1916-11-10-DE-002
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Quelle: DE/PA-AA/R14094
Zentraljournal: 1916-A-30444
Erste Internetveröffentlichung: 2003 April
Edition: Genozid 1915/16
Praesentatsdatum: 11/10/1916 p.m.
Zustand: A
Letzte Änderung: 03/23/2012


"Neue Zürcher Zeitung"





Das Schicksal der Armenier

hat viele Berichte und Aufforderungen zur Hilfeleistung hervorgerufen. Anderseits bestrebt sich das jungtürkische Komitee, die Sache in einem für die Türkei günstigen Lichte darzustellen, und eine Reihe deutscher Zeitungen, so die „Frankfurter Zeitung“ vom 7. Oktober, haben diese Darstellung im Auszuge wiedergegeben; sie hat auch in den „Neuen Zürcher Nachrichten“ vom 17. Oktober und in einer Einsendung der „Züricher Post“ vom 27. Oktober Widerhall gefunden. Es drängt uns, der Verschiebung der Tatsachen, in welcher die Schuld an dem grenzenlosen Elend an Stelle der Türken auf die unglücklichen Armenier geladen wird, entgegenzutreten, gestützt auf eine Reihe von Deutschen und Schweizern, die durch ihre Gesinnung und Einsicht, wie durch jahrelangen Aufenthalt in Armenien vor und während der furchtbaren Verfolgungszeit alle Garantie für die Wahrheit geben. Es wird uns dabei einzig das Streben leiten, die Tatsachen getreu darzustellen.

