1916-06-29-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14092
Zentraljournal: 1916-A-18552
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 07/14/1916 p.m.
Laufende Botschafts/Konsulats-Nummer: K.No. 65/No. 1822
Zustand: A
Letzte Änderung: 04/03/2012


Der Konsul in Aleppo (Rößler) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Bericht



K.No. 65 / No. 1822
Aleppo, den 29. Juni 1916

Am 20. April hat die hier zur Linderung des armenischen Notstandes tätige Schwester Beatrice Rohner einem einheimischen Vertrauensmann von Aleppo in die Euphratgegenden entsandt, um dort Geld unter den Vertriebenen zu verteilen und sonstige Hilfe zu leisten. Nachdem er am 20. Juni zurückgekehrt ist, hat sie auf Grund seiner Aussagen den in der Anlage gehorsamst in Abschrift beigefügten Bericht verfasst, welcher leider wiederum davon Zeugnis ablegt, dass der langsame und qualvolle Vernichtungsprozess noch immer anhält.

In Aleppo ist die Verschickung seit dem 19. Juni wieder aufgenommen worden. Zunächst unter dem Vorwand, dass alle ”der Gesundheit schädlichen” entfernt werden müssten, dann dass alle ”Verdächtigen” nicht belassen werden könnten. Dabei werden dann Unterschiede zwischen Zugewanderten und Ortsansässigen, welch letztere nach früheren Zusagen von der Verschickung ausgenommen sein sollten, nicht immer gemacht. Auch die Zusage, dass Protestanten und Katholiken verschont sein sollen, wird nicht durchweg gehalten. Vielmehr ist alles der völligen Willkür der Polizeiorgane überlassen.

Gleichen Bericht lasse ich der Kaiserlichen Botschaft in Konstantinopel zugehen.


