1916-09-10-DE-001
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Quelle: DE/PA-AA/R14093
Zentraljournal: 1916-A-24663
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 09/12/1916 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 04/02/2012


Das Geheime Zivil-Kabinet des Kaisers (Valentini) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg)

Schreiben



Großes Hauptquartier, den 10. September 1916
Urschriftlich mit Anl.

Sr. Excellenz dem Herrn Reichskanzler Dr. v. Bethmann Hollweg

mit dem ganz ergebenen Bemerken übersandt, daß ich die anl. Schriftstücke als eine Angelegenheit der Auswärtigen Politik betreffend Sr. Majestät dem Kaiser und König meinerseits nicht vorgelegt, und dies dem Herrn von Chelins mitgeteilt habe.


Valentini

Anlage 1

Karlsruhe, den 5. August 1916

Euer Exzellenz

habe ich die Ehre im Allerhöchsten Auftrage Ihrer Königlichen Hoheit der Großherzogin Luise die beifolgenden Berichte über die Zustände in Armenien, welche Allerhöchstderselben von Herrn Dr. Lepsius in Potsdam mit einem bezüglichen Schreiben vorgelegt wurden, zur Kenntnisnahme und etwaigem Vortrag bei Seiner Majestät dem Kaiser und König ergebenst zu übersenden. Das Schreiben des Herrn Dr. Lepsius wird von Ihrer Königlichen Hoheit der Großherzogin Luise Seiner Majestät dem Kaiser persönlich übermittelt werden.

Mit ausgezeichneter Hochachtung und alter aufrichtiger Gesinnung

Euer Exzellenz ergebenster


R. v. Chelins

Wirklicher Geheimer Rath und Kammerherr.

[Die folgenden Anlagen werden nachfolgend der besseren Übersicht wegen durchnumeriert.]

Anlage 2 [Eine leicht verkürzte Fassung findet sich als Anlage in Dok. 1915-08-21-DE-001.]


1) Bericht von Fräulein Thora von Wedel und Fräulein Elvers, Krankenschwestern im Dienste des Roten Kreuzes.

Wir beiden Unterzeichneten wurden durch Vermittlung der Deutschen Militärmission nach Erzerum gesandt, wo wir von Oktober 1914 bis Ende April 1915 türkische Soldaten pflegten. Im März d.J. teilte uns der später am Typhus verstorbene Dr. Taschdjian – ein bei Türken und Armeniern gleich angesehener Mann mit, dass ein Massaker gegen sein Volk geplant sei und bat uns, den damaligen Festungskommandanten von Erzerum, General Posselt, davon zu benachrichtigen, was wir sofort taten. Es ist später gesagt worden, dass dieser ausgezeichnete Offizier auch das Verbrechen verhinderte und zum Dank dafür seinen Abschied nehmen musste.

Durch den deutschen Konsul in Erzerum, Herrn von Scheubner-Richter, wurden wir vom deutschen Roten Kreuz in Erzingjan engagiert und arbeiteten dort sieben Wochen.

Anfang Juni teilte uns der Leiter der Rote Kreuz-Mission, Herr Stabsarzt Colley, mit, man würde die armenische Bevölkerung aus der Erzingjangegend nach Mesopotamien bringen, wo sie nicht mehr eine Majorität bilden würden. Es sollten aber durchaus keine Massaker stattfinden. Für die Nahrung und Unterkunft der Ausziehenden würde gesorgt und ihre Sicherheit durch genügende militärische Eskorte verbürgt werden.

Dem Personal des Roten Kreuzes wurde jeglicher Verkehr mit den Ausgewiesenen untersagt, auch waren weitere Spaziergänge und Ritte verboten. Den Armeniern von Erzingjan wurde nun einige Zeit gegeben, um ihre Sachen zu verkaufen, die natürlich zu Spottpreisen verschleudert wurden. Am 7. Juni ging der erste Transport ab; wie man sagt, waren es Wohlhabendere, die sich Wagen leisten konnten. Sie sollen in Charput angekommen sein, wenigstens wurde ein diesbezügliches Telegram von dort gezeigt. An den drei folgenden Tagen fanden wieder Ausweisungen statt. Viele Kinder wurden von moslemischen Familien aufgenommen. Später hiess es, dass auch diese fortgeschickt würden. Auch die Familien der in unserm Hause diensttuenden Armenier mussten fort, ja sogar eine typhuskranke Frau. Ein Protest des sie behandelnden Arztes, Dr. Neukirch, half nicht, oder nur soviel, dass man sie zwei Tage warten liess. Ein bei uns dienender Soldat sagte zu Schwester Eva: „Nun bin ich 46 Jahre alt und bin doch zum Soldaten genommen, trotzdem jedes Jahr Freilassungsgeld für mich gezahlt worden ist. Ich habe nie was wider die Regierung getan und jetzt nimmt man mir meine ganze Familie, meine 70jährige kummergebeugte Mutter, meine Frau und fünf Kinder; ich weiss nicht, wohin sie gehen.“ Er jammerte besonders um sein 11/2jähriges Töchterchen. „So ein schönes Kind hast du nie gesehen, es hatte Augen wie Teller so gross; wenn ich nur könnte, wie eine Schlange wollte [ich] ihm auf dem Bauche nachkriechen.“ Er weinte wie ein Kind. Am anderen Tage kam derselbe Mann ganz ruhig und sagte: „Jetzt weiss ich es, sie sind alle tot!“ Es war nur zu wahr.

