1915-09-22-DK-001
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Quelle: DK/RA-UM/Gruppeordnede sager 1909-1945. 139. D. 1, ”Tyrkiet - Indre Forhold”. Pakke 1, til 31 Dec. 1916
Erste Internetveröffentlichung: 2010 August
Edition: Dänische diplomatische Quellen
Telegramm-Abgang: 09/22/1915
Telegramm-Ankunft: 10/05/1915
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 125
Übersetzung: Michael Willadsen
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Gesandte in Konstantinopel (Carl Ellis Wandel) an den Außenminister (Erik Scavenius)

Bericht



Nr. 125

Konstantinopel, den 22. September 1915.

Herr Außenminister,

In meinen früheren Berichten habe ich bereits versucht aufzuzeigen, wie Ihre Majestät der Sultan regiert, und wie das Komitee die Geschäfte führt.

Ich habe versucht darzustellen, dass die Türkei mit der Aufgabe ihrer Neutralität eine Unvorsichtigkeit begangen hat, da ihre Stellung sehr schwierig wird, wenn der Krieg mit dem Sieg einer der Großmachtgruppen endet.

Welches Schicksal das Land erwartet, wenn die Ententemächte siegen, weiß der Herr Außenminister weit besser als ich. Die Verhältnisse, die zu beobachten ich die Gelegenheit habe, werden nur geringen Einfluss bei diesem Ausgang haben. Ich möchte mich deshalb mit der Frage beschäftigen, was im Fall des Sieges der Zentralmächte passieren wird.

Wenn die Zentralmächte siegen und der Balkanverbund gegen die „deutsche Gefahr“ nicht wieder ins Leben gerufen wird, wird die Türkei wahrscheinlich vor die Wahl gestellt, entweder den Großteil ihrer politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit zugunsten Deutschlands aufzugeben, welches dann hier Fuß fassen wird, oder den vermutlich recht hoffnungslosen Kampf um Selbständigkeit gegen seinen mächtigen Verbündeten aufzunehmen. Wenn dieser Fall eintritt, können die Ereignisse, die sich täglich vor meinen Augen abspielen, entscheidend sein.

Man ist sich hier in der deutschen Botschaft im Klaren, dass ein ernster Konflikt zwischen Deutschland und der Türkei, die in einem künftigen Bündnis zweifellos gleichberechtigt sein will, kaum vermieden werden kann, selbst wenn im besten Fall die Chauvinisten an der Macht bleiben. Einige Äußerungen, die der Botschaftsspezialist für die Balkanpolitik vor kurzem mir gegenüber gemacht hat, deuten jedenfalls darauf hin.

Als ich, nachdem ich ihm meine Bewunderung für die große und ausgezeichnete Arbeit, die die deutschen diplomatischen und militärischen Missionen zum Wohle Deutschlands geleistet haben, ausgedrückt hatte, hinzufügte, dass ich nur schwer die deutsche Balkanpolitik vergeben könne, weil sie durch das Bestärken und Umschmeicheln des Komitees in so großem Masse dessen Arroganz und Fremdenhass gefördert habe, dass die hiesige Regierung völlig uneinsichtig sei, antwortete er, dass man dies von deutscher Seite aus sehr bedauere.

„Aber man darf nicht vergessen“, sagte er, „dass wir keinen anderen Ausweg haben; wir brauchten die Hilfe der Türkei - das war für uns eine Frage auf Leben und Tod, und damit mussten wir uns abfinden.“

Es kann daher im großen und ganzen keinen Zweifel geben, wo das hinführen wird. Seitdem die fremden Kriegsschiffe (Stationsschiffe) 1914 den Ankerplatz Konstantinopel verließen, hat der Übermut der Jungtürken immer mehr zugenommen, und es kann von Mäßigung der Denkweise und Grundeinstellung sicher nicht die Rede sein, bevor die Schiffe zurückkehren.

Ein genaues Studium der Aussichten, wie sie sich darbieten, wenn die Zentralmächte siegen, stößt aber auf viele Schwierigkeiten, weil es fast unmöglich ist, zuverlässige Informationen über die Zusammensetzung der tatsächlichen aber verantwortungslosen Regierungs - dem Komitee - zu erhalten, und über die Bedingungen, unter denen es funktioniert. Die Geschichte des Komitees ist noch nicht geschrieben, und die Personen, die es kennen, wagen nicht sich darüber zu äußern.

