1916-04-28-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R14091; BoKon172 Bl. 43-48
Zentraljournal: 1916-A-11471
Botschaftsjournal: 10-12/1916/4385
Erste Internetveröffentlichung: 2000 März
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 05/02/1916 p.m.
Zustand: B
Letzte Änderung: 03/23/2012


Der Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel (Wolff-Metternich) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



Nr. 201

Pera, den 28. April 1916

Im Anschluß an Bericht Nr. 131.1

1 Heft Anlagen

Euerer Exzellenz beehre ich mich die in der Anlage von den Konsulaten zu Aleppo und Adana eingegangenen Beantwortungen des Fragebogens des Schweizerischen Hilfswerks 1915 für Armenier in je zwei Durchschlägen, ferner ein Schreiben des Konsuls Rössler an Dr. Vischer nebst Durchschlag und Unterlage (zwei Durchschläge) und ein Schreiben der Schwester Beatrice Rohner vom 11. d.M. an Dr. Vischer mit dem Anheimstellen zu überreichen, diese Schriftstücke dem genannten Verein übermitteln lassen zu wollen.

Wie Herr Dr. Büge in seinem Begleitbericht hinzufügt, ist in seinem Amtsbezirke eine Hilfsaktion jetzt nicht mehr nötig, nachdem die vielen tausende von Deportierten weiter, in der Richtung auf den Euphrat, abtransportiert worden sind.

Konsul Rössler bemerkt, daß die Schwester Paula Schäfer bereit sei, den Dr. Vischer zu begleiten, falls er einen Paß zur Reise nach Bagdad erhält. Ihr selber war seinerzeit die Reiseerlaubnis abgeschlagen worden, weil sie ausdrücklich um die Genehmigung zum Besuch der Notstandsgebiete gebeten hatte. Im übrigen hofft Herr Rössler, daß die Erlaubnis zur Reise nach Bagdad sich in Aleppo selber erwirken lassen wird.


Metternich

[Konsul Rößler an die Botschaft Konstantinopel 12.4.]


No. 1033. Auf den Erlaß vom 27. März A 1017

Euer Exzellenz überreiche ich gehorsamst in der Anlage in drei Exemplaren meine Antwort an Herrn Dr. Vischer Basel, Hebelstraße 96. Erhält er einen Pass zur Reise nach Bagdad - erforderlichenfalls als der 6. Armee zugeteilt - so beabsichtigt Schwester Paula Schäfer, ihn zu begleiten.

Die Reiseerlaubnis war ihr seinerzeit abgeschlagen worden, weil sie ausdrücklich um die Genehmigung zum Besuch der Notstandgebiete gebeten hat. Erlaubnis zur Reise nach Bagdad wird sich hoffentlich hier durchsetzen lassen. Erforderlichenfalls werde ich telegraphisch darauf zurückkommen.


Rößler
Anlage 1
Aleppo, den 12. April 1916.

Herrn Dr. Andreas Vischer
Hochwohlgeboren
Basel, Hebelstrasse 96.

Sehr geehrter Herr Dr. Vischer!

Ihren durch die Kaiserliche Gesandtschaft in Bern gegangenen Brief vom 7. Maerz habe ich zusammen mit dem weiteren Brief vom 18. Maerz vorgestern erhalten und seine Anlagen an Schwester Beatrice Rohner gegeben, die auch die Beantwortung des Fragebogens übernommen hat; wie Sie aus dem anliegenden Brief von ihr ersehen werden. Haben Sie vielen Dank fuer alle Ihre Bemuehungen sowie fuer die Uebersendung zuerst von 10000 Fr. dann von 5000 Franken, welch letzterer Betrag mir dieser Tage ausbezahlt worden ist.