Die Karawanen, die am 8., 9. und 10. Juni Erzingjan in scheinbarer Ordnung verliessen (die Kinder vielfach auf Ochsenwagen untergebracht), wurden von Militär begleitet. Trotzdem sollte nur ein Bruchteil das nächste Reiseziel erreichen. Die Strasse nach Kharput verlässt die Ebene von Erzingjan östlich der Stadt, um in das Defilé des Euphrat, der hier die Tauruskette durchbricht, einzutreten. In vielen Windungen folgt die Strasse, zwischen steilen Bergwänden am Strom entlang laufend, dem Euphrat. Die Strecke bis Kemach, die in der Luftlinie nur 16 Kilometer beträgt, verlängert sich durch die Windungen auf 55 Kilometer. In den Engpässen der Strasse wurden die zwischen Militär und herbeigerufenen Kurden eingekeilten wehrlosen Scharen, fast nur Frauen und Kinder, überfallen. Zuerst wurden sie völlig ausgeplündert, dann in der scheusslichsten Weise abgeschlachtet und die Leichen in den Fluss geworfen. Zu Tausenden zählten die Opfer bei diesem Massaker im Kemachtal, nur zwölf Stunden von der Garnisonstadt Erzingjan, dem Sitz eines Mutessarifs (Regierungspräsidenten) und des Kommandos des vierten Armeekorps entfernt. Was hier vom 10. bis 14. Juni geschah, ist mit Wissen und Willen der Behörden geschehen.

Die Wahrheit der Gerüchte wurde uns zuerst von unserer türkischen Köchin bestätigt. Die Frau erzählte unter Tränen, dass die Kurden die Frauen misshandelt und getötet und die Kinder in den Euphrat geworfen hätten. Zwei junge, auf dem amerikanischen College in Kharput ausgebildete Lehrerinnen zogen mit einem Zug von Deportierten durch die Kemachschlucht (Kemach-Boghasi), als sie am 10. Juni unter Kreuzfeuer genommen wurden. Vorn sperrten Kurden den Weg, hinten waren die Miliztruppen eines gewissen Talaat. In ihrem Schrecken warfen sie sich auf den Boden. Als das Schiessen aufgehört hatte, gelang es ihnen und dem Bräutigam der einen, der sich als Frau verkleidet hatte, auf Umwegen nach Erzingjan zurückzukommen. Ein türkischer Klassengefährte des jungen Mannes war ihnen behilflich. Kurden, die ihnen begegneten, gaben sie Geld. Als sie die Stadt erreicht hatten, wollte ein Gensdarm die eine von ihnen, die Braut war, mit in sein Haus nehmen. Als der Bräutigam dagegen Einspruch erhob, wurde er von den Gensdarmen erschossen. Die beiden jungen Mädchen wurden nun durch den türkischen Freund des Bräutigams in vornehme muhammedanische Häuser gebracht, wo man sie freundlich aufnahm, aber auch sofort aufforderte, den Islam anzunehmen. Sie liessen durch den Arzt Kafaffian die deutschen Krankenschwestern flehentlich bitten, sie mit nach Kharput zu nehmen. Die eine schrieb, wenn sie nur Gift hätte, sie würde es nehmen.

Am folgenden Tage, dem 11. Juni, wurden reguläre Truppen von der 86. Kavalleriebrigade unter Führung ihrer Offiziere in die Kemachschlucht geschickt, um, wie es hiess, die Kurden zu bestrafen. Diese türkischen Truppen haben, wie es die deutschen Krankenschwestern aus dem Munde türkischer Soldaten, die selbst dabei waren, gehört haben, alles, was sie noch von den Karawanen am Leben fanden, fast nur Frauen und Kinder, niedergemacht. Die türkischen Soldaten erzählten, wie sich die Frauen auf die Knie gestürzt und um Erbarmen gefleht hätten, und als dann als keine Hilfe mehr war, ihre Kinder selbst in den Fluss geworfen hätten. Ein junger türkischer Soldat sagte: „Es war ein Jammer. Ich konnte nicht schiessen. Ich tat nur so.“ Andere rühmten sich gegenüber dem deutschen Apotheker, Herrn Gehlsen, ihrer Schandtaten. Vier Stunden dauerte die Schlächterei. Man hatte Ochsenwagen mitgebracht, um die Leichen in den Fluss zu schaffen und die Spuren des Geschehenen zu verwischen. Am Abend des 11. Juni kamen die Soldaten mit Raub beladen zurück. Nach der Metzelei wurde mehrere Tage in den Kornfeldern um Erzingjan Menschenjagd gehalten, um die vielen Flüchtlinge abzuschiessen, die sich darin versteckt hatten.

In den nächsten Tagen kamen die ersten Züge von Deportierten aus Baiburt durch Erzingjan.