In Anbetracht der Aktualität des Themas will ich dennoch versuchen, auf der Grundlage dessen, was ich hier in Erfahrung bringen kann, eine kurze Schilderung des Komitees und seiner Männer zu geben - es handelt sich um eine Art von Direktorium aus 15-20 Mitgliedern, das das Regierungshandeln bestimmt - sowie der Veränderung seiner Politik seit Juli 1908, als es zum ersten Mal in das Schicksal des Landes eingegriffen hat mit fester Hand und, gemessen an dem Standard in diesem Land, einer einzigartigen Organisation.

Das besondere Kennzeichen des jungtürkischen Komitees war und ist immer noch seine organisatorische Stärke. Ohne diese Kraft hätte das Komitee den Verfolgungen des Despotismus nicht widerstehen und selbst zu einer solchen Macht werden können, dass es das alte Regime zu Fall brachte. Diese organisatorische Stärke, die das Komitee vom ersten Tage an bei dem großen Werk der Befreiung geschaffen hat, hielt in guten wie in schlechten Zeiten an. Und einmal an der Macht war es in der Lage, ungestraft Missbrauch nach derselben Art zu treiben wie der gestürzte Despotismus, [und] so durch zielgerichtete Arbeit die Macht zurückerobern, nachdem es entthront worden war. Das Komitee ist nicht nur mit dieser organisatorischen Stärke ausgestattet, es ist auch immer die einzige türkische Organisation gewesen, die diese Eigenschaft gehabt hat. All den anderen Parteien, die sich seit der Einführung der Verfassung gebildet haben, hat diese Kraft gefehlt, und sie mussten nach kurzer Zeit aufgeben.

Eine Folge davon ist, dass die höchsten Ränge im Komitee nicht mehr mit den Theoretikern besetzt sind, die ursprünglich das Programm des Komitees erarbeitet hatten, sondern mit politisch-organisatorischen Führern, mit Männern, die von der ersten Stunde an im Dienste der Organisation gearbeitet hatten, nicht als große Idealisten oder Gründungsväter, sondern als Organisatoren, die alle Mittel nutzen, um das Wohl ihrer Organisation zu fördern. Dies erklärt auch, dass das Komitee, obwohl zum großen Teil unter denselben Führern wie in den ersten Jahren des Kampfes, heute praktisch für ein ganz anderes Programm kämpft als damals - es sind nicht die Ideale, sondern das Gebilde selbst, d.h. die Macht, für die man gekämpft hat und kämpft.

Unter den Männern, die im Vorstand des Komitees sitzen, muss zu allererst der jetzige Führer der Regierung, Innenminister Talaat Bey, genannt werden, ein ohne Zweifel bedeutender Politiker.

Talaat Bey, früher in der Provinz im Telegraphenamt tätig, arbeitete vom ersten Tag an für das Komitee, und gleich nach der Revolution trat er als einer der Führer türkischer Politik in den Vordergrund. Aber erst nach 1909 wurden er und andere jungtürkische Führer direkte Mitglieder der Regierung - Talaat Bey als Innenminister -, um die alten Paschas zu ersetzen, welche man noch eine Zeitlang als Strohmänner auf ihren Posten beließ. Es war Talaat Bey, der, als das Komitee (im Frühjahr 1912) von den „Befreiungs-Offizieren“ gestürzt worden war, die geheime Arbeit des Komitees leitete, um die Macht wiederzuerlangen, und er war es, der mit seinen Freunden bei nationalistischen Demonstrationen Kiamil [Kamil] Pascha, den damaligen Großwesir, in den unglückseligen Krieg mit den Balkanstaaten (Ende 1912) zwang, anstatt sich wirksam für die Einführung der von den Mächten geforderten Reformen einzusetzen. Und wiederum war es Talaat Bey, der zusammen mit Enver Pascha Anführer beim neuen Staatsstreich war, der das Komitee wieder an die Macht brachte - nach Talaats Plan genau in dem Augenblick, in dem das Kiamil-Kabinett die Note an die Großmächte absandte, in welcher es Adrianopel aufgab - auf dringende Forderung hin eben dieser Mächte. Kiamil Paschas Aufgabe des heiligen Adrianopel würde die Männer des Staatsstreichs als die nationale Befreier dastehen lassen, die das Kabinett, das ohne zwingenden Grund auf Teile des Landes verzichtet hatte, gestürzt hätten, aber der Zufall wollte es, dass das gestürzte Kabinett die Antwort-Note nicht an die Mächte übergeben hatte (sie war abgesandt, aber aufgrund eines Irrtums vor Aushändigung an den österreichischen Botschafter wieder zurückgeholt worden) und so kam es, dass das neue jungtürkische Ministerium die Verantwortung für die Entscheidung übernehmen musste. Es war Glück - der Kampf der Balkanstaaten gegeneinander - und nicht [weise] Voraussicht, das die Macht des Komitees und Talaat rettete und Adrianopel der Türkei zurückgab.

