1916-04-29-DE-003
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Quelle: DE/PA-AA/R 20067
Zentraljournal: 1916-A-11324
Erste Internetveröffentlichung: 2017 Juni
Edition: Die deutsche Orient-Politik 1915.06-1916.12
Praesentatsdatum: 05/01/1916 a.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: Nr. 602
Zustand: A
Letzte Änderung: 11/19/2017


Der Gesandte in Den Haag (Kühlmann) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht


Haag, den 29. April 1916

Der bekannte Constantinopler Korrespondent des „Nieuwe Rotterdamsche Courant“, dessen Berichte als die so gut wie einzigen Original-Mitteilungen eingehender Art, die aus dem Balkan nach Holland gelangen an sich schon einen gewissen Seltenheitswert besitzen, sich aber auch durch gediegene Information und im Wesentlichen deutschfreundliche Haltung auszeichnen, veröffentlicht in der Morgennummer des von ihm bedienten Blattes vom 29. April einen aus Sofia am 15. April abgesandten Brief über das Treiben der Ententetruppen in Saloniki und den auf Griechenland ausgeübten Druck - einen Bericht, der durch die letzten Reuter-Meldungen über die verschärfte Spannung zwischen der Entente und Griechenland noch erhöhtes Interesse gewinnt.

Der Verfasser weist zunächst auf die ungeheuren Schwierigkeiten hin, die im Augenblick mit einer Abreise aus Saloniki verbunden seien. Ohne sehr gute persönliche Beziehungen, denen ausserdem durch reichliches Bakschisch nachgeholfen werden müsse, sei es kaum zu ermöglichen, von den drei in Saloniki bestehenden Autoritäten, Griechen, Franzosen und Engländern, die Erlaubnis zum Verlassen der sogenannten militärischen Zone zu erhalten: die ernsteste Klippe bedeute hierbei die von einem Generalstabsmajors des Generals Sarrail geleitete „Administration de la sûreté locale“; die von dieser ausgestellten Pässe hätten mitunter eine bedenkliche Aehnlichkeit mit Uriasbriefen.

Immerhin mitunter gelinge es einmal einer geschickten Persönlichkeit über Florina und Monastir aus dem Hexenkessel herauszukommen, und einer solchen vertrauenswürdigen neutralen Persönlichkeit, die Saloniki in den ersten Tagen dieses Monats habe verlassen können, verdanke denn auch der Korrespondent die nachstehend wiedergegebenen Mitteilungen über die dortigen Zustände.

Zahlreiche als Gunaristen bekannte Griechen seien unter der Beschuldigung, den Deutschen durch heimliche radiographische Anlagen und auf andere Weise Nachrichten gegeben zu haben, in Konzentrationslager auf Mytilene verbracht worden. Nachts dürfe niemand den Balkon oder das flache Dach seines Hauses betreten.

Da die Franzosen und Engländer alle eingeführten Lebensmittel in Beschlag nehmen, leidet die Zivilbevölkerung oft ernstlichen Mangel an Dingen wie Mehl, Brot oder Bohnen.

Englische Truppenlandungen hätten in letzter Zeit nicht mehr stattgefunden, dagegen seien im März noch 2000 Franzosen angekommen. Falls weitere Verstärkung der Expeditionstruppen sich als notwendig erweisen sollte, so hätte man die Wahl zwischen englischen Kontingenten aus Aegypten, wo man anscheinend den Senussis ihren Krieg abgekauft habe, zwischen Portugiesen und Italienern, von denen man zwei Divisionen für den Balkan zu bekommen hoffe. Freilich stünden diese portugiesischen und italienischen Hoffnungen noch ein wenig in der Luft.

Auf das serbische Heer sei ernsthaft nicht mehr zu rechnen. Die Kopfstärke werde von sachkundiger Seite, alles eingerechnet, auf höchstens 50000 Mann geschätzt. Dies seien aber fast alles abstrapazierte Menschen, die zudem auf Korfu unter allerhand Krankheiten wie Cholera und Flecktyphus zu leiden hätten und dezimiert würden. Jedesmal, wenn von einer Verbringung nach anderen Kriegsschauplätzen die Rede sei, gebe es an Meuterei grenzende Auftritte, sodass man bereits einige Tausend unruhige Geister von Korfu nach Biserta verschifft habe. Die brauchbaren Elemente unter den serbischen Offizieren seien meist in das russische Heer übergetreten. In Saloniki biete die serbische Soldateska den unerfreulichsten Anblick.