Am Abend des 18. Juni gingen wir mit unserem Freunde, Herrn Apotheker Gehlsen, vor unserem Hause auf und ab. Da begegnete uns ein Gensdarm, der uns erzählte, dass kaum zehn Minuten oberhalb des Hospitals eine Schar Frauen und Kinder aus der Baiburtgegend übernachtete. Er hatte sie selber treiben helfen und erzählte in erschütternder Weise, wie es den Deportierten auf dem ganzen Wege gegangen sei. Kessé, Kessé sürüjorlar! (Schlachtend, schlachtend treibt man sie!). Jeden Tag, erzählte er, habe er zehn bis zwölf Männer getötet und in die Schluchten geworfen. Wenn die Kinder schrien und nicht mitkommen konnten, habe man ihnen die Schädel eingeschlagen. Den Frauen hätte man alles abgenommen und sie bei jedem neuen Dorf auf neue geschändet. „Ich selber habe drei nackte Frauenleichen begraben lassen“, schloss er seinen Bericht, "Gott möge es mir zurechnen". Am folgenden Morgen in aller Frühe hörten wir, wie die Totgeweihten vorüberzogen. Wir und Herr Gehlsen schlossen uns ihnen an und begleiteten sie eine Stunde weit bis zur Stadt. Der Jammer war unbeschreiblich. Es war eine grosse Schar. Nur zwei bis drei Männer, sonst alles Frauen und Kinder. Von den Frauen waren einige wahnsinnig geworden. Viele schrien: „Rettet uns, wir wollen Moslems werden, oder Deutsche, oder was ihr wollt, nur rettet uns. Jetzt bringen sie uns nach Kemach und schneiden uns die Hälse ab.“ Dabei machten sie eine bezeichnende Gebärde. Andere trabten stumpf und teilnahmslos daher, mit ihren paar Habseligkeiten auf dem Rücken und ihren Kindern an der Hand. Andere flehten uns an, ihre Kinder zu retten. Als wir uns der Stadt näherten, kamen viele Türken geritten und holten sich Kinder oder junge Mädchen. Am Eingang der Stadt, wo auch die deutschen Aerzte ihr Haus haben, machte die Schar einen Augenblick halt, ehe sie den Weg nach Kemach einschlug. Hier war es der reine Sklavenmarkt, nur dass nichts gezahlt wurde. Die Mütter schienen die Kinder gutwillig herzugeben, und Widerstand hätte nichts genützt.

Als wir am 21. Juni Erzingjan verliessen, sahen wir unterwegs noch mehr von dem Schicksal der Deportierten.

Auf dem Wege begegnete uns ein grosser Zug von Ausgewiesenen, die erst kürzlich ihre Dörfer verlassen hatten und noch in guter Verfassung waren. Wir mussten lange halten, um sie vorüber zu lassen, und nie werden wir den Anblick vergessen. Einige wenige Männer, sonst nur Frauen und eine Menge Kinder. Viele davon mit hellem Haar und grossen blauen Augen, die uns so toternst und mit so unbewusster Hoheit anblickten, als wären sie schon Engel des Gerichts. In lautloser Stille zogen sie dahin, die Kleinen und die Grossen, bis auf die uralte Frau, die man nur mit Mühe auf dem Esel halten konnte, alle, alle, um zusammengebunden vom hohen Felsen in die Fluten des Euphrat gestürzt zu werden, in jenem Tal des Fluches Kemach-Boghasi. Ein griechischer Kutscher erzählte uns, wie man das gemacht habe. Das Herz wurde einem zu Eis. Unser Gensdarm berichtete, er habe gerade erst einen solchen Zug von 3000 Frauen und Kindern von Mamachatun (aus dem Terdjan-Gebiet zwischen Erzerum und Erzingjan) nach Kemach gebracht: „Hep gitdi bitdi!“ „Alle weg und hin!“, sagte er. Wir: „Wenn ihr sie töten wollt, warum tut ihr es nicht in ihren Dörfern? Warum sie erst so namenlos elend machen?“ – „Und wo sollten wir mit den Leichen hin, die würden ja stinken!“, war die Antwort.

Die Nacht verbrachten wir in Enderes in einem armenischen Haus. Die Männer waren schon abgeführt, während die Frauen noch unten hausten. Sie sollten am folgenden Tage abgeführt werden, wurde uns gesagt. Sie selbst aber wussten es nicht und konnten sich deshalb noch freuen, als wir den Kindern Süssigkeiten schenkten. An der Wand unseres Zimmers stand auf Türkisch geschrieben:


Es war heller Mondscheinabend. Kurz nach dem Zubettgehen hörte ich Gewehrschüsse mit vorangehendem Kommando. Ich verstand, was es bedeutete und schlief förmlich beruhigt ein, froh, dass diese Opfer wenigstens einen schnellen Tod gefunden hatten und jetzt vor Gott standen. Am Morgen wurde die Zivilbevölkerung aufgerufen, um auf Flüchtlinge Jagd zu machen. In allen Richtungen ritten Bewaffnete. Unter einem schattigen Baum sassen zwei Männer und teilten die Beute, der eine hielt gerade eine blaue Tuchhose in die Höhe. Die Leichen waren alle nackt ausgezogen, eine sahen wir ohne Kopf.

In dem nächsten griechischen Dorfe trafen wir einen wildaussehenden Mann, der uns erzählte, dass er dort postiert sei, um die Reisenden zu überwachen (d.h. die Armenier zu töten). Er habe deren schon viele getötet. Im Spass fügte er hinzu, „einen von ihnen habe er zu ihrem Könige gemacht.“ Unser Kutscher erklärte uns, es seien die 250 armenischen Wegearbeiter (Inscha’at-Taburi, Armenierungssoldaten) gewesen, deren Richtplatz wir unterwegs gesehen hatten. Es lag noch viel geronnenes Blut da, aber die Leichen waren entfernt.