Rößler

Anlage1


Abschrift

Reisebericht unseres Vertrauensmannes

Am 20. April erreichte ich Meskene und fand dort 3500 vertriebene Armenier und über 100 Waisen. Ein Teil der Leute hat sich hier als Bäcker, Kutscher etc. festgesetzt, obschon Meskene nur Durchgangspunkt ist. Alle anderen betteln, in jedem Zelt sind Kranke und Sterbende. Wer mit Betteln sich nicht zu einem Stück Brot verhelfen kann, ernährt sich von Gras, das er ohne Salz abkocht und verzehrt. Viele hunderte von Kranken liegen ohne Zelt, ohne Decke im Freien unter der glühenden Sonne. Ich sah Verzweifelte, die sich mitten unter die Toten in das Massengrab warfen und die Totengräber anflehten, sie doch mit zu begraben. Die Regierung gibt kein Stück Brot für die Hungrigen, keine Zelte für die Obdachlosen. Als ich in Meskene war, kam gerade ein Transport von Kranken, Frauen und Kindern aus Bab an. Sie waren in einem unbeschreiblichen Zustand, man warf sie von den Wagen herunter wie Klötze; sie schrieen nach Wasser. Man gab jedem ein Stück trockenes Brot in die Hand und liess sie liegen – kein Mensch dachte daran, ihnen Wasser zu bringen, nachdem sie einen Tag unter der glühenden Sonne zugebracht hatten. Wir hatten die ganze Nacht zu tun, ihnen ein klein wenig Erleichterung zu verschaffen. Unter den Waisen aus Bab fand ich einen kleinen 4jährigen Buben, es war früh am Morgen; ich fragte ihn, ob er etwas gegessen hatte, da sah er mich mit grossen Augen an und sagte: ”Ich habe immerzu die Sterne angeguckt und da hat mich der liebe Gott ganz satt gemacht”. Auf meine Frage wo denn Vater und Mutter seien, sagte er einfach: sie sind in der Wüste gestorben. In Meskene konnte ich hundert Kinder in einem Zelt sammeln, ich liess sie scheren und baden und ihre Lumpen waschen, sie bekamen täglich Brot und eine Suppe. Als ich nach 6 Tagen weiter musste, fand ich eine junge verwitwete Frau aus Hadjin, die sich erbot, weiter für die Kinder zu sorgen. Sie war aus guter Familie, hatte höhere Schulen besucht und nahm sich mit grosser Liebe der Kleinen an. Diese gleiche Frau fand ich einige Wochen später in Sepkha wieder, in Lumpen, sie hatte den Verstand verloren, ging auf dem Markt umher und fragt jeden: wo sind meine Kinder? Was habt ihr mit ihnen gemacht? Sie sucht Schädel und Knochen zusammen und zeigt sie den Vorübergehenden. Wenn ihr jemand einen Groschen gibt, kauft sie Brot, kostet ein wenig davon und bringt es dann schnell einem, der noch hungriger ist als sie. Zehn Tage nach meiner Abreise hatte man sie mit den 100 Kindern nach dem Süden geschickt. In Abuhara verbrauchte sie den Rest des Geldes und alles, was sie selbst besaß; die Kinder zerstreuten sich, dem Hunger preisgegeben. In Der-Zor fand ich später 2 von ihnen, die einzig übergebliebenen – sie erzählten, dass die andern alle umgekommen seien. In Meskene sah ich über 600 Vertriebene, die bisher in Muarra gelebt und schon dort seit 9 Monaten ein jämmerliches Dasein gefristet hatten; nun waren sie zum zweiten mal aufgejagt und wieder auf die Landstrasse geschickt worden. Langsam, ermattet, kamen sie mit ihren Habseligkeiten auf dem Rücken an. Als Wegzehrung kochen sie sich Gras ab, drücken das Wasser aus und formen Klösse, die sie an der Sonne trocknen. Am 1. Mai kam ich in Dibsy an, dort fand ich die oben erwähnten 600 Vertriebenen in Verzweiflung. Man hatte sie nicht einmal rasten lassen und erlaubt ihnen nicht Gras zu sammeln, sondern trieb sie unbarmherzig weiter. Auf den Wegen sah ich überall Sterbende, sie waren von Hunger und Durst erschöpft hinter dem Zuge zurückgeblieben und mussten so elend umkommen. Alle paar Minuten kommt einem Leichengeruch entgegen. Die Gendarmen schlagen solche arme zurückbleibende erst noch halb tot indem sie behaupten, sie stellten sich nur, als seien sie müde. In Dibsy sind 3000 Vertriebene, in Abuhara 6000. An beiden Orten ist die Sterblichkeit täglich 1%. Im Hamam fand ich 7000 Deportierte, davon 3000, die hungern und keinen ganzen Fetzen mehr auf dem Leibe haben. Hier gab es kein Gras mehr, da die Heuschrecken alles abgefressen hatten. Ich sah wie die Leute sich die Heuschrecken sammelten, um sie roh oder gekocht zu verzehren. Andere wieder graben sich die Graswurzeln aus. Sie fangen sich Strassenhunde, sie stürzen sich wie die Wilden auf gefallene Tiere, deren Fleisch sie meist roh mit Heisshunger essen. Man zeigte mir, wie man die Toten dicht um die Zelte her nur leicht eingräbt. In Rakka selbst und dem dicht anstossenden Zeltlager hausen ca 15000 Vertriebene. Das Lager liegt am Ufer des Flusses und es ist den dort wohnenden verboten, in die Stadt zu kommen. Reichere Leute erkaufen sich um 30 - 40 Ltq. bei den Beamten die Erlaubnis, eine zeitlang in der Stadt zu wohnen. Ueberall das gleiche Bild des Jammers. In Sepkha gelang es mit genügendem Geldaufwand etwa 1500 Personen, sich dort niederzulassen. Die anderen ca 6000 Personen sind draussen im Lager am Ufer des Euphrat. Hier ist grosse Not. Manche stürzen sich aus Verzweiflung in den Strom. Auf jedem Transport von einem Ort zum andern erliegen wenigstens 5 - 6 Menschen den rohen Misshandlungen der sie begleitenden Gendarmen. Diese suchen von den Armen Geld zu erpressen und rächen sich mit wütenden Hieben, wenn sie es nicht bekommen. In Tibne fand ich 5000 Vertriebene. Ueberall treffen wir Züge von Weggeführten, auch in Kähnen werden ganze Züge auf dem Euphrat transportiert. In jedem arabischen Dorf finden sich einzelne Familien, in jedem Araberhaus Mädchen und junge Frauen. Endlich kam ich in Der Zor an und fand ca 15000 Deportirte. Dort bekamen die Notleidenden täglich 150 Gramm Brot von der Regierung. Kinder und Erwachsene suchen die Kehrichthaufen nach Essbarem durch – was sich irgend kauen lässt, wird verspeist. Vor den Fleischerläden warten Leute gierig auf Abfälle. Von 50 Personen, die von Rakka oder Sepkha in einen Kahn verladen worden, kommen regelmässig nur zwanzig an, oft noch weniger. Bei meiner Ankunft in Der Zor hatte die Regierung 200 Waisen in ein Haus gesammelt, bei meiner Abreise, 6 Wochen später, waren es 800; sie bekommen täglich etwas Suppe und ein Stück Brot. In der gleichen Zeit kamen über 12000 Deportierte in Der Zor an, täglich wurden grosse Züge in der Richtung nach Mossul abtransportiert, trotzdem waren bei meiner Abreise in Der Zor selbst und im angrenzenden Lager über 30000 Armenier. Denen, die die nötigen Mittel zur Verfügung haben, werden Aufenthaltsscheine gegeben, alle andern müssen weiter. Die Nachforschungen ergaben, dass für einen Schein 4 – 50 Pfund türkisch gegeben wurden. Das Abtransportieren wird gerade in Der Zor besonders grausam betrieben. Die Leute werden mit Peitschenhieben auf und fortgejagt und können sich meist nicht das Allernötigste mitnehmen. Auf der Rückreise traf ich überall neue Züge. Die Leute haben das Aussehen von Menschen verloren. Oft tauchen plötzlich aus einem Graben eine ganze Reihe unheimlicher Gestalten auf und strecken einem die Hände entgegen um einen Bissen Brot oder einen Trunk Wasser. Sie haben sich dort ihr Grab gegraben und erwarten den Tod. Leute aus besseren Ständen, die sich nicht entschliessen können um ein Stück Brot zu betteln, legen sich, wenn sie zu entkräftet sind, auf ihr Bett bis der Tod sie erlöst. Niemand sieht nach ihnen. In Sepkha erzählte ein Prediger aus Aintab, das Eltern ihr Kind schlachteten. Bei der Untersuchung durch die Regierung stritten sich die Leute darüber, wer mitgegessen habe. Es kam vor, dass man Sterbenden den Garaus machte, um das Fleisch zu verzehren.

Ein weiterer Bericht aus den Gegenden von Meaden und Ana, südlich von Der Zor, wo viele Tausende von Vertriebenen sind, soll demnächst folgen.

Unser Bote kehrte am 20. Juni nach Aleppo zurück. Am 26. begab er sich von neuem auf die Reise nach dem Süden.


Aleppo den 26. Juni 1916
[Beatrice Rohner]



1Die Anlage entspricht der von der amerikanischen Botschaft in Konstantinopel übersetzten Anlage in Dok. 1916-07-22-DE-002 mit einigen Auslassungen, die dort in eckigen Klammern und kursiv zugefügt worden sind



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