Seitdem ist Talaat mehr und mehr zum Zentrum im jungtürkischen Komitee geworden. Die militärischen Mitglieder - und insbesondere Enver Pascha - hatten sich um die Verteidigung des Landes kümmern müssen, und die gesamte Führung ging über in die Hände Talaat Beys, der praktisch Innen-, Finanz- und Außenminister in einem ist.

Talaat Bey sehr nahe steht sein Freund, Halil Bey, der Vorsitzende der Deputiertenkammer und des Komitees, Bedri Bey, Chef der Sicherheitspolizei in der Türkei (der im Frühjahr 191[?] zum Tode verurteilt worden war wegen der Erschießung eines Polizeioffiziers, später aus dem Gefängnis flüchtete, begnadigt und Chef für die öffentliche Sicherheit wurde), Nazim Bey, der chauvinistische Generalsekretär und Leiter der täglichen Regierungsarbeit des Komitees, Midhat Chukri Bey und Behaeddine Chakir Bey, ebenfalls ausgeprägte Chauvinisten, Hussein Djahid Bey, früherer Herausgeber des Komiteeorgans „Tanin“ und Djavid Bey, der frühere Finanzminister, der die große Anleihe in Frankreich 1914 organisiert hat, und der aus einer zum Islam übergetretenen jüdischen Familie stammt, ursprünglich Schulinspekteur in der Provinz, etc. etc.

Zur Zeit voll beschäftigt mit den militärischen Angelegenheiten ist Enver Pascha, der Offizier, der zusammen mit dem kurz danach getöteten Niazi Bey und seinen Truppen im Juni 1908 die Fahne der Rebellion in Albanien hisste, und damit den Anstoß gab für die eigentliche Revolution, nach der er Militärattaché in Berlin wurde, eine Ernennung, die zweifellos große Bedeutung für das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei bekommen hat. Nachdem er in die Türkei zurückgekehrt war, wurde er Stabschef des 10. Armeekorps, nahm 1913 aktiv am Staatsstreich teil, und führte den Triumphzug [sic] nach Adrianopel an. Als Belohnung wurde er zwar relativ spät, im Januar 1914 Kriegsminister und bekam damit die gesamte militärische Macht der Türkei in seine Hand, nachdem das Komitee die alten Generäle und hohen Offiziere, die unter den Truppen große Popularität genossen, entlassen und sie durch Enver Paschas neue Schützlinge ersetzt hatte.

Ein anderes einflussreiches Mitglied des Komitees war bis vor kurzem Enver Paschas Mitbewerber für die militärische Leitung, Djemal Pascha, der frühere Stadtkommandant von Konstantinopel, am selben Tag zum Pascha ernannt wie Enver, gleichzeitig mit Enver Pascha mit dem Osmanieh-Orden ausgezeichnet, und schließlich auf Enver Paschas Empfehlung zum Verkehrsminister ernannt, um seinen Einfluss zu begrenzen, aber später auf dringende Bitte hin zum Marineminister ernannt, als der er mit großer Kraft bis zum Kriegsausbruch an der Erneuerung der Flotte arbeitete, und dann als Chef der nach Ägypten entsandten Armee Konstantinopel verließ. Von da an hat Djemal Pascha natürlich nicht mehr an der Regierungsarbeit teilnehmen können, und auch das Marineministerium befand sich fortan in den Händen Enver Paschas.