Das erschuetternde Bild, das Schwester Beatrice Rohner von dem Unglueck entworfen hat, wird Ihre Schweizer Freunde hoffentlich nicht entmutigen, ebensowenig wie der Umstand dass eine feste Form der Notstandsarbeit nicht in Aussicht steht. Es gilt wie sie gesagt hat, so viel als moeglich vor dem Hungertode zu retten. Bei einer Organisation der Arbeit, wie Einrichtung von Suppenkuechen, regelrechten Waisenhaeusern, Krankenhaeusern u.s.w. wuerde mit demselben Geld voraussichtlich mehr zu erreichen sein. Die Spender muessen aber die Entsagung ueben, die Verhaeltnisse zu nehmen, wie sie sind und muessen die der Huelfe entgegenstehenden Schwierigkeiten in den Kauf nehmen. Auch die Amerikaner ueberlassen alles dem Ermessen der Schwestern Rohner und Schaefer.

Einen Teil des Schweizer Geldes habe ich der Schwester Paula Schaefer ueberlassen und fuege zur Begruendung eine Schilderung von ihr vom 1. Maerz in der Anlage bei.

Ihre Reise hierher - wenn auch Schwester B. Rohner sonst europaeische Hilfskraefte nicht fuer moeglich haelt - ist sehr erwuenscht. Lassen sie sich von vornherein einen Pass zur Reise nach Bagdad ausstellen. Entweder können Sie dann laengere Zeit in Der Zor bleiben - der Mutesarrif dort ist sehr freundlich und tut sein möglichstes das Elend zu lindern - oder Sie kehren von dort um, nachdem Sie einen Einblick gewonnen haben, der Ihnen ermoeglicht, Ihre weiteren Entscheidungen zu treffen. Die seit langen Jahren als Krankenschwester taetige Schwester Paula ist bereit, mit Ihnen zu gehen. Ich hoffe, die Reiseerlaubnis fuer die Schwester hier zu erreichen.

Herr Eckart und Herr Kuenzler koennen sich aus besonderen Gruenden nicht beteiligen. Sie haben sehr schwere Zeiten durchgemacht; sie sind denunziert worden und Reisen von ihnen wuerden Verdacht erregen. Auch ist nach Verhaftung des Arztes die volle Kraft von Herrn Kuenzler fuer das Hospital erforderlich.

Meine Frau ist dieser Tage nach Deutschland abgereist, um den Aeltesten auf ein humanistisches Gymnasium zu bringen. Sie ist unter der Adresse ihrer Mutter Frau Wirkl. Geh. Ober-Regierungsrat M. Neumann, Berlin-Wilmersdorf, Sigmaringerstrasse 26 zu erreichen. Alles wesentliche aber enthält die Beantwortung des Fragebogens.

Ich wuerde mich sehr freuen, Sie wiederzusehen und gruesse Sie herzlich als

Ihr ganz ergebener


Rößler

Anlage 2


Konsulat Adana
Adana, den 15. April 1916

Euerer Exzellenz beehre ich mich, in Erledigung des Erlasses vom 27.v.Mts., A 1017, in der Anlage die Beantwortung des Fragebogens des Schweizerischen Hilfswerks 1915 für Armenien nebst 2 Durchschlägen gehorsamst zu überreichen.

Im diesseitigen Amtsbezirk ist eine Hilfsaktion grösseren Massstabes jetzt nicht mehr nötig, nachdem die vielen Tausende von Deportierten weiter abtransportiert sind und zwar in der Richtung auf den Euphrat. Ueber ihr Schicksal dürfte das Kaiserliche Konsulat in Aleppo zuverlässige Angaben zu machen in der Lage sein.


Büge
Beantwortung der Fragen des Schweizerischen Hilfswerks 1915 für Armenien.

1) Rund 1900 deportierte Armenier sind zurzeit auf der Baustrecke der Bagdadbahn als Handwerker und Arbeiter, einige von ihnen als Bau- und Transportunternehmer der Baugesellschaft beschäftigt.

2) Die Leute werden von der Bagdadbahn-Baugesellschaft reichlich bezahlt und bedürfen daher keiner Unterstützung.

3-5) Diese Fragen erledigen sich durch die Beantwortung der ersten beiden Fragen.

