenden Kräften aufgelöst wurde. Lediglich hierin liegt meines Erachtens die grössere Ausdehnung der diesjährigen Bewegung.

Bisher ist es noch nie gelungen, einen Zusammenschluss aller Kurden herbeizuführen Die hierauf abzielenden Bemühungen scheiterten stets an den alten Streitigkeit der verschiedenen Kurdenstämme unter einander. So werden sich auch diesmal die Kurden vor der türkischen Übermacht voraussichtlich in ihre Berge zurückziehen und damit wird die Bewegung, wie die früheren, ihr Ende erreichen.

Sollte der Aufstand wider Erwarten, vielleicht durch den Zuzug von Kurden aus Nordpersien einen grösseren Umfang annehmen und der Regierung in Petersburg über den Kopf wachsen, so dürfte sich zeigen, dass sich das russische Kabinett mit seinem Doppelspiel des theoretischen Eintretens für die armenischen Interessen und der tatsächlichen Unterstützung der Kurden zwischen sämtliche verfügbaren Stühle gesetzt hat. Die Blicke Ostanatolien würden sich dann nach Russland wenden. Die Kurden würden Unterstützung gegen die Türken, die Armenier Hilfe gegen die Kurden erwarten. Ein Neutralbleiben würde beide enttäuschen, das Eintreten für die Kurden würden die russischen Armenier übel nehmen und ein Einschreiten gegen die Kurden könnte auf die Verhältnisse in Nordpersien nicht ohne Einfluss bleiben. Auch aus diesem Grund kann eine starke Zuspitzung der Lage in Ostanatolien der russischen Regierung zurzeit nicht genehm sein.


Bergfeld



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