Am Nachmittag kamen wir in ein Tal, wo drei Haufen Wegearbeiter sassen, Moslem, Griechen und Armenier. Vor den Letzteren standen einige Offiziere. Wir fahren weiter einen Hügel hinan. Da zeigt der Kutscher in das Tal hinab, wo etwa hundert Männer von der Landstrasse abmarschierten und neben einer Senkung in einer Reihe aufgestellt wurden. Wir wussten nun, was geschehen würde. An einem anderen Ort wiederholte sich dasselbe Schauspiel. Im Missionshospital in Siwas sahen wir einen Mann, der einem solchen Massaker entronnen war. Er war mit 95 anderen armenischen Wegearbeitern (die zum Militärdienst ausgehoben waren) in eine Reihe gestellt worden. Daraufhin hatten die zehn beigegebenen Gensdarmen soviel sie konnten erschossen. Die übrigen wurden von andern Moslems mit Messern und Steinen getötet. Zehn waren geflohen. Der Mann selber hatte eine furchtbare Wunde im Nacken. Er war ohnmächtig geworden. Nach dem Erwachen gelang es ihm, den zwei Tage weiten Weg nach Siwas zu machen. Möge er ein Bild seines Volkes sein, dass es die ihm jetzt geschlagene tötliche Wunde verwinden könne!

Eine Nacht verbrachten wir im Regierungsgebäude von Zara. Dort sass ein Gensdarm vor der Tür und sang unausgesetzt: „Ermenileri hep kesdiler“. (Die Armenier sind alle abgeschlachtet). Am Telephon im Nebenraum unterhielt man sich über die noch Einzufangenden. Einmal übernachteten wir in einem Hause, wo die Frauen gerade die Nachricht von dem Tode ihrer Männer erhalten hatten und die Nach hindurch wehklagten. Der Gensdarm sagte: „Dies Geschrei belästigt euch! Ich will hingehen und es ihnen verbieten.“ Glücklicherweise konnten wir ihn daran hindern. Wir versuchten es, mit den Aermsten zu reden, aber sie waren ganz ausser sich: „Was ist das für ein König, der so etwas zulässt? Euer Kaiser muss doch helfen können. Warum tut er es nicht?“ usw. Andere waren von Todesangst gequält. „Alles, alles mögen sie uns nehmen bis aufs Hemd, nur das nackte Leben lassen.“ Das mussten wir immer wieder anhören und konnten nichts tun, als auf den hinweisen, der den Tod überwunden hat.

Am 28. Juni kamen wir in Siwas an, wo wir bei den Amerikanern wohnen durften und zwei Tage blieben. Dort waren 1200 Männer im Gefängnis. Später hörten wir, dass die ganze armenische Bevölkerung abgeführt oder getötet wurde. In Cäsarea wollte man uns internieren, doch gelang es den amerikanischen Missionaren, uns frei zu bekommen, dass wir bei ihnen wohnen durften. Durch Vermittlung der Deutschen Botschaft in Konstantinopel bekamen wir die Erlaubnis zur Weiterreise. Ueber den Stand der Dinge dort und in Siwas wird natürlich von amerikanischer Seite berichtet werden, doch wollen wir noch von dem Mädchen in Gemerek erzählen. Als die Männer alle weg waren, bekamen die älteren Frauen Erlaubnis, zu gehen, wohin sie wollten. 30 der hübschesten Mädchen und Frauen aber wurden gesammelt und man sagte ihnen: „Entweder ihr werdet Moslem, oder ihr sterbt.“ „Dann sterben wir“, lautete die kühne Antwort. Daraufhin wurde an den Wali von Siwas telegraphiert, der die Weisung gab, die tapferen jungen Menschenkinder, deren viele in amerikanischen Schulen erzogen worden sind, an Moslems zu verteilen.

Von der russischen Grenze bis westlich von Siwas ist das Land jetzt ziemlich vollständig von Armeniern „gesäubert“ und es ist nur ein trauriger Trost, dass die Türkei durch das Morden ihrer besten Leute sich selber ruiniert hat. Die Türken selber freuen sich auf den Tag, wo eine fremde Macht die Zügel in die Hand nehmen wird und Gerechtigkeit schaffen, und die geschehenen Untaten wurden keineswegs vom türkischen Volke als solches allgemein gebilligt, wohl aber von den sogenannten Gebildeten desselben.


Anlage 3

2. Bericht des deutschen Oberlehrers Dr. Niepage.

Als ich im September 1915 von einem dreimonatigen Ferienaufenthalt aus Beirut nach Aleppo zurückkehrte, hörte ich mit Entsetzen, dass eine neue Periode von Armeniermassakres begonnen habe, die, weit fürchterlicher als die früheren unter Abdul Hamid, zum Zwecke hätten, das intelligente, erwerbsfreudige und fortgeschrittene Volk der Armenier mit Stumpf und Stiel auszurotten und dessen Besitz in türkische Hände übergehen zu lassen.

Für eine so ungeheuerliche Kunde fehlte mir zunächst der Glaube. Man sagte mir, in verschiedenen Quartieren von Aleppo lägen Massen von halbverhungerten Menschen, die von sogenannten “Deportationstransporten“ übrig geblieben seien. Um der Ausrottung des armenischen Volkes ein politisches Mäntelchen umzuhängen, schütze man militärische Gründe vor, die es angeblich nötig machten, die Armenier aus ihren heimischen Wohnsitzen, die sie seit 2500 Jahren innehaben, zu vertreiben und in die arabische Wüste zu deportieren. Auch sage man, dass sich einzelne Armenier zu Spionageakten hätten verleiten lassen.

Nachdem ich mich über die Tatsachen unterrichtet und von allen Seiten Erkundigungen eingezogen hatte, kam ich zu dem Ergebnis, dass es sich bei allen Beschuldigungen gegen die Armenier nur um geringfügige Anlässe handelte, die man zum Vorwand nahm, um zehntausend Unschuldige für einen Schuldigen zu erschlagen, in der rohesten Weise gegen Frauen und Kinder zu wüten und einen Hungerfeldzug gegen die Deportierten zu führen, der die Ausrottung der ganzen Nation zum Ziele hat.