Bemerkung: Das deutsche Waisenhaus in Harunije hat sich zur Zeit, als grosse Schaaren Deportierter namentlich in Osmanié lagen, dieser angenommen und die hierfür nötigen Mittel von amerikanischer Seite erhalten. Gegenwärtig ist diese Hilfstätigkeit in das Wilajet Aleppo verlegt worden.


Anlage 3


Abschrift

Aleppo, den 1. März 1916

Das Krankenhaus Salem in Marasch hat schon seit Beginn der Armenier Ausweisungen und damit in ganz besonderer Weise in Hospital und Klinik eine ausserordentliche Tätigkeit gehabt - mehr als fast möglich - geleistet an Verpflegung von Muhadjirs, wie Medikamenten-Ausgabe an eben solche in der Klinik.

Besonders nach dem Aufstand in Fyndatjak kamen hunderte von schwer Verwundeten ins Hospital, die dort wochen- ja monatelang behandelt und verpflegt wurden. Besonders Frauen und Kinder lagen mit durchschossenen Gliedern da, die zum Teil amputiert wurden, zum Teil halb geheilt heute noch neben dem Hospital auf unsere Hilfe warten!

Nach diesen aussergewöhnlichen Umständen musste das Krankenhaus - da es der Not wegen das ganze Jahr hindurch offen bleiben musste (da wir sonst doch für 1-2 Monate schliessen) mit all seinen Nahrungsmitteln, wie Medikamenten und Verbandstoffen, ziemlich abwirtschaften, da das monatliche Fixum nicht erhöht werden konnte.

Darum bitte ich, mir einen Zuschuss für diese Notstands-Arbeit des Marascher Hospitals freundlich zukommen zu lassen.

Die Not in Marasch wie Umgegend ist unbeschreiblich, besonders in der Basardjikebene, wo Muhadjirs aus Erzerum angesiedelt wurden, die aber Hungers sterben, wenn wir ihnen nicht auf irgend eine Weise helfen würden.

Es handelt sich darum, für diese Vertriebenen Weizen in grossen Mengen anzukaufen und zwar jetzt, ehe die Preise noch höher getrieben werden!

So könnten wir den Leuten am besten helfen, wenn wir ihnen Brotweizen verschaffen.

Die Christen haben eben ein unerträgliches Los jetzt - für Geld sogar haben die Marasch Islams sich verschworen den Giaurs nichts zu verkaufen - so kommen die Aermsten oft Stunden ja oft halbe Tagereisen weit nach Marasch gepilgert, um Weizen zu erstehen, wird ihnen aber vorenthalten!

Da könnten wir eben mit unseren Weizenvorräten helfen - an Arme abgeben - an Reiche ev. zum Einkaufspreis wieder abgeben resp. verkaufen.


[Schw. Paula Schäfer, Marasch-Hospital; z.Z. Aleppo]

Anlage 4


Aleppo

Zur Beantwortung der Fragen des Schweizerischen Hilfswerks 1915 für Armenier.

1. Frage: Welche Zahl von deportierten Armeniern befindet sich ungefähr in Ihrem Wirkungskreise?

Antwort: Unser Wirkungskreis ist ein doppelter: Schwester Paula Schäfer übernahm die Bahnstrecke Osmanie-Islahije und die Ebene südlich von Marasch, wo sich überall kleinere und grössere Lager versprengter, zurückgebliebener Armenier befinden. In Marasch selbst ist unter den dort zurückgebliebenen ca 7000 Armeniern furchtbare Not. Unter Türken und Armeniern gleich bekannt, kann Schwester Paula an diesen Orten ziemlich ungehindert ihre Arbeit tun.

