1914-07-24-DK-001
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Quelle: DK/RA-UM/Gruppeordnede sager 1909-1945. 139. D. 1, ”Tyrkiet - Indre Forhold”. Pakke 1, til 31. december 1916
Erste Internetveröffentlichung: 2010 August
Edition: Dänische diplomatische Quellen
Telegramm-Abgang: 07/24/1914
Telegramm-Ankunft: 08/13/1914
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 2
Übersetzung: Michael Willadsen
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/28/2012


Der Gesandte in Konstantinopel (Carl Ellis Wandel) an den Außenminister (Erik Scavenius)

Bericht



Nr. 2

Konstantinopel, 24. Juli 1914.

In der gegenwärtigen Sitzung hat sich kein wesentlicher Meinungsunterschied zwischen den Mitgliedern des türkischen Parlaments gezeigt, und es scheint dort keine organisierten Parteien zu geben, die unterschiedliche politische Richtungen oder Schattierungen repräsentieren. Als die Regierung, nachdem sie am 19. dieses Monats den Kammern ihr Programm vorgelegt hatte, die Vertrauensfrage stellte, wurde dieser mit 213 Stimmen stattgegeben, und nur ein Mitglied stimmte dagegen. Der Grund hierfür muss in der Art und Weise gesucht werden, mit der die Wahlen in den Kammern durchgeführt worden sind.

Die veralteten Wahlregeln von 1878 gelten heute immer noch, und das befähigt die Regierung - d.h. das Komitee für „Union et Progrès“ - die nach dem Friedensschluss im Land nahezu allein bestimmend war, ganz entscheidenden Einfluss auf die Wahlen zu nehmen.

Nachdem die Regierung sich zu Neuwahlen und zur Einberufung der Deputiertenkammer entschlossen hatte, wies sie fast alle politischen Gegner aus Konstantinopel und den übrigen größeren Städten des Landes aus, unter dem Vorwand, eine Untersuchung aus Anlass des Mordes an dem früheren Großwesir und Kriegsminister Mahmoud Chevket Pascha einzuleiten. Die Wahlen fanden danach zu einem Zeitpunkt statt, an dem diese Gegner nicht imstande waren, einen Wahlkampf zu führen.

Drei energische Männer, Innenminister Talaat Bey, Kriegsminister Enver Pascha und der damalige Polizeipräfekt Azmi Bey, der später aus Anlass der Kavakli Mustafa Affäre abgesetzt wurde und nun Mitglied der Deputiertenkammer ist, befanden sich an der Spitze der Regierung und des Komitees „Union et Progrès“, und sie sorgten dafür, dass es keinen wirklichen Wahlkampf gab.

Wahlen zu den Kammern gehen in der Türkei so vor sich, dass die Wählerschaft die Wahlmänner bestimmt, die wiederum die eigentliche Wahl durchführen. Die Liste mit den Namen der vom Komitee „Union et Progrès“ aufgestellten Wahlmänner wurde an die muslimischen Wähler verteilt, als diese sich zur Stimmabgabe einfanden und die Wähler mussten unter Anwesenheit von Beamten und Polizisten diese Listen in die Wahlurnen werfen, sodass die Wahlmänner fast einstimmig gewählt wurden.

Die auf den Listen aufgeführten Wahlmänner waren selbstredend alle Anhänger des Komitees „U et P“, und die Wahl der Deputierten war somit eine reine Formsache.

Während man dieses Verfahren gegenüber den muslimischen Wählern verfolgte, ging man bei der Wahl der christlichen Deputierten anders zu Werke.

Die christlichen Wähler hatten keinen Grund, sich gegen das Komitee „Union et Progrés“ zu stellen, solange dieses ihnen die geforderten Versprechungen und Garantien gab, umso mehr als „U et P“ zur Zeit die einzige Partei in der Türkei mit einem positiven Programm ist.

Gegner des „U et P“ zeigen zwar Fehler des Komitees auf, aber sie machen nicht eindeutig klar, wie das Land regieret werden sollte. Und sie hatten nichts unternommen, als sie selbst an der Macht waren.

Die christlichen Wähler versuchen daher scheinbar gegen das von der „U et P“ bevorzugte Zentralisierungssystem und das Prinzip „Die Türkei den Türken“ zu arbeiten, eine wirkliche Verbesserung ihrer Lebensbedingungen sehen sie aber eher in einem guten Einvernehmen mit dem Komitee als im Bruch mit ihm.

