1915-09-19-DK-001
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Quelle: DK/RA-UM/Gruppeordnede sager 1909-1945. 139. D. 1, ”Tyrkiet - Indre Forhold”. Pakke 1, til 31 Dec. 1916
Erste Internetveröffentlichung: 2010 August
Edition: Dänische diplomatische Quellen
Telegramm-Abgang: 09/19/1915
Telegramm-Ankunft: 10/04/1915
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: No. 120
Übersetzung: Michael Willadsen
Zustand: A
Letzte Änderung: 10/24/2017


Der Gesandte in Konstantinopel (Carl Ellis Wandel) an den Außenminister (Erik Scavenius)

Bericht


Konstantinopel, 19. September 1915.

Nr. 120

Herr Außenminister,

In meinen früheren Berichten habe ich das Verhältnis der Jungtürken zu den im türkischen Reich lebenden Griechen und Armeniern erwähnt, und die schlimmen Konsequenzen aufgezeigt für die Wirtschaft des Landes aufgezeigt, sollte es gelingen, diese Völker zu vertreiben oder zu vernichten. Doch gibt es noch ein Volk in der Türkei, das eine sehr große Rolle im Wirtschaftsleben der Türkei gespielt hat und spielt, nämlich die Juden - alleine in Konstantinopel gibt es wohl ca. 70.000 Juden, fast alle beschäftigt im Handel, in Banken und Finanzinstituten. Das Verhältnis zwischen Türken und Juden ist bisher so gut gewesen, dass sich eine große Anzahl Juden als Türken betrachtet hat, ja sogar zum Islam übergetreten ist, und dadurch zusätzlich ihren Einfluss festigen konnte.

Die Frage nach dem zukünftigen Verhältnis zwischen Juden und Türken hat in der jetzigen Situation aktuelle Bedeutung bekommen, da gerade in der letzten Zeit Zeichen darauf hindeuten, dass sich die Allianz zwischen Juden und Türken lockert, nicht nur weil die Anpassungsfähigkeit der Juden, wie groß diese auch immer sein mag, es kaum verhindern kann, mit dem jungtürkischen Neo-Nationalismus zu kollidieren, sondern auch, weil es im Moment tatsächlich Unstimmigkeiten gibt sowohl zwischen der Regierung und der hiesigen zionistischen Bewegung, als auch zwischen dem Gros der Bevölkerung und den reichen jüdisch-muslimischen Kaufleuten. Gewiss sind die Zeiten nicht mehr so wie in den Tagen der Revolution, als Juden und Türken im Kampf gegen den Despotismus zusammenstanden, als das Komitee seinen Sitz in dem fast rein jüdischen Saloniki hatte und sich der jüdischen Unterstützung bediente – intellektuell und finanziell. Damals gehörten Djavid Bey und Carosso [Carasso, Karasu] Effendi (beide Dönme, d.h. von einer jüdischen Familie, die zum Islam übergetreten ist), zur Spitze des Komitees, und Carosso Effendi war zum Sprecher der Abordnung ausgewählt, die Sultan Abdul Hamid die Forderung überbrachte, den Thron an seinen Bruder zu übergeben.

Was das Verhältnis der Regierung zu den Zionisten betrifft, so ist die Missstimmung - begründet im Versuch der Juden, Palästina zu kolonisieren - offensichtlich nicht neueren Datums, zumal Adbul Hamid schon vor 25 Jahren Juden fremder Nationalität verbot, sich in diesem Land niederzulassen. Höchstwahrscheinlich sollte dieses Verbot besonders die Einwanderung russischer Juden verhindern, und den wachsenden russischen Einfluss in Palästina aufhalten.

Das türkische Gesetz verbot zwar von diesem Moment an fremden Juden, sich im Heiligen Land niederzulassen, aber man nahm das Gesetz nicht wortwörtlich. So siedelten mit der Zeit über 40.000 Juden in Palästina, wo fast jeder Land kaufte, und wo sie unter günstigen wirtschaftlichen Bedingungen, wenn auch ungesicherten rechtlichen Verhältnissen lebten, da ihre Aufenthaltsgenehmigungen nach dem Gesetz nur die ersten drei Monate ihres Aufenthalts gültig war, so dass sie von diesem Zeitpunkt an ohne formales Recht oder Genehmigung in dem Land lebten.