Von den anderen, die in letzter Zeit die Arbeit des Komitees geprägt haben, muss neben dem im Juni 1913 ermordeten „Befreier“ Mahmoud Chevket Pascha noch Azmi Bey genannt werden, der in der Hauptstadt zusammen mit dem damaligen Stadtkommandanten Djemal Pascha, und in Zusammenarbeit mit Talaat Bey, als Polizeichef das Schreckensregiment nach Mahmoud Chevket Paschas Ermordung leitete, aber der auf das ausdrückliche Verlangen der russischen Botschaft kurz danach als Gouverneur nach Konia entsandt wurde, des weiteren Hadji Adil Bey, der jetzige Gouverneur in Adrianopel, den ich in meinem Bericht Nr. CXXIII [123] von gestern erwähnt hatte; und schließlich zwei Männer, die sich im Laufe der Zeit von dem Komitee entfernt haben, weil sie dessen Machtgier und Missbrauch nicht mitmachen wollten: Rahmy Bey, Gouverneur des Vilayets Aidin (Smyrna), der sich, wie in meinen früheren Berichten erwähnt, mehrere Male den Befehlen des Komitees widersetzt hat, wenn er diese für ungerecht hielt, und Ahmed Riza Bey, der in der letzten Parlamentsperiode der einzige bedeutende Gegner der Alleinherrschaft des Komitees war. Riza Tevfik Bey, der ursprünglich als intellektueller Vorkämpfer einen bedeutenden Platz in der Anfangszeit des Komitees hatte, und der von vielen Seiten, auch von den Gegnern des Komitees, sehr geschätzt wurde, fühlte sich schon früh von der Art und Weise, in der die Herrschenden seine Ideale umsetzten, abgestoßen und befand sich schon 1910 unter den Gegnern des Komitees.

Das Komitee für Einheit und Fortschritt übernahm die Macht unter der Devise: Gleiches Recht für alle Osmanen. Aber um Einheit - die den Namen des Komitees anführte - in dem großen und ethnographisch gesehen so zusammengewürfelten Reich zu erreichen, musste gleichzeitig ein osmanisches, alle Völker des Reiches umfassendes Gemeinschaftsgefühl geschaffen werden. Und es mussten Garantien geschaffen werden, dass dieser neue „Osmanismus“ auch in Zukunft von den jungtürkischen Mitgliedern des Komitees angeführt würde, gleichzeitig aber gleiches Recht für alle osmanischen Bürger ohne Rücksicht auf Nationalität und Religion (der idealistische Anspruch der Revolution) schafft, und es musste dafür gesorgt werden, dass der neue Osmanismus trotzdem eine rein türkische Bewegung ist. Das Ringen dieser beiden Ansprüche miteinander dauerte einige Zeit, bis das Komitee gleich nach dem Ende des Balkankriegs resolut den einen Anspruch (gleiches Recht für alle Osmanen) über Bord warf und sich entschloss, künftig den Weg der Türkifizierung zu gehen, den Weg, der sich durch den anti-griechischen Boykott im Frühjahr 1914 auszeichnete. Er traf die Griechen, die genauso osmanische Untertanen waren wie griechische, führte zur gleichzeitigen Griechenverfolgung in Kleinasien und Trakien, und, später im selben Jahr, - unter deutscher Mitwirkung - begünstigt durch den Weltkrieg, zur Ausrufung des Heiligen Kriegs und der darauf folgenden Aufhebung der Kapitulationen. Das führte zum Schluss zu der fremden feindlichen und nationalistischen Politik, deren Auswirkungen ich in der letzten Zeit mehrere Male in meinen Berichten beleuchtet habe, und deren Ziel derzeit die Ausrottung der armenischen Bevölkerung im Reich ist.

Der Herr Außenminister wird vielleicht durch diese Beschreibung, trotz ihrer Mängel, ersehen, dass es scheinbar nicht Männer mit großer politischer Bildung und Erfahrung oder mit großem Wissen sind, die die Türkei jetzt führen, sondern Leute, deren Tollkühnheit und ungezügelte Willens- und Tatkraft die früher hier herrschende Beharrlichkeit, in der die Stärke der alten Paschas vor 1908 lag, abgelöst hat, und Deutschland wird, wenn der Fall eintritt, sich damit abfinden müssen, dass diese neuen Leute nicht lenkbar sind.

Sie sind Chauvinisten und Fremdenhasser, mehr oder weniger wahre Fanatiker und schwärmerische Desperados. Es herrscht kein Zweifel was die Integrität einiger von ihnen anbelangt, aber die allgemeine Auffassung ist, dass sie weiter den bereits eingeschlagenen Weg, der schon zu so vielen ernsten Konflikten geführt hat, gehen werden.

Nach den Griechen und Armeniern werden vermutlich die Juden und Deutschen die Nächsten sein, und es ist sehr wahrscheinlich, dass die jetzige Regierung, zu gegebenem Zeitpunkt, eher vabanque spielen und alles aufs Spiel setzen wird, als dass sie Verständnis dafür aufbringt, dass kluges Nachgeben und ein Kompromiss einer Politik vorzuziehen ist, die geradezu als ein nationaler Selbstmord bezeichnet werden kann.

Mit vorzüglicher Hochachtung verbleibe ich, Herr Minister, Ihr ergebenster


Wandel



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