Um das aus meinen Informationen gewonnene Urteil nachzuprüfen, besuchte ich alle Plätze in der Stadt, wo Armenier lagen, die von den Transporten zurückgeblieben waren. In verfallenen Karawansereien (Chans) fand ich Haufen von Toten und Halbverwesten und noch Lebende darunter, die bald ihren letzten Seufzer aushauchen mussten. In anderen Höfen fand ich Haufen von Kranken und Hungernden, nach denen niemand sah.

Rings um die deutsche Realschule, an der ich als Oberlehrer tätig bin, befanden sich vier solcher Chans mit sieben bis achthundert Deportierten, die am Verhungern waren. Wir Lehrer und unsere Schüler mussten täglich daran vorübergehen. Durch die offenen Fenster sahen wir bei jedem Ausgang die bedauernswerten, in Lumpen gehüllten ausgemergelten Gestalten. Unsere Schulkinder mussten sich des Morgens in der engen Strasse an den zweirädrigen Ochsenkarren vorbeidrängen, auf denen täglich acht bis zehn steife Leichen ohne Sarg und Hülle fortgeschafft wurden, während Arme und Beine aus den Karren heraushingen.

Nachdem ich dies einige Tage mitangesehen, hielt ich es für meine Pflicht, folgenden Bericht aufzusetzen:


Zurzeit, als ich diesen Bericht abfasste, wurde der deutsche Konsul in Aleppo durch seinen Kollegen aus Alexandrette, Konsul Hoffmann, vertreten. Konsul Hoffmann erklärte mir, die deutsche Botschaft sei durch wiederholte Berichte aus den Konsulaten in Alexandrette, Aleppo und Mossul eingehend über die Vorgänge im Lande unterrichtet.

Als Ergänzung zu den Akten und als Detailschilderung sei aber ein Bericht über das, was ich mit eignen Augen gesehen, willkommen. Er werde meinen Bericht auf sicherem Wege an die Botschaft in Konstantinopel gelangen lassen. Ich arbeitete nun einen Bericht [Anlage 4 in Dok. 1916-01-03-DE-001.] in der gewünschten Weise aus, indem ich eine genaue Schilderung von den Zuständen in dem Chan gegenüber unserer Schule gab. Herr Konsul Hoffmann wollte einige Photographien, die er selbst [Druckfassung: im Chan] aufgenommen hatte, beifügen. Sie stellten Haufen von Leichen dar, zwischen denen noch lebende Kinder herumkrochen oder ihre Notdurft verrichteten.

In der umgearbeiteten Form wurde der Bericht ausser von mir noch von meinen Kollegen, Herrn Oberlehrer Dr. Graeter und Frau Marie Spiecker, unterzeichnet. Auch der Leiter unserer Anstalt, Herr Direktor Huber, setzte seinen Namen mit darunter und fügte ungefähr folgende Worte bei: "Der Bericht des Kollegen Niepage ist in keiner Weise übertrieben. Wir leben hier seit Wochen in einer Luft, die durch Krankheit und Leichengeruch verpestet ist. Nur die Hoffnung auf baldige Abhilfe macht es uns möglich, weiterzuarbeiten."

Die Abhilfe blieb aus. Da war mein Gedanke, mein Amt als Oberlehrer an der deutschen Realschule niederzulegen mit der Begründung, es sei sinnlos und sittlich nicht zu rechtfertigen, als Vertreter europäischer Kultur einem Volke Unterricht und Erziehung bringen zu sollen, und gleichzeitig tatenlos zusehen zu müssen, wie die Regierung des Landes Volksgenossen der Schüler einem qualvollen Hungertode preisgibt. Meine Umgebung aber, und auch der Leiter der Anstalt, Herr Direktor Huber, brachten mich von meinem Vorhaben ab. Ich wurde darauf hingewiesen, dass es wertvoll sei, dass wir als Augenzeugen der Dinge im Lande blieben. Vielleicht würde unsere Gegenwart dazu mitwirken, dass die Türken mit Rücksicht auf uns Deutsche etwas menschlicher mit ihren unglücklichen Opfern verführen. Ich sehe jetzt, dass ich viel zu lange ein schweigender Zeuge all dieses Unrechts gewesen bin.

Durch unsere Anwesenheit wurde nichts gebessert, und was wir selbst tun konnten, war nur ein Geringes. Frau Spiecker, unsere energische, tapfere Kollegin kaufte Seife, und was noch an lebendigen Frauen und Kindern – Männer waren nicht mehr da - in unserer Umgebung vorhanden war, wurde abgeseift und von Läusen gereinigt. Frau Spiecker stellte Frauen an, die für die, welche noch Nahrung aufnehmen konnten, Suppe kochten. Ich selbst verteilte sechs Wochen lang unter die sterbenden Kinder alle Abend zwei Eimer Tee, Käse und aufgeweichtes Brot. Als sich aber von den Sterbehäusern der Hunger- oder Flecktyphus in der Stadt ausbreitete, erkrankten wir mit fünf unserer Kollegen und mussten unsere Hilfeleistung einstellen. Für die Deportierten, die hierher nach Aleppo kamen, war ja auch alle Hilfe umsonst. Wir konnten den zum Tod Geweihten nur noch kleine Erleichterungen in ihrer Sterbensnot zuteil werden lassen.