In den ersten Tagen der liberalen Verfassung galt für die in Palästina eingewanderten Juden nicht mehr der Ablauf der 3-Monat-Frist, aber die Gesetzeslage wie das formelle Verbot der Besiedlung blieb unverändert.

Als im letzten Herbst der Heilige Krieg ausbrach, änderten die türkischen Behörden ihre Vorgehensweise. Djemal Pascha, Chef der Expeditionen nach Ägypten, war gegen die jüdischen Kolonisierung, und die Regierung, besonders Jaffas Gouverneur, Behaedinne Bey, fing mit einer Reihe von Deportationen und Verhaftungen an. In einer Nacht wurden 600 Juden von Jaffa nach Ägypten ausgewiesen. Djemal Pascha und Behaedinne Bey schickten antijüdische Berichte in die Hauptstadt, und es scheint, dass Talaat Bey sich davon beeindrucken ließ.

Jetzt intervenierten der amerikanische Botschafter (der selbst Jude ist) und der deutsche Botschafter, Baron von Wangenheim, und erreichten, dass sowohl Behaedinne Bey seinen Posten als Gouverneur in Jaffa verlor als auch, dass die Regierung auf diplomatischen Druck hin beschloss, vorläufig die Entscheidung über die Frage des Verbleibens der Juden in Palästina auszusetzen. Es wurde lediglich bestimmt, dass die Juden, die Untertanen feindlicher Staaten waren (in diesem Fall so gut wie ausschließlich Russen), entweder das Land verlassen oder osmanische Untertanen werden mussten. Ca. 10.000 russische Juden emigrierten, aber die restlichen wurden Osmanen.

Jedenfalls ist die Frage nach der Rechtslage der fremden Juden in Palästina und nach den Schwierigkeiten, die die Behörden dem Kauf von Grundstücken den jüdischen Kolonisten in den Weg legen, immer noch unbeantwortet. Als sich der Führer der hiesigen Zionisten, H. Lichtheim [Richard Lichtheim], neulich in dieser Angelegenheit an Talaat Bey wandte, bekam er nur eine ausweichende Antwort.

Es kann noch nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, wie die zukünftige Haltung der Regierung zu den Zionisten und zu den Juden in der Türkei im allgemeinen sein wird, und ob sich das alte, jetzt wieder neu entfachte, Misstrauen gegenüber den Juden in Palästina fortpflanzen und Einfluss auf die in anderen Teilen des Reiches niedergelassenen Juden haben wird. Aber es kann vielleicht von Bedeutung sein, dass in der letzten Zeit scheinbar eine recht starke Verstimmung gegen die reichen Dönme in Konstantinopel entstanden ist, die im Augenblick den Handel mit wichtigen Waren in der Hauptstadt dominieren, und die von der türkischen Bevölkerung bezichtigt werden, Nahrungsmittel und notwendige Waren zu horten und mit künstlich überhöhten Preisen reich geworden zu sein (Reis hat sich von 4-5 Piaster pr. Okka (1 Okka sind 1150 Gramm) auf 12-14 Piaster verteuert, Zucker von 3 auf 11-12 Piaster. Petroleum von 14-15 auf 110-150 Piaster pr. Ridon).

Vielleicht wird die jungtürkische Regierung, die mit bestimmten türkisch-muslimischen Handelsorganisationen, die neben den genannten jüdischen Kaufleuten zu den Preiserhöhungen beigetragen haben, eng verbunden ist, die Missstimmung gegen diese benutzen, um die Verantwortung für die getroffenen Maßnahmen von sich auf die Juden alleine abzuschieben. Die Konsequenz eines solchen Vorgehens ist noch nicht abzusehen.

Mit vorzüglicher Hochachtung verbleibe ich, Herr Minister, Ihr ergebenster


Wandel



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