Dem Einfluss des Herrn Oberst von Kress ist es gelungen, Ende Dezember Djemal Pascha zu veranlassen, der Unterzeichneten ein Waisenhaus mit ca 400 Waisen zu übergeben; dadurch war die Möglichkeit geschaffen, in aller Stille Notstandsarbeit zu betreiben. Dieselbe hatte schon im Sommer begonnen und war, von dem deutschen und amerikanischen Konsul unterstützt, durch die evangelischen und gregorianischen Geistlichen weitergeführt worden. Der sich dabei durch besondere Treue und Hingabe auszeichnende Prediger Eskidjian ist vor wenigen Wochen am Flecktyphus gestorben. Im Ganzen sind hier 1250 Waisen gesammelt, davon sind 400 bei Prediger Haron Schiradjian, 250 in der gregorianischen Kirche und 600 (früher 400) bei der Unterzeichneten. Anfangs beschaffte die Regierung die nötigen Lebensmittel, doch liess der Eifer bald nach; seit etwa 5 Wochen bekommen wir noch Brot und auch das geht zu Ende. Die Lebensmittel sind mehr als vierfach im Preise gestiegen; wir müssen bei der denkbar einfachsten Beköstigung 4 Piaster (80 cts.) pro Kind täglich rechnen, brauchen demnächst allein für die Waisen in Aleppo 50 Pfund türkisch pro Tag. Ausser diesen Kindern halten sich in Aleppo noch ca 4000 deportierte Armenier als Flüchtlinge versteckt. Sie fliehen vor der Polizei von einem Haus, einem Viertel ins andere und fristen ein jammervolles Dasein. Sie werden unter der Hand von den Vorstehern ihrer Kirchen unterstützt.

Südlich und südöstlich von hier sind noch jetzt circa 250000 Armenier zerstreut, von denen die meisten, nicht direkt, aber unter der Hand, mit Liebesgaben zu erreichen sind. In der Gegend von Hama, Damaskus, Ostjordanland, am Euphrat, warten viele auf Hülfe.

2. Frage: Können Sie uns Mitteilungen über ihren Zustand und ihre Bedürfnisse machen?

Antwort: Der Zustand der Deportierten spottet jeder Beschreibung. Von Hausrat, Betten, Kleidern, ist natürlich längst nicht mehr die Rede, alles ist verkauft und verzehrt. Auch früher Reichen fehlt es heute am täglichen Brot. Sie gehen in Scharen hinaus und grasen die Felder ab (essen Gras). Wenn irgendwo ein Kamel oder sonst ein Lasttier am Verenden ist, stürzen sie sich darauf und schlagen sich darum, wie um eine Kostbarkeit. Zu Hunderten sind sie Hungers gestorben, zu Tausenden dem Flecktyphus erlegen. Ueberall irren heimat und elternlose Kinder umher. (dies sind Aussagen von Augenzeugen.)

3. Frage: Könnten Sie den Deportierten Unterstützungen zukommen lassen? In welcher Weise? Mit wessen Hilfe?

Antwort: Ausser der Notstandsarbeit in Aleppo selbst, sind in Killis, Maarra, Hama, Ras el Ain, Damaskus, Der Zor, Kinder gesammelt worden, und es wurden an die erwähnten Ortschaften, wie auch nach Bab, Meskene, Sabkha, bis nach Ana hinunter grössere Summen zur Linderung der Not geschickt. Dies konnte natürlich nur durch Vermittlung treuer eingeborener Christen geschehen und ist Gott sei Dank bis heute gelungen, ohne den Verdacht der Regierung auf uns zu lenken.

4. Frage: In welchem Umfange wären Mittel erforderlich?

Antwort: Ausser 4000 Pfund monatlich für Aleppo wären pro Person 2 Piaster Unterstützung gerechnet, täglich 100000 Frs.2 nötig. Es gilt so viele als möglich vom Hungertode zu retten und womöglich bis nach dem Krieg zu erhalten.

5. Frage: Haben Sie zu diesem Hilfswerk Hilfskräfte nötig ?

Antwort: Hilfskräfte müssen aus dem Volke selbst herangezogen werden. Eine europäische Organisation würde nur dazu dienen, der Sache ein jähes Ende zu bereiten.


[Beatrice Rohner]

1 A 8373.
2 Anmerkung: Die Regierung gewährte an einigen Stellen in gänzlich ungenügendem Umfange Lebensmittel, liess aber längst damit nach.



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