Was wir hier in Aleppo mit eigenen Augen sahen, war ja nur die letzte Szene des grossen Trauerspiels der Armenierausrottung, nur ein winziger Bruchteil des Schrecklichen, dass sich gleichzeitig in den übrigen Provinzen der Türkei abspielte. Viel entsetzlichere Dinge berichteten die Ingenieure der Bagdadbahn, wenn sie von der Strecke heimkehrten oder deutsche Reisende, die auf ihrem Wege den Karawanen der Deportierten begegnet waren. Manche dieser Herren mochten tagelang nichts essen, so Entsetzliches hatten sie gesehen.

Der eine berichtete (Herr Greif, Aleppo), wie am Bahndamm bei Tell Abiad und Raz ul Ain geschändete Frauenleichen massenhaft nackt herumlagen. Viele von ihnen hatte man Knüttel in den After hineingetrieben. Ein anderer (Herr Spiecker, Aleppo) hatte gesehen, wie Türken armenische Männer zusammenbanden, mit Vogelflinten eine Reihe von Schüssen in das Menschenbündel hinein abgaben und lachend davongingen, während ihre Opfer in schrecklichen Zuckungen langsam verendeten. Anderen Männern hatte man die Hände auf den Rücken gebunden und liess sie steile Hänge hinabrollen. Unten standen Frauen, die die Herabgerollten mit Messern bearbeiteten, bis sie tot waren. Einem protestantischen Geistlichen, der noch vor zwei Jahren meinen Kollegen Dr. Graeter auf der Durchreise sehr herzlich aufgenommen hatte, wurden die Fingernägel herausgerissen.

Der deutsche Konsul aus Mossul berichtete in meinem Beisein im deutschen Kasino zu Aleppo, er habe auf manchen Stücken des Weges von Mossul nach Aleppo soviel abgehackte Kinderhände liegen sehen, dass man die Strasse damit hätte pflastern können. Auch im deutschen Hospital von Urfa liegt ein kleines Mädchen, dem beide Hände abgehackt wurden. Bei einem Araberdorf vor Aleppo sah Herr Holstein, der deutsche Konsul aus Mossul, flache Gruben mit frischen Armenierleichen. Die Araber des Dorfes sagten aus, sie hätten diese Armenier auf Befehl der Regierung umgebracht. Einer versicherte stolz, er allein habe acht totgeschlagen.

In vielen Alleppiner Häusern, in denen Christen wohnen, fand ich armenische Mädchen versteckt, die durch irgend einen Zufall dem Tod entrannen, sei es, dass sie erschöpft liegen blieben und für tot gehalten wurden, als ihr Zug weitergetrieben wurde, sei es, dass Europäer Gelegenheit hatten, die Unglücklichen für wenige Mark dem türkischen Soldaten abzukaufen, der sie zuletzt geschändet hatte. Alle diese Mädchen sind wie geistesgestört. Viele haben zusehen müssen, wie die Türken ihren Eltern die Hälse durchschnitten. Ich kenne solche armen Geschöpfe, aus denen Monate lang kein Wort, aus denen noch heute kein Lächeln herauszubringen ist. Ein etwa 14jähriges Mädchen wurde von dem Magazinverwalter der Bagdadbahn in Aleppo, Herrn Krause, aufgenommen. Das Kind war von türkischen Soldaten in einer Nacht so oft genotzüchtigt worden, dass es vollständig den Verstand verloren hatte. Ich sah, wie es sich mit heissen Lippen im Wahnsinn auf seinem Kissen herumwälzte, und konnte ihm nur mit Mühe Wasser zu trinken geben.

Ein mir bekannter Deutscher sah in der Nähe von Urfa, wie Hunderte von christlichen Bauersfrauen von den türkischen Soldaten gezwungen wurden, sich nackt auszuziehen. Zum Gaudium der Soldaten mussten sie sich so tagelang bei 40 Grad Hitze durch die Wüste schleppen, bis ihre Haut völlig verbrannt war. Ein anderer hat gesehen, wie ein Türke einer armenischen Frau das Kind aus dem Mutterleib herausriss und gegen die Wand schleuderte.

Weitere Tatsachen und schlimmere als diese wenigen Beispiele, die ich hier gebe, finden sich in den zahlreichen Berichten der deutschen Konsulate von Alexandrette, Aleppo und Mossul, die der Botschaft eingereicht wurden. Die Konsuln sind der Ansicht, dass bis jetzt wahrscheinlich gegen eine Million Armenier durch die Massakre der letzten Monate umgekommen sind. [in der Druckfassung ergänzend: Von dieser Zahl sind wohl die Hälfte auf Frauen und Kinder zu rechnen, die entweder getötet oder dem Hungertode erlegen sind.]

Es ist eine Gewissenspflicht, diese Dinge zur Sprache zu bringen. Obwohl die Regierung mit der Vernichtung des armenischen Volkes nur immer politische [Druckfassung: innerpolitische]Zwecke verfolgt, so trägt doch die Ausführung in vielen Zügen den Charakter einer Christenverfolgung.

All die Zehntausende von Mädchen und Frauen, die in türkische Harems verschleppt wurden und die Massen von Kindern, die von der Regierung gesammelt und unter Türken und Kurden verteilt werden, sind für die christliche Kirche verloren und müssen den Islam annehmen. Das Schimpfwort „Giaur“ bekamen jetzt auch die Deutschen wieder zu hören.