Die Türken können sich in der Tat darauf berufen, daß die Armenier unter ihrer Herrschaft Jahrhunderte lang verhältnismäßig unangefochten gelebt haben. Ihre Religion und kirchliche Organisation wurden nicht angetastet; die letztere bildete vielmehr die Grundlage ihres Volkstums. Aber die türkische Polizei und Rechtspflege gab für den Armenier keinen sichern Schutz gegen Angriffe von Türken, räuberischen Kurden und gewalttätigen Tscherkessen. Der Besitz von Waffen war offiziell verboten. Im Berliner Vertrag von 1878 versprach die Pforte die Einführung von Reformen in Armenien, deren Ausführung die europäischen Mächte überwachen sollten. Eine konstitutionelle Ordnung unter europäischer Garantie, nicht etwa eine Absprengung von der Türkei, war von da an das Ziel aller einsichtigen Armenier. Aber der scheinbare Anfang von Hilfe schlug zum Verderben der Armenier aus. Im großen Ganzen geschah von seiten der Mächte nichts, aus gegenseitiger Eifersucht. Reklamationen in Einzelfällen durch Gesandtschaften und Konsuln erbitterten die Türken immer wieder. Ein erster türkischer Minister äußerte sich: „Der beste Weg, die armenische Frage zu beseitigen, wäre die Beseitigung der Armenier selbst,“ ein Gedanke, der immer mehr das verborgene Losungswort der maßgebenden türkischen Kreise wurde. In diesem Sinn veranstaltete der Sultan Abdul Hamid die furchtbaren Gemetzel von 1894/96. Der Einspruch der Mächte tat für den Augenblick Einhalt. Die armenische Intelligenz organisierte sich, gegenüber der ohnmächtigen revolutionären Verbindung der Hintschakisten, in der konstitutionellen Reformverbindung der Dachnak-zagan, die der jungtürkischen Revolution 1908 bei der Einführung der Verfassung und 1909 bei der Absetzung des Sultans Abdul Hamid großen Vorschub leisteten. Allein noch 1909 wurde, zunächst in den südlichen Gegenden, eine Reaktion ins Werk gesetzt, die wieder Tausenden von Armeniern das Leben kostete. Bei der Unterdrückung und gerichtlichen Ahndung derselben verhielten sich, in Nachwirkung des hergebrachten Mißtrauens, auch die Jungtürken zweideutig und parteiisch gegen die Armenier; und so blieb es seither stets, während die Armenier im Anfang hoffnungsvoll an den Beginn einer neuen Zeit glaubten. Unzählige Missetaten wurden in armenischem Gebiet fort und fort, gerichtlich ungestraft, an einzelnen Armeniern verübt. Zu Anfang 1910 schien endlich das Ziel der Armenier im Sinne des Berliner Vertrags erreicht. Mit Zustimmung der Pforte sollten fortan zwei europäische Generalinspektoren eine Oberaufsicht führen über die Durchführung verfassungsmäßiger Ordnung. Allein in diesem Jahre brach der universelle Krieg aus, die Pforte entledigte sich der sie bisher einschränkenden Kapitulationen mit den europäischen Mächten, und trat im Herbste dieses Jahres selbst in den Krieg ein, für den sie bald durch seine Bezeichnung als „heiliger Krieg“ einen schrankenlosen Fanatismus ihrer mohammedanischen Untertanen zu entflammen strebte, zum bangen Schreck der Christen. Massenhafte Aushebungen zum Kriegsdienst, erdrückende, oft mit grausamer Härte durchgeführte Requisitionen wurden über die armenische Bevölkerung verhängt, die im allgemeinen durchaus gesonnen war, sich loyal der Regierung unterzuordnen. Den armenischen Soldaten hat sogar der Kriegsminister Enver Pascha das Lob mutiger Treue nicht vorenthalten. Aber allerdings kam es bei ihnen, wie übrigens auch bei den Türken selbst, vor, daß manche desertieren. Manche schloßen sich auch dem russischen Heer an, das ja auch sehr viele Armenier, die russische Untertanen waren, umfaßte. Infolge des gegen die türkischen Armenier herrschenden Mißtrauens wurden solche Akte nicht nur an den einzelnen, wenn sie ergriffen wurden, sondern auch an ihren Familien und den ganzen Dörfern blutig geahndet, vielfach unter Mitwirkung der räuberischen Kurden; die in der Armee Verbliebenen wurden entwaffnet und zu niedrigsten Arbeiten, wie Lasttragen und Straßenbau, degradiert. Die armenische Bevölkerung durch das ganze Gebiet hin ertrug ihre Leiden mit großer Geduld, Metzeleien unter den Türken oder Massenanschluß an die Russen, was ihnen in den gegnerischen Berichten schuldgegeben wird, lag ihnen durchaus fern. Erst die Verzweiflung bewirkte vereinzelte aufständische Bewegungen, so insbesondere in Wan, in dessen Umgebung längst schon blutige Verheerung von seiten der Türken waltete. In den nun sich erhebenden Kämpfen kam auch eine Reihe von Türken um. Besonnene unter den Armeniern retteten indessen auch manchen von ihnen das Leben. Der von türkischer Seite erwähnte Antranig, Führer einer Armenierschar im russischen Heere, hatte seinen Leuten strenge verboten, sich an türkischen oder kurdischen Einwohnern zu vergreifen. Aber als jene beim Vorrücken der Russen in die Gegend von Wan kamen und die zerstörten Dörfer, die Leichen der ihrigen fanden, wurden sie von rachgieriger Wut ergriffen, der dann auch zurückgebliebene Türken zum Opfer fielen. Die eine Zeitlang siegreiche, dann von den Russen bei ihrem Vordringen unterstützte, aber bei deren zeitweisem Zurückgehen durch die Türken blutig unterdrückte Erhebung in Wan gab diesen einen Hauptanstoß zu der furchtbaren allgemeinen Vernichtung der armenischen Bevölkerung durch das ganze Gebiet hin, zur Tötung der Männer, zur Wegschleppung der darbenden Frauen, Kinder, wehrlosen Greise in unwirtliche Gegenden unter allen erdenklichen Grausamkeiten. Die loyal gestimmte und zum Widerstand nicht organisierte Bevölkerung ertrug fast überall alles ohne Gegenwehr. Nur an wenigen Orten wurde eine solche tapfer versucht, aber bald niedergeschlagen, so in Sassun, Schabin-Karahissar und später in Urfa; an andern Orten, wie in dem durch frühere Heldenkämpfe bekannten Zeitun, blieb es bei fruchtlosen Versuchen einzelner. Daß man im Wilajet Siwas eine Erhebung von Tausenden im Rücken der türkischen Armee geplant habe, ist eine durch nichts bewiesene, nur aus dem aufgeregten Mißtrauen der Kriegszeit hervorgegangene und durch die ganze Haltung der Bevölkerung widerlegte Behauptung. Im ganzen wurden von den beinahe zwei Millionen von Armeniern in der asiatischen Türkei etwa 1400000 getötet oder durch Deportation dem Verderben überantwortet. Hunderttausende konnten sich in furchtbarer Not und Gefahr nach dem russischen Kaukasien flüchten, von wo ein bedeutender Teil beim Vordringen der russischen Armee wieder in die verödete Heimat zurückgekehrt ist. Auch manche Türken trauerten über die gegen die armenische Bevölkerung verhängten furchtbaren Maßregeln. In den europäischen Ländern und in Nordamerika regte sich weithin tiefe Teilnahme, wenn auch durch die allgemeine Not des Völkerkrieges gehemmt. Möge, unter der kräftigen Beihilfe der übrigen christlichen Völker, ein Rest des reichbegabten tüchtigen Volkes, durch das entsetzliche Geschick geläutert, erhalten bleiben und zu dauerndem Gedeihen kommen in friedlicher Eintracht mit der türkischen Bevölkerung!


H.K.



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