1915-12-16-DK-001
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Quelle: DK/RA-UM/Gruppeordnede sager 1909-1945. 139. D. 1., "Tyrkiet-Indre Forhold", pakke 1, til 31 Dec. 1916
Erste Internetveröffentlichung: 2010 August
Edition: Dänische diplomatische Quellen
Telegramm-Abgang: 12/16/1915
Telegramm-Ankunft: 01/03/1916
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 198
Übersetzung: Michael Willadsen
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Gesandte in Konstantinopel (Carl Ellis Wandel) an den Außenminister (Erik Scavenius)

Bericht



Nr. 198

Konstantinopel, 16. Dezember 1915.

Herr Außenminister,

Die hier erscheinenden türkischen Tageszeitungen enthielten am 12. diesen Monats eine Mitteilung, dass im Libanon jetzt die Vorbereitungen für die Wahl der Abgeordneten dieses Vilajets für das osmanische Parlament getroffen werden, und dass der Mutessarif [Ali Munif/Mounif Bey] Befehl gegeben hat zur Erstellung von den Listen, auf deren Grundlage die Anzahl dieser Repräsentanten festgelegt wird.

Es scheint, dass der letzte Rest von Selbstverwaltung, die Libanons Bevölkerung nach den Protokollen von 1860, 1864 und 1912 genoss, dabei verschwinden wird.

Seine Exzellenz Joussouf Pascha Franco [Mutassarif Franko Kusa Yusuf Pascha], der bis zum 8. Juli 1912 Gouverneur des Libanons war und mit dem ich heute sprach, hat mir folgende interessanten Informationen über diese Geschehnisse gegeben.

Nach den oben genannten Protokolle ist der Libanon seit 1860 von einem Christen regiert worden; jedes 6. Jahr ernannte die Hohe Pforte einen neuen Mutessarif, aber dieser musste aus drei von den (europäischen) Schutzmächten benannten Kandidaten ausgewählt werden und einer der fünf katholischen Kirchen der Türkei (römisch-katholisch, armenisch-katholisch, syrisch-katholisch, Maroniten und Melkiten) angehören. Die Bevölkerung im Libanon war im wesentlichen vom Militärdienst freigestellt, da das gesamte Vilajet mit ungefähr einer Million Einwohner nur ein Gendarmeriekorps von etwa 1000 Mann für den lokalen Einsatz aufstellen musste. Daneben unterhielt die Türkei in der Provinz – zumindest auf dem Papier – ein Kavallerieregiment, sonst aber trat das türkische Militär immer sehr vorsichtig auf, um die Gefühle der freiheitsliebenden und kriegerischen Bevölkerung nicht zu verletzen. Auch in fiskalischer Hinsicht nahm der Libanon eine Sonderstellung ein, da die erhobenen Steuern, die im übrigen sehr niedrig waren, nur zur Verwaltung der Provinz selbst verwendet werden durften.

Als die Jungtürken durch die Revolution von 1908 an die Macht kamen, war es nur eine natürliche Folge ihrer Bestrebungen nach Einheit im Osmanischen Reich, dass sie versuchten, die libanesischen Privilegien einzuschränken oder aufzuheben, und sie erließen eine Verordnung, dass im Libanon Parlamentswahlen durchgeführt werden sollten. Die Bevölkerung zog jedoch die Selbstverwaltung der Wahl von Abgeordneten vor, und die Regierung musste damals ihre Pläne aufgeben.

Jetzt haben sich die Verhältnisse geändert. Nach der Abschaffung der Kapitulationen erklärte die Regierung, dass die Sonderstellung Libanons, die sich auf das Regime der Kapitulationen stützte, aufgegeben werden muss, und dieses Mal hatte die Bevölkerung keine ihrer Schutzmächte hinter sich. Diesen Sommer entschloss man sich, den damaligen Gouverneur, den armenisch-katholischen Couyoumdjian Pascha [Ohannes Kuyumjian/Kouyoumdjian Pasha], den früheren Unterstaatssekretär im Außenministerium, zu „beurlauben“, und gleichzeitig schickte man einen Muslim, den früheren Unterstaatssekretär im Innenministerium, Ali Munif Bey, als Gouverneur in den Libanon. Gleichzeitig führte man für die Libanesen den Militärdienst ein und überwies die im Libanon eingetriebenen Steuergelder in die Hauptstadt. Als letztes Zeichen der Einverleibung des Libanon als rein türkisches Verwaltungsgebiet ist die oben erwähnte Bekanntmachung erschienen, nach der das Vilajet „würdige“ Repräsentanten (d. h. blinde Anhänger des jungtürkischen Komitees) in die Deputiertenkammer entsenden soll. Es verlautet außerdem, die Regierung beabsichtigt, die Provinz in ein reguläres Vilajet zu verwandeln, das ganz und gar den anderen Vilajets entspricht.

Es ist aber nicht so, dass die Frage der Außerkraftsetzung der Autonomie des Libanons, genau so wenig wie die Abschaffung der Kapitulationen, endgültig gelöst ist – das hängt in Wirklichkeit von dem Verlauf des Krieges ab. Sicher ist nur, dass die libanesische Bevölkerung alles tun wird, um später ihre relative Selbständigkeit zurückzugewinnen. So arbeitsam und wohlhabend, wie sie im Gegensatz zur übrigen türkischen Bevölkerung ist, kann sie es sich nicht leisten, von der Zentralregierung ausgebeutet werden. Dazu kommt, dass große Teile der Bevölkerung des Libanons viele Jahr in überseeischen Ländern (Südamerika und Australien etc.) verbracht haben – es wandern jedes Jahr ca. 20.000 Einwohner aus dem Libanon aus, die nach dem Ablauf einiger Jahre, in denen sie in der Fremde gearbeitet und ihr Vermögen verfünffacht haben, in ihr Heimatland zurückkehren und somit den Reichtum des Landes vergrößert haben – und die von dort eine Lebensauffassung mitgebracht haben, die nur schwer mit der türkischen Herrschaft vereinbar ist.

Mit vorzüglicher Hochachtung verbleibe ich, Herr Minister, Ihr ergebenster


Wandel



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