In Adana sah ich eine Schar armenischer Waisenkinder unter Bewachung türkischer Soldaten durch die Strassen ziehen. Ihre Eltern hatte man abgeschlachtet, die Kinder müssen Mohammedaner werden. Es ist überall vorgekommen, dass erwachsene Armenier ihr Leben dadurch retten konnten. dass sie sich bereitfanden, den Islam anzunehmen. Anderswo haben türkische Beamte, nachdem die Christen veranlasst waren, ein Gesuch um Aufnahme in die Gemeinde des Islam aufzusetzen, sehr grossartig, um den Europäern Sand in die Augen zu streuen, geantwortet, die Religion sei kein Spielzeug, und haben es vorgezogen, die Bittsteller töten zu lassen. Männer wie Talaat Bei und Enver Pascha haben mehrfach vornehmen Armeniern, die ihnen Geschenke überbrachten, zugleich mit ihrem Dank die Meinung ausgesprochen, noch lieber wäre es ihnen gewesen, wenn die armenischen Spender ihnen ihre Gaben als Mohammedaner überreicht hätten. Einem Zeitungsreporter sagte einer der Herren: „Gewiss, wir bestrafen jetzt auch viele Unschuldige. [Ergänzung Druckfassung: Wir müssen uns aber auch vor jenen schützen, die einmal schuldig werden können]“ Mit solchen Gründen rechtfertigen türkische Staatsmänner die Massenabschlachtungen wehrloser Frauen und Kinder. Ein deutscher katholischer Geistlicher berichtete, Enver Pascha habe gegenüber dem päpstlichen Gesandten in Konstantinopel, Monsignore Dolci, geäussert: Er werde nicht ruhen, so lange noch ein Armenier am Leben sei.

Das Ziel der Deportation ist die Ausrottung des ganzen armenischen Volkes. Diese Absicht geht daraus hervor, dass die türkische Regierung jede Hilfeleistung von Missionen, barmherzigen Schwestern und Europäern, die im Lande leben, abweist und systematisch zu verhindern sucht. Ein Schweizer Ingenieur sollte vor ein Kriegsgericht gestellt werden, weil er in Anatolien Brot an die verhungernden armenischen Frauen und Kinder eines Deportationstransportes verteilt hatte. Die Regierung hat keinen Anstand genommen, auch armenische Schüler und Lehrer aus den deutschen Schulen in Adana und Aleppo und armenische Kinder aus den deutschen Waisenhäusern zu deportieren, unbekümmert um alle Bemühungen der Konsuln und Anstaltsleiter. Auch das Angebot der amerikanischen Regierung, die Deportierten auf amerikanischen Schiffen und auf amerikanische Kosten nach Amerika zu bringen, wurde abgelehnt.

Wie unsere deutschen Konsuln und zahlreiche im Lande wohnende Ausländer über die Armeniermassakres denken, wird eines Tages durch die Berichte offenbar werden. Ueber das Urteil der deutschen Offiziere in der Türkei kann ich nichts sagen. Ich merke häufig, wie fatales Stillschweigen oder krampfhaftes Bemühen, das Thema zu wechseln, in ihren Kreisen eintraten, wenn ein lebhaft fühlender Deutscher mit selbständigem Urteil auf das fürchterliche Elend der Armenier zu sprechen kam.

Als der General-Feldmarschall von der Goltz nach Bagdad reiste und bei Djerablus den Euphrat passieren musste, war dort ein grosses Lager von halbverhungerten deportierten Armeniern. Kurz vor der Ankunft des Feldmarschalls trieb man die Unglücklichen, so erfuhr ich in Djerablus, samt Kranken und Sterbenden mit Peitschenhieben ein paar Kilometer über die nächsten Hügel. Als von der Goltz durchkam, war von dem widrigen Anblick nichts mehr zu sehen. Als wir bald darauf mit ein paar Kollegen den Platz besuchten, fanden wir noch [Ergänzung Druckfassung: an versteckten Stellen] Männer- und Kinderleichen, Kleiderreste und Schädel und Knochen, von denen Schakale und Raubvögel das Fleisch erst teilweise abgefressen hatten.

Der Verfasser des vorliegenden Berichtes hält es für ausgeschlossen, dass es der deutschen Regierung, wenn sie den ernstlichen Willen hat, dem Verderben noch in letzter Stunde zu steuern, unmöglich sein sollte, die türkische Regierung zur Vernunft zu bringen. Sind die Türken wirklich uns so wohlgesinnt, wie man sagt, darf man sie nicht darauf hinweisen, wie sehr sie uns vor der ganzen [Ergänzung Druckfassung: gesitteten]Welt kompromittieren, wenn wir als ihre Bundesgenossen ruhig mitansehen sollen, dass unsere Glaubensgenossen in der Türkei zu Hunderttausenden abgeschlachtet, ihre Frauen und Töchter geschändet, ihre Kinder im Islam auferzogen werden? Haben die Türken kein Verständnis dafür, dass ihre Barbareien uns zugerechnet werden, und dass man uns Deutsche entweder sträflichen Einverständnisses oder verächtlicher Schwäche zeihen wird, wenn wir gegenüber den furchtbaren Greueln, die dieser Krieg erzeugt hat, die Augen verschliessen, und Tatsachen, die schon in der ganzen Welt bekannt sind, totzuschweigen versuchen? Sind die Türken wirklich so intelligent, wie man sagt, sollte es dann unmöglich sein, sie davon zu überzeugen, dass sie mit der Ausrottung der christlichen Nationen in der Nation die werteschaffenden Faktoren und die Vermittler des europäischen Handels und der allgemeinen Zivilisation vernichten? Sind die Türken so weitsichtig, wie man sagt, werden sie sich der Befürchtung verschliessen können, dass nach Kenntnisnahme dessen, was während des Krieges in der Türkei vorgegangen, die europäischen Kulturstaaten zu dem Schluss kommen müssen, dass die Türkei das Recht, sich selbst zu regieren, verwirkt und den Glauben an ihre Kulturfähigkeit und Toleranz ein für allemal zerstört hat? Ist es nicht das eigene Beste der Türkei, was die deutsche Regierung vertritt, wenn sie sie daran verhindert, sich selbst wirtschaftlich und moralisch zu richten?