Auf der anderen Seite will die „U et P“ mit den christlichen Wählern auf gutem Fuße stehen, um gegenüber Europa den Anschein zu erwecken, es existiere eine große und einträchtige osmanische Nation.

Die Regierung leitete deswegen Verhandlungen mit den verschiedenen Patriarchaten ein, und feilschte mit ihnen um die Anzahl und die Wahl der Kandidaten, deren Namen, nachdem man Einigkeit erzielt hatte, auf den oben erwähnten gedruckten Wahllisten aufgeführt wurden.

Diese Verhandlungen führten in vielen Fällen nur nach langem Streit zur Einigung und wurden in mehreren Fällen unterbrochen. Die Patriarchen erklärten, man werde aus Protest nicht an den Wahlen teilnehmen mit der Folge, dass die Regierung Zugeständnisse machte und man sich zum Schluss einig wurde.

In Wirklichkeit können die christlichen Wähler im Reich nicht selbständig die ihnen zustehenden Plätze in der Deputiertenkammer besetzen, da die Wahlkreise immer so eingeteilt sind, dass die muslimischen Wähler in der Mehrheit sind.

Wo immer es eine kompakte Gruppe christlicher Wähler gibt, wird sie in kleine Teile aufgespalten, an die man größere muslimische Teile bindet.

Es geht nämlich um Leben oder Tod für die Türken, die mit ihren höchstens 5½ bis 6 Mill. tatsächlich eine Minderheit im Land darstellen, während der Rest Araber, Kurden, Lasen, Tscherkessen, Armenier, Griechen usw. sind.

Die Regierung versucht das Bild deshalb anders aussehen zu lassen, indem sie die größeren, kompakten Gruppen der verschiedenen Nationalitäten auflöst.

Die in der letzten Zeit sehr oft erwähnte Ansiedlung von Emigranten in und um die christlichen Dörfer, der Vorschlag, Juden, welche sich in Armenien und Syrien ansiedeln, besondere Erleichterungen zu gewähren und die deutlich sichtbare Unlust der Regierung, die Kurden von ihrem Land, das sie zu Unrecht in Besitz genommen hatten, zu vertreiben, scheint ebenfalls durch die gleiche Politik bestimmt zu sein.

Es ist naheliegend, das jetzige türkische Parlament als ein ziemlich einheitliches Ganzes anzusehen, das aus zwei Hauptgruppen besteht, nämlich A: der „Union et Progrès“ und B: den Deputierten, die die fremden Nationalitäten repräsentieren. Erst danach kann man eventuell innerhalb dieser Gruppen theoretisch unterschiedliche politische Tendenzen und Schattierungen aufspüren.

„Union et Progrès“ ist eine allzu große Gruppe, um einen wirklichen Block ohne Zwistigkeiten zu bilden, und man bemerkt bei der Zusammensetzung des Komitees und bei dessen Hauptversammlungen deutliche Zeichen der Uneinigkeit. Nur unter großen Schwierigkeiten und durch gegenseitiges Nachgeben war es bis heute möglich, die Partei zusammenzuhalten und zu verhindern, dass die gewaltsamen Zusammenstöße, die es bei den Verhandlungen gab, schicksalsschwere Folgen für das Komitee gehabt haben.

Außerhalb der „U et P“ scheint man zwei Arten von Mitgliedern zu unterscheiden, die beide stark mit dem Komitee verbunden sind, nämlich:

A: Die Mitglieder, die treu zum Komitee stehen, weil sie einsehen, dass ohne Organisation und Zusammenschluss keine Macht möglich ist. Diese Mitglieder geben in einigen Bereichen nach, aber dominieren in anderen.

B: Die Mitglieder, die sich nur um ihre eigenen persönlichen Interessen sorgen und immer der Mehrheit folgen.

Auch innerhalb der verschiedenen Nationalitäten kann man ziemlich deutlich unterschiedliche Richtungen beobachten, weil unterschiedliche politische Programme vorgestellt werden, doch all dies ist noch im Entstehen begriffen.

Mit vorzüglicher Hochachtung verbleibe ich, Herr Minister, Ihr ergebenster


Wandel



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