Eine grosse Schwierigkeit für die Franzosen läge auch in dem Mangel an guten für die Gebirgsartillerie geeigneten Maultieren: General Moschopulos habe die Hergabe griechischer Maultiere rundweg verweigert, und die von auswärts eingeführten Tiere seien zum grössten Teil, wohl infolge des Klimawechsels und des veränderten Futters Krankheiten erlegen.

Nach den Schätzungen unterrichteter Leute und des Griechischen Oberkommandos befänden sich augenblicklich in und bei Saloniki ungefähr 350000 Ententetruppen, darunter höchstens 80000 Engländer. In der Stadt selbst seien nicht mehr als 3000 Franzosen, 500 englische Infanteristen und 600 Highlanders.

Die griechischen Offiziere hielten sich von ihren französischen und englischen Kameraden in auffallender Wiese zurück und schienen überhaupt nicht ohne Sympathie für die Sache der Zentralmächte zu sein.

Ohne jede Rücksicht auf die Zivilbevölkerung habe General Sarrail die Munitionsmagazine und den ganzen Artilleriepark in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs und der vornehmsten Stadtviertel untergebracht und die Fliegerabwehrkanonen dicht bei der Aja Sofia und dem Regierungspräsidium aufgestellt. Wenn dem schon in der griechischen Abgeordnetenkammer geäusserten Ersuchen auf Entfernung der Ententetruppen aus dem eigentlichen Stadtgebiet keine Folge gegeben werde, so dürften sich die 100000 Einwohner auf die Dauer wohl zur Auswanderung gezwungen sehen, zumal die letzten deutschen Luftschiff- und Unterseebootangriffe eine keineswegs unbedeutende Wirkung gehabt hätten.

Ende März seien nämlich die deutschen Unterseeboote durch die Torpedosperre und bei den Wachposten von Karaburnu vorbei unbemerkt bis zur Reede dicht vor der Stadt gekommen, hätten dort einen englischen Torpedobootzerstörer und zwei französische Transportschiffe in den Grund gebohrt und sogar durch einige Schüsse aus einem Bombenwerfer neuester Konstruktion einige Zollschuppen auf dem Kai erheblich beschädigt. Zugleich hätten zwei Zeppeline und vier Albatros-Flugzeuge besonders das Westviertel, die militärischen Anlagen am Zentralbahnhof, den vornehmen Villenbezirk Tschaïr und die Gegend zwischen Vardastrasse und Abri-Pascha-Strasse mit mehr als 100 Bomben belegt. In der Nähe des Bahnhofs seien zwei Munitionsmagazine explodiert, zwei Züge mit Kriegsmaterial und zwei gefüllte Zollschuppen verbrannt, ebenso seien beim Brande einer französischen Nebenkaserne über 200 Soldaten getötet oder verwundet worden. Auch das Hotelviertel, wo die meisten Offiziere wohnten, sei arg mitgenommen. Die Zahl der Opfer betrage, Zivilpersonen eingerechnet, über 500; Panik und Schrecken wurden noch durch die französisch-englischen Abwehrkanonen vermehrt, die den feindlichen Luftschiffen so gut wie gar keinen, den Häusern der Stadt aber recht ansehnlichen Schaden zufügten.

Mit vollem Recht hätten die Abgeordneten von Saloniki erneut in öffentlicher Kammersitzung den Ministerpräsidenten bestürmt, er solle bei den Regierungen der Ententemächte darauf dringen, dass sie wenigstens das eigentliche Stadtgebiet Saloniki’s als wirklich neutrale Zone behandelten und also die Räumung der Stadt selbst durch die französisch-englischen Truppen veranlassten: andernfalls werde die Stadt, die jeden Augenblick einem neuen kombinierten Luft- und Seeangriff entgegensehen müsse, für die Bevölkerung einfach unbewohnbar. Da indessen wenig Aussicht vorhanden sei, dass die Entente diesem Verlangen nachgeben werde, so hätten die noch anwesenden Konsuln neutraler Staaten, nämlich von Holland, Spanien und Amerika, ihren Angehörigen den Rat erteilt die Stadt zu verlassen, und seien bei ihren Regierungen um die Erlaubnis eingekommen, das Gleiche zu tun.


vKühlmann



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