Mit diesem Bericht suche ich das Ohr der Regierung durch Vermittlung der berufenen Vertreter des deutschen Volkes zu erreichen. In den Kommissionssitzungen des Reichstages dürfen diese Dinge, so peinlich sie sind, nicht länger verschwiegen werden. Nichts wäre beschämender für uns, als wenn in Konstantinopel mit ungeheurem Geldaufwand ein deutsch-türkisches Freundschaftshaus aufgerichtet würde, während wir nicht imstande sind, unsere Glaubensgenossen vor Barbareien zu schützen, die ihresgleichen in der blutbefleckten Geschichte der Türkei nicht haben. Würde man nicht die gesammelten Mittel besser dazu verwenden, Waisenhäuser für die unschuldigen Opfer türkischer Barbarei zu errichten?

Als nach den Massakres im Jahre 1909 in Adana eine Art Versöhnungsdiner stattfand, an dem ausser hohen türkischen Beamten die Spitzen der armenischen Geistlichkeit teilnahmen, erhob sich, wie der deutsche Konsul Büge, der zugegen war, erzählte, ein armenischer Geistlicher und sagte in seiner Rede: „Es ist wahr, wir Armenier haben in den Tagen dieser Massakre viel verloren, unsere Männer, unsere Frauen, unsere Kinder und unserer Habe. Ihr Türken aber habt mehr verloren. Ihr habt eure Ehre verloren.“

Wollen wir fortfahren, die Christenmassakres für eine interne Angelegenheit der Türkei zu erklären, die für uns nur die Bedeutung hat, uns die Freundschaft der Türkei zu sichern, dann müssen wir auch die Richtlinien unserer deutschen Kulturpolitik ändern. Dann müssen wir aufhören, deutsche Lehrer in die Türkei zu schicken und wir Lehrer müssen darauf verzichten, in der Türkei von deutschen Dichtern und Philosophen, von deutscher Kultur und deutschen Idealen, ganz zu geschweigen von deutschem Christentum, unseren Schülern zu erzählen.

Ich bin vor drei Jahren vom Auswärtigen Amt als Oberlehrer an die deutsche Realschule in Aleppo gesandt worden. Das Königliche Provinzialschulkollegium zu Magdeburg hat mir bei meinem Fortgang zur besonderen Pflicht gemacht, mich des Vertrauens würdig zu zeigen, das durch die Beurlaubung zur Verwaltung der Oberlehrerstelle in Aleppo in mich gesetzt wurde. Ich würde meiner Pflicht als deutscher Beamter und berufener Vertreter deutscher Kultur nicht genügen, wollte ich angesichts der Schändlichkeiten, deren Zeuge ich war, stillschweigen und tatenlos zusehen, wie die mir anvertrauten Schüler in die Wüste und in den Hungertod getrieben werden.

Fragt man nach den Gründen, die die jung-türkische Regierung bewogen haben, diese fürchterlichen Massregeln gegen die Armenier anzuordnen und durchzuführen, so wäre folgendes zu sagen:

Dem Jungtürken schwebt das europäische Ideal eines einheitlichen Nationalstaates vor. Die nicht-türkischen mohammedanischen Rassen, wie Kurden, Perser, Araber usw. hofft er auf dem Verwaltungswege und durch türkischen Schulunterricht unter Berufung auf das gemeinsame mohammedanische Interesse turkifizieren zu können. Die christlichen Nationen, Armenier, Syrer, Griechen, fürchtet er wegen ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Ueberlegenheit und sieht in ihrer Religion ein Hindernis, sie auf friedlichem Wege zu turkifizieren. Sie müssen daher ausgerottet oder zwangsweise islamisiert werden. Die Türken ahnen nicht, dass sie dabei den Ast absägen, auf dem sie selbst mit sitzen. Wer soll die Türkei vorwärtsbringen, wenn nicht Griechen, Armenier und Syrer, die mehr als ein Viertel der Bevölkerung des Reiches ausmachen? Die Türken, die unbegabteste der in der Türkei lebenden Rassen, sind ja selbst nur eine Minorität der Bevölkerung und stehen selbst unter [Druckfassung: hinter]den Arabern kulturell noch immer weit zurück. Wo gibt es türkischen Handel, türkisches Handwerk, türkische Industrie, türkische Kunst, türkische Wissenschaft? Selbst Recht und Religion und die Sprache, soweit sie literaturfähig ist, haben sie den unterworfenen Arabern entlehnt.

Wir Lehrer, die wir jahrelang in deutschen Schulen in der Türkei Griechen, Armenier, Araber, Türken und Juden unterrichtet haben, können kein anderes Urteil aussprechen, als dass von allen unseren Schülern die reinen Türken die unwilligsten und unfähigsten sind. Wo einmal ein Türke etwas leistet, kann man in neun bis zehn Fällen sicher sein, dass es sich um einen Tscherkessen, einen Albanesen oder um einen Türken mit bulgarischem Blute in den Adern handelt. Aus meinen persönlichen Erfahrungen kann ich nur die Prognose stellen, dass die eigentlichen Türken in Handel, Industrie und Wissenschaft nie etwas leisten werden.



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